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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Das Lerliner Schauspielhaus

mit höflichen Verbeugungen bald wieder an die Tür begleitete. Beim "Ein¬
gebildeten Kranken" Moliöres erwies sich das von Lindau zurechtgefüdelte Vor¬
spiel nach Bruchstücken aus Meister Coquelins älteren Lustspielen und musikalische"
Einlagen aus seiner Zeit zwar als zu umständlich. Aber die Einfügung der
prachtvoll grotesken Doktorpromotion zum Schluß wirkte als eine wirkliche Be¬
reicherung der Szene. Sie wird auch in der "Comödie frau?aise" in Paris
alljährlich nur ein einziges Mal am Todestage Moliöres, dem 17. Februar,
aufgeführt, wobei die Mitglieder seines Hauses mit langsamen Schritten bis an
die Rampe treten, seine dort aufgestellte Büste mit Lorbeer bekränzen und nach
den: Maß ihrer Beliebtheit mit sich verstärkenden: oder verringerndem Beifall begrüßt
werden. Bei dem dritte" Juro I, das der närrische Argau spricht, indem er die Vor¬
schriften der ärztlichen Wissenschaft feierlich anerkennt, auch wenn sie schädlich
sind, stehen die Darsteller in Paris unerwartet auf, machen mit ernster Miene
eine Pause von vielleicht einer halben Minute und fahre" in der lustigen
Komödie dann weiter fort. Damit erinnern sie all den Augenblick, als Moliöre
bei der Durchführung dieser Rolle einen Blutsturz bekam und ohnmächtig nach
seiner Wohnung in der Rue de Richelieu getragen wurde, wo er bald darauf
starb. Wir sind also gegenwärtig mit dieser erheiternden Doktorpromotion, die
sich im Schauspielhause fortdauernd wiederholt, französischer als die Franzoseu.
Auch die zwölf mächtigen Klistierspritzen, die wie alte Ritterschwerter in der Luft
gekreuzt werden, mir dem alten quacksalberueu Hypochonder eine Gasse zu bahnen,
kennt man in Paris nicht. Ihre durchschlagende Wirkung bewährt sich aber bestens,

Zum ersten Male ist auch Josef Kainz als Gast im Schauspielhause
begeistert aufgenommen worden. Sogar Sudermann ist bei der Aufführung
heikler "Strandkinder" vor dein Vorhang der Bühne erschienen, für die seine
Stücke bisher nicht vorhanden waren . . . Nun warten die Vertrauens¬
vollen, ob man weiteren Anschluß an literarische Schöpfungen finden kann, die
freilich kümmerlich genug blühen. Man wird alle Hände voll zu tun haben
und überall Türen ins Freie einschlagen müssen, um Allforderungen mannig¬
facher Art zu genügen und wieder in die Höhe zu kommen.

Vor allem ist der Bestand der Künstlerschar unzureichend und einer rück¬
sichtslosen Auffrischung dringend bedürftig. Wie tiefe Wunden schlägt der
Hingang eines wahrhaft großen Schauspielers, dessen Entwickelung uns zu
immer neuen Gipfeln des Schaffells führte und der sein Allerbestes vermutlich
mit sich ins Grab genommen halt Das haben wir bei Mitterwurzers schnellem
Tod erfahren, der den: Wiener Burgtheater eine neue Seele eindlich und nach
dem wir uns uoch jetzt trällernd umsehen, wenn eine starke moderne Rolle
aus ihren: papiernen Dasein erlöst und in Klang und Anschaung verwandelt
werden soll. Ebenso haben wir Matkowsky niemals höher geschätzt als
jetzt, da wir ihn für immer entbehren müssen. Nicht allein, daß seine
Begeisterung für die Kunst und sein glühendes Temperament ganz neue schau¬
spielerische Werte schufen und Rollen wie Wallenstein, Götz und Tell in einem


Das Lerliner Schauspielhaus

mit höflichen Verbeugungen bald wieder an die Tür begleitete. Beim „Ein¬
gebildeten Kranken" Moliöres erwies sich das von Lindau zurechtgefüdelte Vor¬
spiel nach Bruchstücken aus Meister Coquelins älteren Lustspielen und musikalische»
Einlagen aus seiner Zeit zwar als zu umständlich. Aber die Einfügung der
prachtvoll grotesken Doktorpromotion zum Schluß wirkte als eine wirkliche Be¬
reicherung der Szene. Sie wird auch in der „Comödie frau?aise" in Paris
alljährlich nur ein einziges Mal am Todestage Moliöres, dem 17. Februar,
aufgeführt, wobei die Mitglieder seines Hauses mit langsamen Schritten bis an
die Rampe treten, seine dort aufgestellte Büste mit Lorbeer bekränzen und nach
den: Maß ihrer Beliebtheit mit sich verstärkenden: oder verringerndem Beifall begrüßt
werden. Bei dem dritte» Juro I, das der närrische Argau spricht, indem er die Vor¬
schriften der ärztlichen Wissenschaft feierlich anerkennt, auch wenn sie schädlich
sind, stehen die Darsteller in Paris unerwartet auf, machen mit ernster Miene
eine Pause von vielleicht einer halben Minute und fahre» in der lustigen
Komödie dann weiter fort. Damit erinnern sie all den Augenblick, als Moliöre
bei der Durchführung dieser Rolle einen Blutsturz bekam und ohnmächtig nach
seiner Wohnung in der Rue de Richelieu getragen wurde, wo er bald darauf
starb. Wir sind also gegenwärtig mit dieser erheiternden Doktorpromotion, die
sich im Schauspielhause fortdauernd wiederholt, französischer als die Franzoseu.
Auch die zwölf mächtigen Klistierspritzen, die wie alte Ritterschwerter in der Luft
gekreuzt werden, mir dem alten quacksalberueu Hypochonder eine Gasse zu bahnen,
kennt man in Paris nicht. Ihre durchschlagende Wirkung bewährt sich aber bestens,

