Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
walt whitman

wie ein veraltetes Erbstück aus Urgroßmutters guter Stube, auf Kind und
Kindeskind überging: längst veraltet, unserem Empfinden längst nicht mehr
angemessen, aber durch ein methusalemitisches Alter geheiligt.

Walt Whitman ist einer der kühnsten und machtvollsten Formzerstörer, die
die Literaturgeschichte je gesehen hat. Er kann in vieler Beziehung auch als
Formverächter gelten. Was gilt ihm schließlich die Form! Er sagt einmal
selbst, daß keiner in seine Poesie eindringen könne, der darauf besteht, sie in
erster Linie als schriftstellerische Leistung zu würdigen. Der krasse Naturalismus
lehrte uns, das Was des Kunstwerkes sei mehr oder weniger gleichgültig, das
Wie entscheide; und diese Anschauung ist, wenn auch die Strömung, die sie
aufstellte, schon des öfteren offiziell und mit allen Ehren zu Grabe getragen
wurde, noch keineswegs ausgestorben. Whitman aber denkt anders; in einem
Gedicht heißt es: "Aus dem Kriege auftauchend habe ich ein Buch geschrieben,
die Worte meines Buches garnichts, der Trieb darin alles."

Die Form ist für Whitman die rechte, die diesem Trieb am bereitwilligsten
entgegenkommt; und das ist die Formlosigkeit. Man kann es verstehen, wenn
die erste Lektüre Withmanscher Verse Grauen und Entsetzen im Leser zurückläßt.
Das ist das Chaos, so muß er denken. Wo bleibt da Ordnung und Besonnenheit,
wo die Ruhe und weise Mäßigung des Ausdrucks, wie sie zu harmonischer
Wirkung zunächst unerläßlich scheint? Wild überstürzen sich die Worte; oft
nehmen sie sich nicht die Zeit, sich zu normalen Sätzen zu bilden. Wie ein
trunkenes Lallen, so tönt's aus den Zeilen; bald sind sie kurz, bald so lang,
daß selbst dem geübtesten Sprecher der Atem versagen müßte. Sind es über¬
haupt Verszeilen? Nur mit großer Mühe kann man so etwas wie ein rhythmisches
Prinzip herausfinden; und wenn man es gefunden, so sieht man gleich ein, daß
es eigentlich doch nicht Prinzip genannt werden kann. Nein, hier herrscht die
absoluteste Ungebundenheit, Regellosigkeit, Zügellosigkeit. Der Strom schlägt
stürmisch über sein Bett hinaus, kein Damm, der ihm Einhalt tut; wie wilde,
toll gewordene Wogen türmen sich Zeilen, Sätze, Satztorsen, Stammelnde Rufe,
Worte. Durch Arno Holz und Genossen hat sich vor einigen Jahren auch in
Deutschland der freie Rhythmus wieder einmal Heimatsrecht erworben. Aber
welcher Unterschied! Derselbe, der das friedsame Wässerlein, das sich langsam
und bedächtig durch die weite Niederung hindurchzieht, von: reißenden Gießbach
scheidet, der unter Brausen und Rollen auf kürzestem Weg die Tiefe zu gewinnen sucht.

Die Worte garnichts, der Trieb alles. Wir haben also kein Recht, länger
bei der Form zu verweilen, wenn es mich auch locken könnte, dennoch aus dieser
Gesetzlosigkeit ein tiefes Gesetz herauszuholen, in diesem Lärm eine wertvolle
Harmonie zu entdecken. Der Trieb alles. Was ist dieser Trieb? Whitman
selbst muß antworten. In dem Nachwort, das er der autographierten Ausgabe
seiner "Leaves of Graß" ("Grashalme") beigab, äußert er sich wie folgt:
"Nach längeren! persönlichem Streben als junger Bursche, im Wettbewerb mit
anderen um den üblichen Lohn, auf dem geschäftlichen oder politischen Tuimnel-


walt whitman

wie ein veraltetes Erbstück aus Urgroßmutters guter Stube, auf Kind und
Kindeskind überging: längst veraltet, unserem Empfinden längst nicht mehr
angemessen, aber durch ein methusalemitisches Alter geheiligt.

