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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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walt whitman

platz . . . fühlte ich mich im Alter von dreiunddreißig Jahren ganz besessen
von einem Wunsch und einer Überzeugung, oder noch genauer gesagt: ein
Verlangen, welches bis dahin sich nur flüchtig bemerkbar gemacht und an der
Grenze des Bewußtseins gehalten hatte, trat jetzt in den Vordergrund, nahm
deutliche Umrisse an und gewann schließlich ganz die Oberhand. Es war ein
Gefühl, ein Trieb, ohne jeden Vorbehalt mein physisches, emotionelles, ethisches
und intellektuelles Leben gleichsam zu "verlautbaren", unter fortgesetzter Auf¬
zeichnung des Augenblicks, der Tatsachen meines unmittelbaren Seins, sowie
meiner Umgebung, des zeitgenössischen Amerika -- und darin das Persönliche
im Zusammenhang mit Ort und Zeit offenherziger und umfassender aufzudecken,
als irgendein früheres Gedicht oder Buch es getan."

Whitman vergöttert die Wirklichkeit. "Der beste Gebrauch des vorstellungs¬
fähigen Geistes unserer Tage", so sagt er, "besteht darin, der Wissenschaft und
den schlichten Tatsachen des einfachen Daseins Leben einzuhauchen, indem nun
auch ihm die Leuchtkraft, Glut und dauernde Herrlichkeit zuteil wird, die allem,
was wirklich ist, und nur dem Wirklichen zukommt." Man wird einwenden:
Spricht so aber nicht ein Naturalist? Ist das nicht das gleiche Evangelium,
das hierzulande auf allen Kanzeln gepredigt wird, wollte sagen gepredigt wurde?
Die Sprache jener Revolutionäre, die heute schon als überwundene Machthaber
hinter dein Ofen sitzen und der Vergangenheit nachträumen? Aber nein, Whitman
ist ein so ganz anderer, er grübelt sich nicht in die Einzelerscheinungen des
Lebens hinein, er ist nicht ein Forscher, ein Beobachter, ein Gelehrter, er ist
vielmehr der Lebendige, den das Leben in den seligsten Rausch versetzt, weil
es Art von seiner Art, Geist von seinein Geist ist. Er nennt sich einmal "den
Liebkosenden des Lebens", und ich wüßte nicht, wie ihn eines Kritikers Wort
schöner und treffender bezeichnen sollte.

Freude am Leben, das ist die Triebfeder seines Schaffens. Einen Ruf
seligsten Entzückens -- so könnte man seine Dichtung definieren. Er preist,
was sein Auge sieht, was sein Ohr hört, was seine Hand betastet; er preist,
was seine,: Geist bewegt und seine Seele rührt. In jeden: Augenblick kniet er
vor diesem Leben, ein selig nehmender, und jede Gabe, die seine Hand faßt,
scheint ihn: an: schwersten zu wiegen, scheint ihm die erhabenste zu sein. Eines
seiner Gedichte betitelt sich "Ein Sang der Freuden". Er singt:

"O, das frohlockendste Jubellied anzustimmen!
Voll Musik, holt Mannheit, Weibsen, Kindheit,
Voll gewöhnlicher Beschäftigungen --
Voll Korn und Bäumen.
O, die Stimmen der Tiere!
Die Geschwindigkeit und das Gleichgewicht der schwimmenden Fische,
Das Fallen der Regentropfen im Liede.
O Sonnenschein und Wellenbewegung in einem Gesang!
O Freude meines Geistes -- nneingekerkcrt strahlt er Blitze!
Es genügt nicht, diesen Erdball und eine Spanne Zeit zu haben,
Ich will Tausende von Erdkugeln und alle Zeiten haben!"

walt whitman

platz . . . fühlte ich mich im Alter von dreiunddreißig Jahren ganz besessen
von einem Wunsch und einer Überzeugung, oder noch genauer gesagt: ein
Verlangen, welches bis dahin sich nur flüchtig bemerkbar gemacht und an der
Grenze des Bewußtseins gehalten hatte, trat jetzt in den Vordergrund, nahm
deutliche Umrisse an und gewann schließlich ganz die Oberhand. Es war ein
Gefühl, ein Trieb, ohne jeden Vorbehalt mein physisches, emotionelles, ethisches
und intellektuelles Leben gleichsam zu „verlautbaren", unter fortgesetzter Auf¬
zeichnung des Augenblicks, der Tatsachen meines unmittelbaren Seins, sowie
meiner Umgebung, des zeitgenössischen Amerika — und darin das Persönliche
im Zusammenhang mit Ort und Zeit offenherziger und umfassender aufzudecken,
als irgendein früheres Gedicht oder Buch es getan."

Whitman vergöttert die Wirklichkeit. „Der beste Gebrauch des vorstellungs¬
fähigen Geistes unserer Tage", so sagt er, „besteht darin, der Wissenschaft und
den schlichten Tatsachen des einfachen Daseins Leben einzuhauchen, indem nun
auch ihm die Leuchtkraft, Glut und dauernde Herrlichkeit zuteil wird, die allem,
was wirklich ist, und nur dem Wirklichen zukommt." Man wird einwenden:
Spricht so aber nicht ein Naturalist? Ist das nicht das gleiche Evangelium,
das hierzulande auf allen Kanzeln gepredigt wird, wollte sagen gepredigt wurde?
Die Sprache jener Revolutionäre, die heute schon als überwundene Machthaber
hinter dein Ofen sitzen und der Vergangenheit nachträumen? Aber nein, Whitman
ist ein so ganz anderer, er grübelt sich nicht in die Einzelerscheinungen des
Lebens hinein, er ist nicht ein Forscher, ein Beobachter, ein Gelehrter, er ist
vielmehr der Lebendige, den das Leben in den seligsten Rausch versetzt, weil
es Art von seiner Art, Geist von seinein Geist ist. Er nennt sich einmal „den
Liebkosenden des Lebens", und ich wüßte nicht, wie ihn eines Kritikers Wort
schöner und treffender bezeichnen sollte.

