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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Literaturen Vsteuropas

hätte also in erster Linie unterscheiden müssen: 1-die von Byzanz abhängigen
osteuropäischen Literaturen. Zu ihnen gehören von den slawischen Literaturen
die russische und die südslawischen in ihrer ältern Periode, von den nicht¬
slawischen die neugriechische und die rumänische Literatur. 2. die von Rom
abhängigen. Zu diesen gehören wieder einerseits die polnische und böhmische,
andrerseits die ungarische Literatur; 3. die unter vorwiegend protestantischen
Einfluß stehenden Literaturen der Finnen, Ehlen, Letten und Litauer. Damit
wäre eine kulturhistorisch einwandfreie Gruppierung gegeben gewesen, und es
wäre in der ersten, "orthodoxen" Gruppe nur noch eine ebenfalls gemeinsam
zu behandelnde zweite Periode zu unterscheiden gewesen, die der "Europäisierung"
dieser Literaturen, das heißt ihrer Hinneigung zu den Tendenzen und Idealen
westeuropäischer, besonders romanischer Kultur. Man sieht also, daß der
Begriff ,>osteuropäisch" nicht etwa identisch ist mit dem Begriff "orthodox",
sondern daß alle drei Konfessionen oder Kulturen in ihm vereinigt sind. Diese
Dreiheit der Kultur ist aber wichtiger als die Fünfheit der Nassen und sollte
in einer vorwiegend kulturgeschichtlichen Zwecken dienenden Darstellung als
zuerst maßgebender Gesichtspunkt gelten.

Der Hauptanteil an dem Begriffe Osteuropas gebührt freilich den ortho¬
doxen Völkern, im besondern den orthodoxen Slawen, und so ist es durchaus
in der Ordnung, daß diese auch in dem vorliegenden Bande dominieren und
etwa drei Viertel seines Umfangs ausmachen. Nur darüber könnte man im
Zweifel sein, ob die im Verhältnis zum Ganzen allzu breite Darstellung der
russischen Literatur gerechtfertigt ist, zumal da sie auf Kosten einer ebenfalls
so bedeutenden Literatur wie der polnischen ging. Während nämlich die russische
Literatur über zweihundert Seiten umfaßt, kommen auf die polnische nur ganze
zweiundzwanzig Seiten, also etwa um die Hälfte weniger als die so viel un¬
bedeutendem südslawischen und die ungarische Literatur. Das ist ein offen¬
bares literarisches Mißverhältnis, nicht weniger arg als das politische Mi߬
verhältnis in der Zahl der polnischen Abgeordneten der russischen Duma.
Man kann über die Polen als Nation denken, wie man will, die Bedeutung
ihrer Literatur wird auch von ihren politischen Gegnern rückhaltlos anerkannt,
wie noch jüngst in diesen Blättern von G- Cleinow, der sie sogar über die
russische stellt (Ur. 1 dieses Jahres, Seite 9 f.), hervorgehoben wurde. Mag
man es auch nicht billigen, daß Professor Bruckner in der Amelangschen
Sammlung die polnische Literatur mit 120 Seiten mehr bedacht hat als die
russische, so hat er sich und seine Nation in der Hinnebergschen Sammlung
gar zu sehr an die Wand drücken lassen. Dasselbe gilt von der böhmischen
(tschechischen) Literatur, der auf achtzehn Seiten auch nicht annähernd gerecht
zu werden ist. Der Ideen- und Phantasiegehalt der westslawischen Literaturen
ist doch, gerade durch ihre festere Fühlung mit dem Geiste des europäischen
Westens, mit Humanismus und Renaissance unvergleichlich größer als etwa
der der südslawischen, die sich erst von der byzantinischen Umarmung frei


Die Literaturen Vsteuropas

hätte also in erster Linie unterscheiden müssen: 1-die von Byzanz abhängigen
osteuropäischen Literaturen. Zu ihnen gehören von den slawischen Literaturen
die russische und die südslawischen in ihrer ältern Periode, von den nicht¬
slawischen die neugriechische und die rumänische Literatur. 2. die von Rom
abhängigen. Zu diesen gehören wieder einerseits die polnische und böhmische,
andrerseits die ungarische Literatur; 3. die unter vorwiegend protestantischen
Einfluß stehenden Literaturen der Finnen, Ehlen, Letten und Litauer. Damit
wäre eine kulturhistorisch einwandfreie Gruppierung gegeben gewesen, und es
wäre in der ersten, „orthodoxen" Gruppe nur noch eine ebenfalls gemeinsam
zu behandelnde zweite Periode zu unterscheiden gewesen, die der „Europäisierung"
dieser Literaturen, das heißt ihrer Hinneigung zu den Tendenzen und Idealen
westeuropäischer, besonders romanischer Kultur. Man sieht also, daß der
Begriff ,>osteuropäisch" nicht etwa identisch ist mit dem Begriff „orthodox",
sondern daß alle drei Konfessionen oder Kulturen in ihm vereinigt sind. Diese
Dreiheit der Kultur ist aber wichtiger als die Fünfheit der Nassen und sollte
in einer vorwiegend kulturgeschichtlichen Zwecken dienenden Darstellung als
zuerst maßgebender Gesichtspunkt gelten.

