Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
?as Berliner Schauspielhaus

Licht zeigten, dessen Strahlen ihnen früher fehlten! Er riß auch mit seiner
Persönlichkeit, selbst wenn er gelegentlich zu hoch ausholte und zu heftig ein¬
Hieb, seine ganze Umgebung aus ihrer Alltagsstimmung und hergebrachten
Gewohnheit, reizte die einen zum Wettbewerb um den Preis der Vollendung,
ertrotzte von den andern im Mitspielen ungeahnte Wirkungen und feuerte
überall siegreich an. Hat der Deutsche Kaiser die Petersburger Tragödin
Frau Ssawina, die im Frühjahr 1899 bei uns gastierte und gewiß kein
Genie ist, wirklich so überschwänglich gepriesen, wie es neulich in den Zeitungen
stand. und dabei seine eigenen Künstler mit den Worten: "Il8 Kuriere" in
die Lehre genommen? Dabei kann er unmöglich an die Löwenstimme Mat-
kowskys gedacht haben, die doch nur die natürliche Resonanz einer gewaltigen
Seele war.

Unsere Hofbühne verfügt über zwei allerdings alt gewordene, aber immer
noch Leben sprühende Gerdes. Arthur Vollmer und Anna Schramm, denen
auf ihrem eigentlichen Gebiete auch jetzt nichts an die Seite zu stellen ist.
Über die anderen senkt sich nach dem Tode des Großmeisters, der ein wahr¬
haft königlicher Schauspieler war. namentlich wenn es sich um die Tragödie
handelte, nur zu deutlich bemerkbar der Geist des schlaffen und Eintöniger
herab. Die Sprungfedern, die früher wenigstens vorübergehend scharf an¬
gezogen wurden, haben ihre Kraft und Elastizität verloren. Man fühlt sich
schon wieder in die Zeit der hohlen Paradedeklamation versetzt, die vor einem
Vierteljahrhundert Schiller von seinem Ruhmessockel zu vertreiben drohte. Die
mechanische Gymnastik der Kehle erdrückt die seelische Erregung, das Starre
und Unbewegliche im Spiel hebt die tiefer liegende Charakteristik auf. Kostüme
und Dekorationen ausgesuchter Art können diese innere Leere nicht verdecken.
Man sieht, wie einzelne kräftige, aber in die Irre geratene Talente sich nach einem
geeigneten Führer umsehen, weil sie gern vergessen und zulernen möchten.
Das gilt vor allem von Rosa Poppe, der man unter dem Grafen Hochberg
eine ungerechte und vor allem ihr selbst gefährliche Alleinherrschaft einräumte
und ihr dann unter Hülsen die Flügel mit Blei beschwerte, so daß sie ver¬
ärgert und verängstigt eine Weile gar nicht wußte, was sie konnte, und erst
neuerdings ihre falsche Nervosität zu bezwingen lernte. Waldemar Stäge-
mann. der sich wirksam durchsetzte und als Hamlet überragte, ist auf einmal
wie ein übermüdeter Wanderer stehen geblieben und als Menschendarsteller
der schönen Phrase verfallen, aus der ihn vorläufig niemand befreien kann.
Vielleicht nähert sich seine Entwicklung als Liebhaber und Held schon ihrem
Ende und er findet infolge seiner Verstandesschärfe als Charakterspteler eine
desto erfreulichere Zukunft.

