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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Literaturen Vsteuropas

Literaturen, die sich auf fünf Völkergruppen verteilen, die Slawen, die Rumänen,
die Griechen, die Finnen und die Ugren, die Letten und die Litauer.

Eine wichtige und schwierige Frage ist nun die, wie sich diese so ver-
schiednen Literaturen am besten gruppieren lassen. Wichtig ist diese Frage für
das Verständnis ihres innern Zusammenhanges, schwierig ist sie wegen der
ethnographischen und kulturgeschichtlichen Zersplitterung der osteuropäischen
Völker. Es lassen sich nun dem vorliegenden Bande gegenüber ähnliche Be¬
denken geltend machen wie gegenüber dem fünften Bande von Helmolts Welt¬
geschichte, der die osteuropäische Geschichte behandelt. Der Hauptfehler der
Helmoltschen Gruppierung, das Schwanken zwischen dem geographischen und
dem ethnographischen Prinzip,*) ist zwar von Hinneberg vermieden worden:
er hat das sprachlich-ethnographische fest durchgeführt in der Scheidung von
slawischen, finnisch-ugrischen, litauisch-lettischen Literaturen und der isoliert
stehenden neugriechischen Literatur. Insoweit war man also konsequent; es fragt
sich nur, ob die ethnographische Gruppierung, die für eine politische Geschichts¬
darstellung geeignet ist, es auch für eine literarische ist. Und darauf kann
man nur antworten, daß sie, die es mit der innern geistigen Geschichte der
Völker zu tun hat, nicht maßgebend sein kann -- es sei denn, daß man ein
Vertreter der Rassenpsychologie ist --, daß vielmehr eine Kombinierung des
ethnographischen mit dem kulturhistorischen Prinzip allein das richtige träfe.
In diesem Punkte ist nun Hinneberg zweifellos hinter Helmolt zurückgeblieben;
dieser hat wenigstens die für die politische Gestaltung Osteuropas so wichtige
byzantinische Geschichte in den Rahmen seiner Darstellung mit einbezogen,
während die für das literarische Verständnis fast noch wichtigere byzantinische
Literatur bei Hinneberg fehlt oder vielmehr in den Band geraten ist, wo sie
nur zum Teil berechtigt ist, nämlich in den Band, der die griechische und die
lateinische Sprache und Literatur, also das klassische Altertum, behandelt. Zum
wenigsten hätte in dem vorliegenden Bande eine mit Rücksicht auf ihre Ein¬
wirkung auf die slawischen Literaturen verfaßte summarische Skizze der byzan¬
tinischen Volksliteratur Platz finden müssen, weil ohne sie die ältere russische, die
neugriechische sowie die südslawischen Literaturen überhaupt nicht zu verstehn
sind. Wenn deshalb M. Murko in der Darstellung der südslawischen Literaturen
deren erste Phase bezeichnet als "Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache
und unter dem überwiegenden Einfluß von Byzanz", so schwebt dieser Abschnitt
völlig in der Luft. Und wenn der Herausgeber die Darstellung der polnischen
Und böhmischen Literatur zwischen die der russischen und südslawischen einge¬
schoben hat, so hat er nichts andres getan, als daß er eine einheitliche Kultur-
sphäre durch eine andre auseinandergerissen hat; denn Polen und Tschechen
sind bekanntlich katholische Westslawen, Russen, Serben und Bulgaren
orthodoxe Ostslawen. Eine von innern Prinzipien ausgehende Gruppierung



*) Siehe Verf>, Literar. Zentralbl, Mo, Sy..1ö7S ff,
Die Literaturen Vsteuropas

Literaturen, die sich auf fünf Völkergruppen verteilen, die Slawen, die Rumänen,
die Griechen, die Finnen und die Ugren, die Letten und die Litauer.