Der Hauptanteil an dem Begriffe Osteuropas gebührt freilich den ortho¬
doxen Völkern, im besondern den orthodoxen Slawen, und so ist es durchaus
in der Ordnung, daß diese auch in dem vorliegenden Bande dominieren und
etwa drei Viertel seines Umfangs ausmachen. Nur darüber könnte man im
Zweifel sein, ob die im Verhältnis zum Ganzen allzu breite Darstellung der
russischen Literatur gerechtfertigt ist, zumal da sie auf Kosten einer ebenfalls
so bedeutenden Literatur wie der polnischen ging. Während nämlich die russische
Literatur über zweihundert Seiten umfaßt, kommen auf die polnische nur ganze
zweiundzwanzig Seiten, also etwa um die Hälfte weniger als die so viel un¬
bedeutendem südslawischen und die ungarische Literatur. Das ist ein offen¬
bares literarisches Mißverhältnis, nicht weniger arg als das politische Mi߬
verhältnis in der Zahl der polnischen Abgeordneten der russischen Duma.
Man kann über die Polen als Nation denken, wie man will, die Bedeutung
ihrer Literatur wird auch von ihren politischen Gegnern rückhaltlos anerkannt,
wie noch jüngst in diesen Blättern von G- Cleinow, der sie sogar über die
russische stellt (Ur. 1 dieses Jahres, Seite 9 f.), hervorgehoben wurde. Mag
man es auch nicht billigen, daß Professor Bruckner in der Amelangschen
Sammlung die polnische Literatur mit 120 Seiten mehr bedacht hat als die
russische, so hat er sich und seine Nation in der Hinnebergschen Sammlung
gar zu sehr an die Wand drücken lassen. Dasselbe gilt von der böhmischen
(tschechischen) Literatur, der auf achtzehn Seiten auch nicht annähernd gerecht
zu werden ist. Der Ideen- und Phantasiegehalt der westslawischen Literaturen
ist doch, gerade durch ihre festere Fühlung mit dem Geiste des europäischen
Westens, mit Humanismus und Renaissance unvergleichlich größer als etwa
der der südslawischen, die sich erst von der byzantinischen Umarmung frei


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[0563] Die Literaturen Vsteuropas hätte also in erster Linie unterscheiden müssen: 1-die von Byzanz abhängigen osteuropäischen Literaturen. Zu ihnen gehören von den slawischen Literaturen die russische und die südslawischen in ihrer ältern Periode, von den nicht¬ slawischen die neugriechische und die rumänische Literatur. 2. die von Rom abhängigen. Zu diesen gehören wieder einerseits die polnische und böhmische, andrerseits die ungarische Literatur; 3. die unter vorwiegend protestantischen Einfluß stehenden Literaturen der Finnen, Ehlen, Letten und Litauer. Damit wäre eine kulturhistorisch einwandfreie Gruppierung gegeben gewesen, und es wäre in der ersten, „orthodoxen" Gruppe nur noch eine ebenfalls gemeinsam zu behandelnde zweite Periode zu unterscheiden gewesen, die der „Europäisierung" dieser Literaturen, das heißt ihrer Hinneigung zu den Tendenzen und Idealen westeuropäischer, besonders romanischer Kultur. Man sieht also, daß der Begriff ,>osteuropäisch" nicht etwa identisch ist mit dem Begriff „orthodox", sondern daß alle drei Konfessionen oder Kulturen in ihm vereinigt sind. Diese Dreiheit der Kultur ist aber wichtiger als die Fünfheit der Nassen und sollte in einer vorwiegend kulturgeschichtlichen Zwecken dienenden Darstellung als zuerst maßgebender Gesichtspunkt gelten. Der Hauptanteil an dem Begriffe Osteuropas gebührt freilich den ortho¬ doxen Völkern, im besondern den orthodoxen Slawen, und so ist es durchaus in der Ordnung, daß diese auch in dem vorliegenden Bande dominieren und etwa drei Viertel seines Umfangs ausmachen. Nur darüber könnte man im Zweifel sein, ob die im Verhältnis zum Ganzen allzu breite Darstellung der russischen Literatur gerechtfertigt ist, zumal da sie auf Kosten einer ebenfalls so bedeutenden Literatur wie der polnischen ging. Während nämlich die russische Literatur über zweihundert Seiten umfaßt, kommen auf die polnische nur ganze zweiundzwanzig Seiten, also etwa um die Hälfte weniger als die so viel un¬ bedeutendem südslawischen und die ungarische Literatur. Das ist ein offen¬ bares literarisches Mißverhältnis, nicht weniger arg als das politische Mi߬ verhältnis in der Zahl der polnischen Abgeordneten der russischen Duma. Man kann über die Polen als Nation denken, wie man will, die Bedeutung ihrer Literatur wird auch von ihren politischen Gegnern rückhaltlos anerkannt, wie noch jüngst in diesen Blättern von G- Cleinow, der sie sogar über die russische stellt (Ur. 1 dieses Jahres, Seite 9 f.), hervorgehoben wurde. Mag man es auch nicht billigen, daß Professor Bruckner in der Amelangschen Sammlung die polnische Literatur mit 120 Seiten mehr bedacht hat als die russische, so hat er sich und seine Nation in der Hinnebergschen Sammlung gar zu sehr an die Wand drücken lassen. Dasselbe gilt von der böhmischen (tschechischen) Literatur, der auf achtzehn Seiten auch nicht annähernd gerecht zu werden ist. Der Ideen- und Phantasiegehalt der westslawischen Literaturen ist doch, gerade durch ihre festere Fühlung mit dem Geiste des europäischen Westens, mit Humanismus und Renaissance unvergleichlich größer als etwa der der südslawischen, die sich erst von der byzantinischen Umarmung frei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/563>, abgerufen am 24.07.2024.