Freude am Leben, das ist die Triebfeder seines Schaffens. Einen Ruf
seligsten Entzückens — so könnte man seine Dichtung definieren. Er preist,
was sein Auge sieht, was sein Ohr hört, was seine Hand betastet; er preist,
was seine,: Geist bewegt und seine Seele rührt. In jeden: Augenblick kniet er
vor diesem Leben, ein selig nehmender, und jede Gabe, die seine Hand faßt,
scheint ihn: an: schwersten zu wiegen, scheint ihm die erhabenste zu sein. Eines
seiner Gedichte betitelt sich „Ein Sang der Freuden". Er singt:

„O, das frohlockendste Jubellied anzustimmen!
Voll Musik, holt Mannheit, Weibsen, Kindheit,
Voll gewöhnlicher Beschäftigungen —
Voll Korn und Bäumen.
O, die Stimmen der Tiere!
Die Geschwindigkeit und das Gleichgewicht der schwimmenden Fische,
Das Fallen der Regentropfen im Liede.
O Sonnenschein und Wellenbewegung in einem Gesang!
O Freude meines Geistes — nneingekerkcrt strahlt er Blitze!
Es genügt nicht, diesen Erdball und eine Spanne Zeit zu haben,
Ich will Tausende von Erdkugeln und alle Zeiten haben!"

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[0306] walt whitman platz . . . fühlte ich mich im Alter von dreiunddreißig Jahren ganz besessen von einem Wunsch und einer Überzeugung, oder noch genauer gesagt: ein Verlangen, welches bis dahin sich nur flüchtig bemerkbar gemacht und an der Grenze des Bewußtseins gehalten hatte, trat jetzt in den Vordergrund, nahm deutliche Umrisse an und gewann schließlich ganz die Oberhand. Es war ein Gefühl, ein Trieb, ohne jeden Vorbehalt mein physisches, emotionelles, ethisches und intellektuelles Leben gleichsam zu „verlautbaren", unter fortgesetzter Auf¬ zeichnung des Augenblicks, der Tatsachen meines unmittelbaren Seins, sowie meiner Umgebung, des zeitgenössischen Amerika — und darin das Persönliche im Zusammenhang mit Ort und Zeit offenherziger und umfassender aufzudecken, als irgendein früheres Gedicht oder Buch es getan." Whitman vergöttert die Wirklichkeit. „Der beste Gebrauch des vorstellungs¬ fähigen Geistes unserer Tage", so sagt er, „besteht darin, der Wissenschaft und den schlichten Tatsachen des einfachen Daseins Leben einzuhauchen, indem nun auch ihm die Leuchtkraft, Glut und dauernde Herrlichkeit zuteil wird, die allem, was wirklich ist, und nur dem Wirklichen zukommt." Man wird einwenden: Spricht so aber nicht ein Naturalist? Ist das nicht das gleiche Evangelium, das hierzulande auf allen Kanzeln gepredigt wird, wollte sagen gepredigt wurde? Die Sprache jener Revolutionäre, die heute schon als überwundene Machthaber hinter dein Ofen sitzen und der Vergangenheit nachträumen? Aber nein, Whitman ist ein so ganz anderer, er grübelt sich nicht in die Einzelerscheinungen des Lebens hinein, er ist nicht ein Forscher, ein Beobachter, ein Gelehrter, er ist vielmehr der Lebendige, den das Leben in den seligsten Rausch versetzt, weil es Art von seiner Art, Geist von seinein Geist ist. Er nennt sich einmal „den Liebkosenden des Lebens", und ich wüßte nicht, wie ihn eines Kritikers Wort schöner und treffender bezeichnen sollte. Freude am Leben, das ist die Triebfeder seines Schaffens. Einen Ruf seligsten Entzückens — so könnte man seine Dichtung definieren. Er preist, was sein Auge sieht, was sein Ohr hört, was seine Hand betastet; er preist, was seine,: Geist bewegt und seine Seele rührt. In jeden: Augenblick kniet er vor diesem Leben, ein selig nehmender, und jede Gabe, die seine Hand faßt, scheint ihn: an: schwersten zu wiegen, scheint ihm die erhabenste zu sein. Eines seiner Gedichte betitelt sich „Ein Sang der Freuden". Er singt: „O, das frohlockendste Jubellied anzustimmen! Voll Musik, holt Mannheit, Weibsen, Kindheit, Voll gewöhnlicher Beschäftigungen — Voll Korn und Bäumen. O, die Stimmen der Tiere! Die Geschwindigkeit und das Gleichgewicht der schwimmenden Fische, Das Fallen der Regentropfen im Liede. O Sonnenschein und Wellenbewegung in einem Gesang! O Freude meines Geistes — nneingekerkcrt strahlt er Blitze! Es genügt nicht, diesen Erdball und eine Spanne Zeit zu haben, Ich will Tausende von Erdkugeln und alle Zeiten haben!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/306>, abgerufen am 04.07.2024.