Was man an jugendlichen weiblichen Kräften bisher neu geivonnen hat.
ist nicht wett her und findet sich auch auf bessern Provinzbühnen. Warum
läßt man aber Agnes Sorna am Schillerplatz so gänzlich außer Betracht?
Man könnte mit ihrer noch heute durchdringenden, ja einzigen Begabung, die


Grenzboten I 1910 14
?as Berliner Schauspielhaus

Licht zeigten, dessen Strahlen ihnen früher fehlten! Er riß auch mit seiner
Persönlichkeit, selbst wenn er gelegentlich zu hoch ausholte und zu heftig ein¬
Hieb, seine ganze Umgebung aus ihrer Alltagsstimmung und hergebrachten
Gewohnheit, reizte die einen zum Wettbewerb um den Preis der Vollendung,
ertrotzte von den andern im Mitspielen ungeahnte Wirkungen und feuerte
überall siegreich an. Hat der Deutsche Kaiser die Petersburger Tragödin
Frau Ssawina, die im Frühjahr 1899 bei uns gastierte und gewiß kein
Genie ist, wirklich so überschwänglich gepriesen, wie es neulich in den Zeitungen
stand. und dabei seine eigenen Künstler mit den Worten: „Il8 Kuriere" in
die Lehre genommen? Dabei kann er unmöglich an die Löwenstimme Mat-
kowskys gedacht haben, die doch nur die natürliche Resonanz einer gewaltigen
Seele war.

Unsere Hofbühne verfügt über zwei allerdings alt gewordene, aber immer
noch Leben sprühende Gerdes. Arthur Vollmer und Anna Schramm, denen
auf ihrem eigentlichen Gebiete auch jetzt nichts an die Seite zu stellen ist.
Über die anderen senkt sich nach dem Tode des Großmeisters, der ein wahr¬
haft königlicher Schauspieler war. namentlich wenn es sich um die Tragödie
handelte, nur zu deutlich bemerkbar der Geist des schlaffen und Eintöniger
herab. Die Sprungfedern, die früher wenigstens vorübergehend scharf an¬
gezogen wurden, haben ihre Kraft und Elastizität verloren. Man fühlt sich
schon wieder in die Zeit der hohlen Paradedeklamation versetzt, die vor einem
Vierteljahrhundert Schiller von seinem Ruhmessockel zu vertreiben drohte. Die
mechanische Gymnastik der Kehle erdrückt die seelische Erregung, das Starre
und Unbewegliche im Spiel hebt die tiefer liegende Charakteristik auf. Kostüme
und Dekorationen ausgesuchter Art können diese innere Leere nicht verdecken.
Man sieht, wie einzelne kräftige, aber in die Irre geratene Talente sich nach einem
geeigneten Führer umsehen, weil sie gern vergessen und zulernen möchten.
Das gilt vor allem von Rosa Poppe, der man unter dem Grafen Hochberg
eine ungerechte und vor allem ihr selbst gefährliche Alleinherrschaft einräumte
und ihr dann unter Hülsen die Flügel mit Blei beschwerte, so daß sie ver¬
ärgert und verängstigt eine Weile gar nicht wußte, was sie konnte, und erst
neuerdings ihre falsche Nervosität zu bezwingen lernte. Waldemar Stäge-
mann. der sich wirksam durchsetzte und als Hamlet überragte, ist auf einmal
wie ein übermüdeter Wanderer stehen geblieben und als Menschendarsteller
der schönen Phrase verfallen, aus der ihn vorläufig niemand befreien kann.
Vielleicht nähert sich seine Entwicklung als Liebhaber und Held schon ihrem
Ende und er findet infolge seiner Verstandesschärfe als Charakterspteler eine
desto erfreulichere Zukunft.

Was man an jugendlichen weiblichen Kräften bisher neu geivonnen hat.
ist nicht wett her und findet sich auch auf bessern Provinzbühnen. Warum
läßt man aber Agnes Sorna am Schillerplatz so gänzlich außer Betracht?
Man könnte mit ihrer noch heute durchdringenden, ja einzigen Begabung, die


