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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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walt whitman

den sein Fuß trat, mit dein Himmel, zu dem sein Auge aufschaute, Nut dir,
mit mir, mit allen:, was der Hauch des Lebens zuni Dasein weckte. Und diese
wunderbare Einheit wurde ihn: zur Künderiu seligster Geheimnisse. Wolken
und Winde nannte einst Franz von Assisi seine lieben Brüder, und Whitmcm
fühlt wie er. Diese Brüderschaft verleiht ihm die felsenfeste Überzeugung seiner
Ewigkeit. Ewig ist er, wie alles rings um ihn her. Er lebt und webt in der
Welt der Wunder.

Und als ob er den Geliebten -- jeder Leser gilt ihm wie ein Geliebter --
erschreckt habe, so fragt er: "Ist das so wunderbar? Ist nicht alles, alles in
dieser Welt nichts denn ein großes Wunder? Ja, das Große ist klein, das
Kleine ist groß; eine Winde an meinem Fenster befriedigt mich mehr als die
Metaphysik der Bücher." Das könnte auch Maeterlinck gesagt haben. Und was
ist der Tod? Whitman lächelt. "Das Sterben ist etwas anderes, als je einer
gedacht, und glücklicher."

Ich führte oben die Stelle an, in der Whitman den Trieb, der sein Schaffen
regelt, als den Versuch erklärt, ohne jeden Vorbehalt sein psychisches,
emotionelles, ethisches und intellektuelles Leben zu verlautbaren. Die Darstellung,
die ich gebe, scheint diesen Worten zu widersprechen. Whitman erscheint danach
als Beobachter, Schilderer und Sänger der Umwelt, nicht aber seiner Innen¬
welt. Aber das ist es ja gerade, daß für ihn das eine mit dem anderen
zusammenfällt, es gibt für ihn keine Scheidung. Preise er die Welt, die Natur,
so preist er sich; erzählt er von dem, was seine Sinne wahrnehmen so erzählt
er von sich, von seinem Körper, von seiner Seele. Er sammelt, was seine
Sinne auffassen können, und aus deu Tausenden von Eindrücken, aus den
Tausenden von Erscheinungen und Schicksalen, die sich ihm vor die Seele
stellen, webt er den Gesang von sich selbst. Er bezeichnet selbst seinen Gesang
als "durchtränkt von Materialismus von Anfang bis zu Ende". Aber für ihn
ist Materialismus und Spiritualismus das gleiche; indem er Äußerliches gibt,
gibt er zugleich Innerstes. Jede Entfaltung des Lebens ist ihm ein Dokument
des göttlichen Prinzips.

Auch die Scheidewand zwischen Körperlichem und Seelischem ist gefallen.
Das Körperliche ist in seiner Wertung zu einer Hohe gestiegen, die wir ihm
sonst nicht zumessen. Dem verachteten Sklaven ist die Freiheit verliehen worden.
Whitman verwirft die von dem Christentum mehr oder weniger stets
geforderte Knechtung des Fleisches. Auch jede Bewegung, jede Äußerung des


walt whitman

den sein Fuß trat, mit dein Himmel, zu dem sein Auge aufschaute, Nut dir,
mit mir, mit allen:, was der Hauch des Lebens zuni Dasein weckte. Und diese
wunderbare Einheit wurde ihn: zur Künderiu seligster Geheimnisse. Wolken
und Winde nannte einst Franz von Assisi seine lieben Brüder, und Whitmcm
fühlt wie er. Diese Brüderschaft verleiht ihm die felsenfeste Überzeugung seiner
Ewigkeit. Ewig ist er, wie alles rings um ihn her. Er lebt und webt in der
Welt der Wunder.

Und als ob er den Geliebten — jeder Leser gilt ihm wie ein Geliebter —
erschreckt habe, so fragt er: „Ist das so wunderbar? Ist nicht alles, alles in
dieser Welt nichts denn ein großes Wunder? Ja, das Große ist klein, das
Kleine ist groß; eine Winde an meinem Fenster befriedigt mich mehr als die
Metaphysik der Bücher." Das könnte auch Maeterlinck gesagt haben. Und was
ist der Tod? Whitman lächelt. „Das Sterben ist etwas anderes, als je einer
gedacht, und glücklicher."