Walt Whitman ist einer der kühnsten und machtvollsten Formzerstörer, die
die Literaturgeschichte je gesehen hat. Er kann in vieler Beziehung auch als
Formverächter gelten. Was gilt ihm schließlich die Form! Er sagt einmal
selbst, daß keiner in seine Poesie eindringen könne, der darauf besteht, sie in
erster Linie als schriftstellerische Leistung zu würdigen. Der krasse Naturalismus
lehrte uns, das Was des Kunstwerkes sei mehr oder weniger gleichgültig, das
Wie entscheide; und diese Anschauung ist, wenn auch die Strömung, die sie
aufstellte, schon des öfteren offiziell und mit allen Ehren zu Grabe getragen
wurde, noch keineswegs ausgestorben. Whitman aber denkt anders; in einem
Gedicht heißt es: „Aus dem Kriege auftauchend habe ich ein Buch geschrieben,
die Worte meines Buches garnichts, der Trieb darin alles."

Die Form ist für Whitman die rechte, die diesem Trieb am bereitwilligsten
entgegenkommt; und das ist die Formlosigkeit. Man kann es verstehen, wenn
die erste Lektüre Withmanscher Verse Grauen und Entsetzen im Leser zurückläßt.
Das ist das Chaos, so muß er denken. Wo bleibt da Ordnung und Besonnenheit,
wo die Ruhe und weise Mäßigung des Ausdrucks, wie sie zu harmonischer
Wirkung zunächst unerläßlich scheint? Wild überstürzen sich die Worte; oft
nehmen sie sich nicht die Zeit, sich zu normalen Sätzen zu bilden. Wie ein
trunkenes Lallen, so tönt's aus den Zeilen; bald sind sie kurz, bald so lang,
daß selbst dem geübtesten Sprecher der Atem versagen müßte. Sind es über¬
haupt Verszeilen? Nur mit großer Mühe kann man so etwas wie ein rhythmisches
Prinzip herausfinden; und wenn man es gefunden, so sieht man gleich ein, daß
es eigentlich doch nicht Prinzip genannt werden kann. Nein, hier herrscht die
absoluteste Ungebundenheit, Regellosigkeit, Zügellosigkeit. Der Strom schlägt
stürmisch über sein Bett hinaus, kein Damm, der ihm Einhalt tut; wie wilde,
toll gewordene Wogen türmen sich Zeilen, Sätze, Satztorsen, Stammelnde Rufe,
Worte. Durch Arno Holz und Genossen hat sich vor einigen Jahren auch in
Deutschland der freie Rhythmus wieder einmal Heimatsrecht erworben. Aber
welcher Unterschied! Derselbe, der das friedsame Wässerlein, das sich langsam
und bedächtig durch die weite Niederung hindurchzieht, von: reißenden Gießbach
scheidet, der unter Brausen und Rollen auf kürzestem Weg die Tiefe zu gewinnen sucht.