Grenzboten I 1910 14
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0117" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315114"/>
          <fw type="header" place="top"> ?as Berliner Schauspielhaus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_346" prev="#ID_345"> Licht zeigten, dessen Strahlen ihnen früher fehlten! Er riß auch mit seiner<lb/>
Persönlichkeit, selbst wenn er gelegentlich zu hoch ausholte und zu heftig ein¬<lb/>
Hieb, seine ganze Umgebung aus ihrer Alltagsstimmung und hergebrachten<lb/>
Gewohnheit, reizte die einen zum Wettbewerb um den Preis der Vollendung,<lb/>
ertrotzte von den andern im Mitspielen ungeahnte Wirkungen und feuerte<lb/>
überall siegreich an. Hat der Deutsche Kaiser die Petersburger Tragödin<lb/>
Frau Ssawina, die im Frühjahr 1899 bei uns gastierte und gewiß kein<lb/>
Genie ist, wirklich so überschwänglich gepriesen, wie es neulich in den Zeitungen<lb/>
stand. und dabei seine eigenen Künstler mit den Worten: &#x201E;Il8 Kuriere" in<lb/>
die Lehre genommen? Dabei kann er unmöglich an die Löwenstimme Mat-<lb/>
kowskys gedacht haben, die doch nur die natürliche Resonanz einer gewaltigen<lb/>
Seele war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_347"> Unsere Hofbühne verfügt über zwei allerdings alt gewordene, aber immer<lb/>
noch Leben sprühende Gerdes. Arthur Vollmer und Anna Schramm, denen<lb/>
auf ihrem eigentlichen Gebiete auch jetzt nichts an die Seite zu stellen ist.<lb/>
Über die anderen senkt sich nach dem Tode des Großmeisters, der ein wahr¬<lb/>
haft königlicher Schauspieler war. namentlich wenn es sich um die Tragödie<lb/>
handelte, nur zu deutlich bemerkbar der Geist des schlaffen und Eintöniger<lb/>
herab. Die Sprungfedern, die früher wenigstens vorübergehend scharf an¬<lb/>
gezogen wurden, haben ihre Kraft und Elastizität verloren. Man fühlt sich<lb/>
schon wieder in die Zeit der hohlen Paradedeklamation versetzt, die vor einem<lb/>
Vierteljahrhundert Schiller von seinem Ruhmessockel zu vertreiben drohte. Die<lb/>
mechanische Gymnastik der Kehle erdrückt die seelische Erregung, das Starre<lb/>
und Unbewegliche im Spiel hebt die tiefer liegende Charakteristik auf. Kostüme<lb/>
und Dekorationen ausgesuchter Art können diese innere Leere nicht verdecken.<lb/>
Man sieht, wie einzelne kräftige, aber in die Irre geratene Talente sich nach einem<lb/>
geeigneten Führer umsehen, weil sie gern vergessen und zulernen möchten.<lb/>
Das gilt vor allem von Rosa Poppe, der man unter dem Grafen Hochberg<lb/>
eine ungerechte und vor allem ihr selbst gefährliche Alleinherrschaft einräumte<lb/>
und ihr dann unter Hülsen die Flügel mit Blei beschwerte, so daß sie ver¬<lb/>
ärgert und verängstigt eine Weile gar nicht wußte, was sie konnte, und erst<lb/>
neuerdings ihre falsche Nervosität zu bezwingen lernte. Waldemar Stäge-<lb/>
mann. der sich wirksam durchsetzte und als Hamlet überragte, ist auf einmal<lb/>
wie ein übermüdeter Wanderer stehen geblieben und als Menschendarsteller<lb/>
der schönen Phrase verfallen, aus der ihn vorläufig niemand befreien kann.<lb/>
Vielleicht nähert sich seine Entwicklung als Liebhaber und Held schon ihrem<lb/>
Ende und er findet infolge seiner Verstandesschärfe als Charakterspteler eine<lb/>
desto erfreulichere Zukunft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_348" next="#ID_349"> Was man an jugendlichen weiblichen Kräften bisher neu geivonnen hat.<lb/>
ist nicht wett her und findet sich auch auf bessern Provinzbühnen. Warum<lb/>