Ich führte oben die Stelle an, in der Whitman den Trieb, der sein Schaffen
regelt, als den Versuch erklärt, ohne jeden Vorbehalt sein psychisches,
emotionelles, ethisches und intellektuelles Leben zu verlautbaren. Die Darstellung,
die ich gebe, scheint diesen Worten zu widersprechen. Whitman erscheint danach
als Beobachter, Schilderer und Sänger der Umwelt, nicht aber seiner Innen¬
welt. Aber das ist es ja gerade, daß für ihn das eine mit dem anderen
zusammenfällt, es gibt für ihn keine Scheidung. Preise er die Welt, die Natur,
so preist er sich; erzählt er von dem, was seine Sinne wahrnehmen so erzählt
er von sich, von seinem Körper, von seiner Seele. Er sammelt, was seine
Sinne auffassen können, und aus deu Tausenden von Eindrücken, aus den
Tausenden von Erscheinungen und Schicksalen, die sich ihm vor die Seele
stellen, webt er den Gesang von sich selbst. Er bezeichnet selbst seinen Gesang
als „durchtränkt von Materialismus von Anfang bis zu Ende". Aber für ihn
ist Materialismus und Spiritualismus das gleiche; indem er Äußerliches gibt,
gibt er zugleich Innerstes. Jede Entfaltung des Lebens ist ihm ein Dokument
des göttlichen Prinzips.

Auch die Scheidewand zwischen Körperlichem und Seelischem ist gefallen.
Das Körperliche ist in seiner Wertung zu einer Hohe gestiegen, die wir ihm
sonst nicht zumessen. Dem verachteten Sklaven ist die Freiheit verliehen worden.
Whitman verwirft die von dem Christentum mehr oder weniger stets
geforderte Knechtung des Fleisches. Auch jede Bewegung, jede Äußerung des


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[0308] walt whitman den sein Fuß trat, mit dein Himmel, zu dem sein Auge aufschaute, Nut dir, mit mir, mit allen:, was der Hauch des Lebens zuni Dasein weckte. Und diese wunderbare Einheit wurde ihn: zur Künderiu seligster Geheimnisse. Wolken und Winde nannte einst Franz von Assisi seine lieben Brüder, und Whitmcm fühlt wie er. Diese Brüderschaft verleiht ihm die felsenfeste Überzeugung seiner Ewigkeit. Ewig ist er, wie alles rings um ihn her. Er lebt und webt in der Welt der Wunder. Und als ob er den Geliebten — jeder Leser gilt ihm wie ein Geliebter — erschreckt habe, so fragt er: „Ist das so wunderbar? Ist nicht alles, alles in dieser Welt nichts denn ein großes Wunder? Ja, das Große ist klein, das Kleine ist groß; eine Winde an meinem Fenster befriedigt mich mehr als die Metaphysik der Bücher." Das könnte auch Maeterlinck gesagt haben. Und was ist der Tod? Whitman lächelt. „Das Sterben ist etwas anderes, als je einer gedacht, und glücklicher." Ich führte oben die Stelle an, in der Whitman den Trieb, der sein Schaffen regelt, als den Versuch erklärt, ohne jeden Vorbehalt sein psychisches, emotionelles, ethisches und intellektuelles Leben zu verlautbaren. Die Darstellung, die ich gebe, scheint diesen Worten zu widersprechen. Whitman erscheint danach als Beobachter, Schilderer und Sänger der Umwelt, nicht aber seiner Innen¬ welt. Aber das ist es ja gerade, daß für ihn das eine mit dem anderen zusammenfällt, es gibt für ihn keine Scheidung. Preise er die Welt, die Natur, so preist er sich; erzählt er von dem, was seine Sinne wahrnehmen so erzählt er von sich, von seinem Körper, von seiner Seele. Er sammelt, was seine Sinne auffassen können, und aus deu Tausenden von Eindrücken, aus den Tausenden von Erscheinungen und Schicksalen, die sich ihm vor die Seele stellen, webt er den Gesang von sich selbst. Er bezeichnet selbst seinen Gesang als „durchtränkt von Materialismus von Anfang bis zu Ende". Aber für ihn ist Materialismus und Spiritualismus das gleiche; indem er Äußerliches gibt, gibt er zugleich Innerstes. Jede Entfaltung des Lebens ist ihm ein Dokument des göttlichen Prinzips. Auch die Scheidewand zwischen Körperlichem und Seelischem ist gefallen. Das Körperliche ist in seiner Wertung zu einer Hohe gestiegen, die wir ihm sonst nicht zumessen. Dem verachteten Sklaven ist die Freiheit verliehen worden. Whitman verwirft die von dem Christentum mehr oder weniger stets geforderte Knechtung des Fleisches. Auch jede Bewegung, jede Äußerung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/308>, abgerufen am 22.12.2024.