Zum ersten Male ist auch Josef Kainz als Gast im Schauspielhause
begeistert aufgenommen worden. Sogar Sudermann ist bei der Aufführung
heikler „Strandkinder" vor dein Vorhang der Bühne erschienen, für die seine
Stücke bisher nicht vorhanden waren . . . Nun warten die Vertrauens¬
vollen, ob man weiteren Anschluß an literarische Schöpfungen finden kann, die
freilich kümmerlich genug blühen. Man wird alle Hände voll zu tun haben
und überall Türen ins Freie einschlagen müssen, um Allforderungen mannig¬
facher Art zu genügen und wieder in die Höhe zu kommen.

Vor allem ist der Bestand der Künstlerschar unzureichend und einer rück¬
sichtslosen Auffrischung dringend bedürftig. Wie tiefe Wunden schlägt der
Hingang eines wahrhaft großen Schauspielers, dessen Entwickelung uns zu
immer neuen Gipfeln des Schaffells führte und der sein Allerbestes vermutlich
mit sich ins Grab genommen halt Das haben wir bei Mitterwurzers schnellem
Tod erfahren, der den: Wiener Burgtheater eine neue Seele eindlich und nach
dem wir uns uoch jetzt trällernd umsehen, wenn eine starke moderne Rolle
aus ihren: papiernen Dasein erlöst und in Klang und Anschaung verwandelt
werden soll. Ebenso haben wir Matkowsky niemals höher geschätzt als
jetzt, da wir ihn für immer entbehren müssen. Nicht allein, daß seine
Begeisterung für die Kunst und sein glühendes Temperament ganz neue schau¬
spielerische Werte schufen und Rollen wie Wallenstein, Götz und Tell in einem


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[0116] Das Lerliner Schauspielhaus mit höflichen Verbeugungen bald wieder an die Tür begleitete. Beim „Ein¬ gebildeten Kranken" Moliöres erwies sich das von Lindau zurechtgefüdelte Vor¬ spiel nach Bruchstücken aus Meister Coquelins älteren Lustspielen und musikalische» Einlagen aus seiner Zeit zwar als zu umständlich. Aber die Einfügung der prachtvoll grotesken Doktorpromotion zum Schluß wirkte als eine wirkliche Be¬ reicherung der Szene. Sie wird auch in der „Comödie frau?aise" in Paris alljährlich nur ein einziges Mal am Todestage Moliöres, dem 17. Februar, aufgeführt, wobei die Mitglieder seines Hauses mit langsamen Schritten bis an die Rampe treten, seine dort aufgestellte Büste mit Lorbeer bekränzen und nach den: Maß ihrer Beliebtheit mit sich verstärkenden: oder verringerndem Beifall begrüßt werden. Bei dem dritte» Juro I, das der närrische Argau spricht, indem er die Vor¬ schriften der ärztlichen Wissenschaft feierlich anerkennt, auch wenn sie schädlich sind, stehen die Darsteller in Paris unerwartet auf, machen mit ernster Miene eine Pause von vielleicht einer halben Minute und fahre» in der lustigen Komödie dann weiter fort. Damit erinnern sie all den Augenblick, als Moliöre bei der Durchführung dieser Rolle einen Blutsturz bekam und ohnmächtig nach seiner Wohnung in der Rue de Richelieu getragen wurde, wo er bald darauf starb. Wir sind also gegenwärtig mit dieser erheiternden Doktorpromotion, die sich im Schauspielhause fortdauernd wiederholt, französischer als die Franzoseu. Auch die zwölf mächtigen Klistierspritzen, die wie alte Ritterschwerter in der Luft gekreuzt werden, mir dem alten quacksalberueu Hypochonder eine Gasse zu bahnen, kennt man in Paris nicht. Ihre durchschlagende Wirkung bewährt sich aber bestens, Zum ersten Male ist auch Josef Kainz als Gast im Schauspielhause begeistert aufgenommen worden. Sogar Sudermann ist bei der Aufführung heikler „Strandkinder" vor dein Vorhang der Bühne erschienen, für die seine Stücke bisher nicht vorhanden waren . . . Nun warten die Vertrauens¬ vollen, ob man weiteren Anschluß an literarische Schöpfungen finden kann, die freilich kümmerlich genug blühen. Man wird alle Hände voll zu tun haben und überall Türen ins Freie einschlagen müssen, um Allforderungen mannig¬ facher Art zu genügen und wieder in die Höhe zu kommen. Vor allem ist der Bestand der Künstlerschar unzureichend und einer rück¬ sichtslosen Auffrischung dringend bedürftig. Wie tiefe Wunden schlägt der Hingang eines wahrhaft großen Schauspielers, dessen Entwickelung uns zu immer neuen Gipfeln des Schaffells führte und der sein Allerbestes vermutlich mit sich ins Grab genommen halt Das haben wir bei Mitterwurzers schnellem Tod erfahren, der den: Wiener Burgtheater eine neue Seele eindlich und nach dem wir uns uoch jetzt trällernd umsehen, wenn eine starke moderne Rolle aus ihren: papiernen Dasein erlöst und in Klang und Anschaung verwandelt werden soll. Ebenso haben wir Matkowsky niemals höher geschätzt als jetzt, da wir ihn für immer entbehren müssen. Nicht allein, daß seine Begeisterung für die Kunst und sein glühendes Temperament ganz neue schau¬ spielerische Werte schufen und Rollen wie Wallenstein, Götz und Tell in einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/116>, abgerufen am 22.12.2024.