Die Worte garnichts, der Trieb alles. Wir haben also kein Recht, länger
bei der Form zu verweilen, wenn es mich auch locken könnte, dennoch aus dieser
Gesetzlosigkeit ein tiefes Gesetz herauszuholen, in diesem Lärm eine wertvolle
Harmonie zu entdecken. Der Trieb alles. Was ist dieser Trieb? Whitman
selbst muß antworten. In dem Nachwort, das er der autographierten Ausgabe
seiner „Leaves of Graß" („Grashalme") beigab, äußert er sich wie folgt:
„Nach längeren! persönlichem Streben als junger Bursche, im Wettbewerb mit
anderen um den üblichen Lohn, auf dem geschäftlichen oder politischen Tuimnel-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0305" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315302"/>
          <fw type="header" place="top"> walt whitman</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1216" prev="#ID_1215"> wie ein veraltetes Erbstück aus Urgroßmutters guter Stube, auf Kind und<lb/>
Kindeskind überging: längst veraltet, unserem Empfinden längst nicht mehr<lb/>
angemessen, aber durch ein methusalemitisches Alter geheiligt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1217"> Walt Whitman ist einer der kühnsten und machtvollsten Formzerstörer, die<lb/>
die Literaturgeschichte je gesehen hat. Er kann in vieler Beziehung auch als<lb/>
Formverächter gelten. Was gilt ihm schließlich die Form! Er sagt einmal<lb/>
selbst, daß keiner in seine Poesie eindringen könne, der darauf besteht, sie in<lb/>
erster Linie als schriftstellerische Leistung zu würdigen. Der krasse Naturalismus<lb/>
lehrte uns, das Was des Kunstwerkes sei mehr oder weniger gleichgültig, das<lb/>
Wie entscheide; und diese Anschauung ist, wenn auch die Strömung, die sie<lb/>
aufstellte, schon des öfteren offiziell und mit allen Ehren zu Grabe getragen<lb/>
wurde, noch keineswegs ausgestorben. Whitman aber denkt anders; in einem<lb/>
Gedicht heißt es: &#x201E;Aus dem Kriege auftauchend habe ich ein Buch geschrieben,<lb/>
die Worte meines Buches garnichts, der Trieb darin alles."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1218"> Die Form ist für Whitman die rechte, die diesem Trieb am bereitwilligsten<lb/>
entgegenkommt; und das ist die Formlosigkeit. Man kann es verstehen, wenn<lb/>
die erste Lektüre Withmanscher Verse Grauen und Entsetzen im Leser zurückläßt.<lb/>
Das ist das Chaos, so muß er denken. Wo bleibt da Ordnung und Besonnenheit,<lb/>
wo die Ruhe und weise Mäßigung des Ausdrucks, wie sie zu harmonischer<lb/>
Wirkung zunächst unerläßlich scheint? Wild überstürzen sich die Worte; oft<lb/>
nehmen sie sich nicht die Zeit, sich zu normalen Sätzen zu bilden. Wie ein<lb/>
trunkenes Lallen, so tönt's aus den Zeilen; bald sind sie kurz, bald so lang,<lb/>
daß selbst dem geübtesten Sprecher der Atem versagen müßte. Sind es über¬<lb/>
haupt Verszeilen? Nur mit großer Mühe kann man so etwas wie ein rhythmisches<lb/>
Prinzip herausfinden; und wenn man es gefunden, so sieht man gleich ein, daß<lb/>
es eigentlich doch nicht Prinzip genannt werden kann. Nein, hier herrscht die<lb/>
absoluteste Ungebundenheit, Regellosigkeit, Zügellosigkeit. Der Strom schlägt<lb/>
stürmisch über sein Bett hinaus, kein Damm, der ihm Einhalt tut; wie wilde,<lb/>
toll gewordene Wogen türmen sich Zeilen, Sätze, Satztorsen, Stammelnde Rufe,<lb/>
Worte. Durch Arno Holz und Genossen hat sich vor einigen Jahren auch in<lb/>
Deutschland der freie Rhythmus wieder einmal Heimatsrecht erworben. Aber<lb/>
welcher Unterschied! Derselbe, der das friedsame Wässerlein, das sich langsam<lb/>
und bedächtig durch die weite Niederung hindurchzieht, von: reißenden Gießbach<lb/>
scheidet, der unter Brausen und Rollen auf kürzestem Weg die Tiefe zu gewinnen sucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1219" next="#ID_1220"> Die Worte garnichts, der Trieb alles. Wir haben also kein Recht, länger<lb/>
bei der Form zu verweilen, wenn es mich auch locken könnte, dennoch aus dieser<lb/>