läßt man aber Agnes Sorna am Schillerplatz so gänzlich außer Betracht?<lb/>
Man könnte mit ihrer noch heute durchdringenden, ja einzigen Begabung, die</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1910 14</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0117] ?as Berliner Schauspielhaus Licht zeigten, dessen Strahlen ihnen früher fehlten! Er riß auch mit seiner Persönlichkeit, selbst wenn er gelegentlich zu hoch ausholte und zu heftig ein¬ Hieb, seine ganze Umgebung aus ihrer Alltagsstimmung und hergebrachten Gewohnheit, reizte die einen zum Wettbewerb um den Preis der Vollendung, ertrotzte von den andern im Mitspielen ungeahnte Wirkungen und feuerte überall siegreich an. Hat der Deutsche Kaiser die Petersburger Tragödin Frau Ssawina, die im Frühjahr 1899 bei uns gastierte und gewiß kein Genie ist, wirklich so überschwänglich gepriesen, wie es neulich in den Zeitungen stand. und dabei seine eigenen Künstler mit den Worten: „Il8 Kuriere" in die Lehre genommen? Dabei kann er unmöglich an die Löwenstimme Mat- kowskys gedacht haben, die doch nur die natürliche Resonanz einer gewaltigen Seele war. Unsere Hofbühne verfügt über zwei allerdings alt gewordene, aber immer noch Leben sprühende Gerdes. Arthur Vollmer und Anna Schramm, denen auf ihrem eigentlichen Gebiete auch jetzt nichts an die Seite zu stellen ist. Über die anderen senkt sich nach dem Tode des Großmeisters, der ein wahr¬ haft königlicher Schauspieler war. namentlich wenn es sich um die Tragödie handelte, nur zu deutlich bemerkbar der Geist des schlaffen und Eintöniger herab. Die Sprungfedern, die früher wenigstens vorübergehend scharf an¬ gezogen wurden, haben ihre Kraft und Elastizität verloren. Man fühlt sich schon wieder in die Zeit der hohlen Paradedeklamation versetzt, die vor einem Vierteljahrhundert Schiller von seinem Ruhmessockel zu vertreiben drohte. Die mechanische Gymnastik der Kehle erdrückt die seelische Erregung, das Starre und Unbewegliche im Spiel hebt die tiefer liegende Charakteristik auf. Kostüme und Dekorationen ausgesuchter Art können diese innere Leere nicht verdecken. Man sieht, wie einzelne kräftige, aber in die Irre geratene Talente sich nach einem geeigneten Führer umsehen, weil sie gern vergessen und zulernen möchten. Das gilt vor allem von Rosa Poppe, der man unter dem Grafen Hochberg eine ungerechte und vor allem ihr selbst gefährliche Alleinherrschaft einräumte und ihr dann unter Hülsen die Flügel mit Blei beschwerte, so daß sie ver¬ ärgert und verängstigt eine Weile gar nicht wußte, was sie konnte, und erst neuerdings ihre falsche Nervosität zu bezwingen lernte. Waldemar Stäge- mann. der sich wirksam durchsetzte und als Hamlet überragte, ist auf einmal wie ein übermüdeter Wanderer stehen geblieben und als Menschendarsteller der schönen Phrase verfallen, aus der ihn vorläufig niemand befreien kann. Vielleicht nähert sich seine Entwicklung als Liebhaber und Held schon ihrem Ende und er findet infolge seiner Verstandesschärfe als Charakterspteler eine desto erfreulichere Zukunft. Was man an jugendlichen weiblichen Kräften bisher neu geivonnen hat. ist nicht wett her und findet sich auch auf bessern Provinzbühnen. Warum läßt man aber Agnes Sorna am Schillerplatz so gänzlich außer Betracht? Man könnte mit ihrer noch heute durchdringenden, ja einzigen Begabung, die Grenzboten I 1910 14

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/117
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/117>, abgerufen am 22.12.2024.