Eine wichtige und schwierige Frage ist nun die, wie sich diese so ver-
schiednen Literaturen am besten gruppieren lassen. Wichtig ist diese Frage für
das Verständnis ihres innern Zusammenhanges, schwierig ist sie wegen der
ethnographischen und kulturgeschichtlichen Zersplitterung der osteuropäischen
Völker. Es lassen sich nun dem vorliegenden Bande gegenüber ähnliche Be¬
denken geltend machen wie gegenüber dem fünften Bande von Helmolts Welt¬
geschichte, der die osteuropäische Geschichte behandelt. Der Hauptfehler der
Helmoltschen Gruppierung, das Schwanken zwischen dem geographischen und
dem ethnographischen Prinzip,*) ist zwar von Hinneberg vermieden worden:
er hat das sprachlich-ethnographische fest durchgeführt in der Scheidung von
slawischen, finnisch-ugrischen, litauisch-lettischen Literaturen und der isoliert
stehenden neugriechischen Literatur. Insoweit war man also konsequent; es fragt
sich nur, ob die ethnographische Gruppierung, die für eine politische Geschichts¬
darstellung geeignet ist, es auch für eine literarische ist. Und darauf kann
man nur antworten, daß sie, die es mit der innern geistigen Geschichte der
Völker zu tun hat, nicht maßgebend sein kann — es sei denn, daß man ein
Vertreter der Rassenpsychologie ist —, daß vielmehr eine Kombinierung des
ethnographischen mit dem kulturhistorischen Prinzip allein das richtige träfe.
In diesem Punkte ist nun Hinneberg zweifellos hinter Helmolt zurückgeblieben;
dieser hat wenigstens die für die politische Gestaltung Osteuropas so wichtige
byzantinische Geschichte in den Rahmen seiner Darstellung mit einbezogen,
während die für das literarische Verständnis fast noch wichtigere byzantinische
Literatur bei Hinneberg fehlt oder vielmehr in den Band geraten ist, wo sie
nur zum Teil berechtigt ist, nämlich in den Band, der die griechische und die
lateinische Sprache und Literatur, also das klassische Altertum, behandelt. Zum
wenigsten hätte in dem vorliegenden Bande eine mit Rücksicht auf ihre Ein¬
wirkung auf die slawischen Literaturen verfaßte summarische Skizze der byzan¬
tinischen Volksliteratur Platz finden müssen, weil ohne sie die ältere russische, die
neugriechische sowie die südslawischen Literaturen überhaupt nicht zu verstehn
sind. Wenn deshalb M. Murko in der Darstellung der südslawischen Literaturen
deren erste Phase bezeichnet als „Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache
und unter dem überwiegenden Einfluß von Byzanz", so schwebt dieser Abschnitt
völlig in der Luft. Und wenn der Herausgeber die Darstellung der polnischen
Und böhmischen Literatur zwischen die der russischen und südslawischen einge¬
schoben hat, so hat er nichts andres getan, als daß er eine einheitliche Kultur-
sphäre durch eine andre auseinandergerissen hat; denn Polen und Tschechen
sind bekanntlich katholische Westslawen, Russen, Serben und Bulgaren
orthodoxe Ostslawen. Eine von innern Prinzipien ausgehende Gruppierung



*) Siehe Verf>, Literar. Zentralbl, Mo, Sy..1ö7S ff,
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[0562] Die Literaturen Vsteuropas Literaturen, die sich auf fünf Völkergruppen verteilen, die Slawen, die Rumänen, die Griechen, die Finnen und die Ugren, die Letten und die Litauer. Eine wichtige und schwierige Frage ist nun die, wie sich diese so ver- schiednen Literaturen am besten gruppieren lassen. Wichtig ist diese Frage für das Verständnis ihres innern Zusammenhanges, schwierig ist sie wegen der ethnographischen und kulturgeschichtlichen Zersplitterung der osteuropäischen Völker. Es lassen sich nun dem vorliegenden Bande gegenüber ähnliche Be¬ denken geltend machen wie gegenüber dem fünften Bande von Helmolts Welt¬ geschichte, der die osteuropäische Geschichte behandelt. Der Hauptfehler der Helmoltschen Gruppierung, das Schwanken zwischen dem geographischen und dem ethnographischen Prinzip,*) ist zwar von Hinneberg vermieden worden: er hat das sprachlich-ethnographische fest durchgeführt in der Scheidung von slawischen, finnisch-ugrischen, litauisch-lettischen Literaturen und der isoliert stehenden neugriechischen Literatur. Insoweit war man also konsequent; es fragt sich nur, ob die ethnographische Gruppierung, die für eine politische Geschichts¬ darstellung geeignet ist, es auch für eine literarische ist. Und darauf kann man nur antworten, daß sie, die es mit der innern geistigen Geschichte der Völker zu tun hat, nicht maßgebend sein kann — es sei denn, daß man ein Vertreter der Rassenpsychologie ist —, daß vielmehr eine Kombinierung des ethnographischen mit dem kulturhistorischen Prinzip allein das richtige träfe. In diesem Punkte ist nun Hinneberg zweifellos hinter Helmolt zurückgeblieben; dieser hat wenigstens die für die politische Gestaltung Osteuropas so wichtige byzantinische Geschichte in den Rahmen seiner Darstellung mit einbezogen, während die für das literarische Verständnis fast noch wichtigere byzantinische Literatur bei Hinneberg fehlt oder vielmehr in den Band geraten ist, wo sie nur zum Teil berechtigt ist, nämlich in den Band, der die griechische und die lateinische Sprache und Literatur, also das klassische Altertum, behandelt. Zum wenigsten hätte in dem vorliegenden Bande eine mit Rücksicht auf ihre Ein¬ wirkung auf die slawischen Literaturen verfaßte summarische Skizze der byzan¬ tinischen Volksliteratur Platz finden müssen, weil ohne sie die ältere russische, die neugriechische sowie die südslawischen Literaturen überhaupt nicht zu verstehn sind. Wenn deshalb M. Murko in der Darstellung der südslawischen Literaturen deren erste Phase bezeichnet als „Die Literatur in der kirchenslawischen Sprache und unter dem überwiegenden Einfluß von Byzanz", so schwebt dieser Abschnitt völlig in der Luft. Und wenn der Herausgeber die Darstellung der polnischen Und böhmischen Literatur zwischen die der russischen und südslawischen einge¬ schoben hat, so hat er nichts andres getan, als daß er eine einheitliche Kultur- sphäre durch eine andre auseinandergerissen hat; denn Polen und Tschechen sind bekanntlich katholische Westslawen, Russen, Serben und Bulgaren orthodoxe Ostslawen. Eine von innern Prinzipien ausgehende Gruppierung *) Siehe Verf>, Literar. Zentralbl, Mo, Sy..1ö7S ff,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/562>, abgerufen am 24.07.2024.