Gesetzlosigkeit ein tiefes Gesetz herauszuholen, in diesem Lärm eine wertvolle<lb/>
Harmonie zu entdecken. Der Trieb alles. Was ist dieser Trieb? Whitman<lb/>
selbst muß antworten. In dem Nachwort, das er der autographierten Ausgabe<lb/>
seiner &#x201E;Leaves of Graß" (&#x201E;Grashalme") beigab, äußert er sich wie folgt:<lb/>
&#x201E;Nach längeren! persönlichem Streben als junger Bursche, im Wettbewerb mit<lb/>
anderen um den üblichen Lohn, auf dem geschäftlichen oder politischen Tuimnel-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0305] walt whitman wie ein veraltetes Erbstück aus Urgroßmutters guter Stube, auf Kind und Kindeskind überging: längst veraltet, unserem Empfinden längst nicht mehr angemessen, aber durch ein methusalemitisches Alter geheiligt. Walt Whitman ist einer der kühnsten und machtvollsten Formzerstörer, die die Literaturgeschichte je gesehen hat. Er kann in vieler Beziehung auch als Formverächter gelten. Was gilt ihm schließlich die Form! Er sagt einmal selbst, daß keiner in seine Poesie eindringen könne, der darauf besteht, sie in erster Linie als schriftstellerische Leistung zu würdigen. Der krasse Naturalismus lehrte uns, das Was des Kunstwerkes sei mehr oder weniger gleichgültig, das Wie entscheide; und diese Anschauung ist, wenn auch die Strömung, die sie aufstellte, schon des öfteren offiziell und mit allen Ehren zu Grabe getragen wurde, noch keineswegs ausgestorben. Whitman aber denkt anders; in einem Gedicht heißt es: „Aus dem Kriege auftauchend habe ich ein Buch geschrieben, die Worte meines Buches garnichts, der Trieb darin alles." Die Form ist für Whitman die rechte, die diesem Trieb am bereitwilligsten entgegenkommt; und das ist die Formlosigkeit. Man kann es verstehen, wenn die erste Lektüre Withmanscher Verse Grauen und Entsetzen im Leser zurückläßt. Das ist das Chaos, so muß er denken. Wo bleibt da Ordnung und Besonnenheit, wo die Ruhe und weise Mäßigung des Ausdrucks, wie sie zu harmonischer Wirkung zunächst unerläßlich scheint? Wild überstürzen sich die Worte; oft nehmen sie sich nicht die Zeit, sich zu normalen Sätzen zu bilden. Wie ein trunkenes Lallen, so tönt's aus den Zeilen; bald sind sie kurz, bald so lang, daß selbst dem geübtesten Sprecher der Atem versagen müßte. Sind es über¬ haupt Verszeilen? Nur mit großer Mühe kann man so etwas wie ein rhythmisches Prinzip herausfinden; und wenn man es gefunden, so sieht man gleich ein, daß es eigentlich doch nicht Prinzip genannt werden kann. Nein, hier herrscht die absoluteste Ungebundenheit, Regellosigkeit, Zügellosigkeit. Der Strom schlägt stürmisch über sein Bett hinaus, kein Damm, der ihm Einhalt tut; wie wilde, toll gewordene Wogen türmen sich Zeilen, Sätze, Satztorsen, Stammelnde Rufe, Worte. Durch Arno Holz und Genossen hat sich vor einigen Jahren auch in Deutschland der freie Rhythmus wieder einmal Heimatsrecht erworben. Aber welcher Unterschied! Derselbe, der das friedsame Wässerlein, das sich langsam und bedächtig durch die weite Niederung hindurchzieht, von: reißenden Gießbach scheidet, der unter Brausen und Rollen auf kürzestem Weg die Tiefe zu gewinnen sucht. Die Worte garnichts, der Trieb alles. Wir haben also kein Recht, länger bei der Form zu verweilen, wenn es mich auch locken könnte, dennoch aus dieser Gesetzlosigkeit ein tiefes Gesetz herauszuholen, in diesem Lärm eine wertvolle Harmonie zu entdecken. Der Trieb alles. Was ist dieser Trieb? Whitman selbst muß antworten. In dem Nachwort, das er der autographierten Ausgabe seiner „Leaves of Graß" („Grashalme") beigab, äußert er sich wie folgt: „Nach längeren! persönlichem Streben als junger Bursche, im Wettbewerb mit anderen um den üblichen Lohn, auf dem geschäftlichen oder politischen Tuimnel-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/305
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/305>, abgerufen am 24.07.2024.