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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Literaturen Osteuropas

machen mußten, um aufatmen zu können. Auch darin sollten uns die böhmische
und die polnische Literatur näherstehn, daß sie die einzigen unter den osteuro¬
päischen sind, die man als historische bezeichnen kann: während die russische
Literatur erst im neunzehnten Jahrhundert Interesse gewinnt, hatten jene
beiden schon im sechzehnten eine hohe Blüte entfaltet, und die polnische war
es, die die russische erst befruchtet und von der byzantinischen Scholastik be¬
freit hat. Die Wurzeln der polnischen Literatur wiederum liegen teils im
Boden der deutschen, teils der böhmischen Literatur, und es ist deshalb eine
höchst merkwürdige Erscheinung, daß die moderne deutsche Generation ungleich
mehr Gefallen findet an der russischen Literatur mit ihrem unhistorischen,
wurzellosen, proletarischen Charakter als an der trotz Demokratismus und
Realismus ihre aristokratischen Ideale nie verleugnenden, von rein ästhetischem
Standpunkt betrachtet ungleich höher stehenden polnischen Literatur. Wenn
man von Sienkiewicz absieht, kennt man bei uns keinen einzigen der jüngern
Dichter und Dichterinnen Polens, weder die Dichter des Bauerntums Rey-
mond, Prus, die in der Weltliteratur ihresgleichen suchende Maria Konop-
nizka, der Malerdichter Wyspiansky, der Dramatiker Kisielewski, der
Lyriker Petmayer, der soziale Satiriker Weyßenhoff und andre. Unsre
sonst so geschäftigen Übersetzungsliteraten halten sich von diesen begabten Jung¬
polen geflissentlich fern, und in unsern populären Novellen- und Roman¬
bibliotheken, voran in Reclams Universalbibliothek, die, von Sienkiewicz ab¬
gesehen, nur drei Werken der jüngern Generation Aufnahme gewährt hat,
aber keinem einzigen der eben genannten ersten Ranges, glänzen die Jung¬
polen durch Abwesenheit.

Dasselbe gilt von der tschechischen Literatur. Ihr jüngster Aufschwung
seit den achtziger Jahren hat bei uns noch wenig Beachtung gefunden, und
die Vertreter des Realismus mit Jiracek an der Spitze sind fast völlig un¬
bekannt. Und doch treten mich sie schon aus dem Rahmen der Lokalliteraturen
heraus und in die Weltliteratur hinein.

Doch das nur nebenbei als Beweis für die ungleichartige Verteilung
in der Behandlung der einzelnen osteuropäischen Literaturen in Hinnebergs
Sammlung.

Bedenklicher erscheint mir ein andrer Mangel, den gerade eine zu¬
sammenfassende Darstellung vermeiden sollte: man bekommt kein einheitliches
Bild von der Entwicklung dieser Literaturen, ebenso wie man in Helmolts
Geschichte von Osteuropa kein einheitliches Bild erhält von dem Ineinander¬
greifen der historischen Ereignisse bei den östlichen Völkern. Freilich hat dieser
Mangel seinen Grund in dem Prinzip des -- wie ich sagen möchte -- Mosaik¬
systems beider Darstellungen: jeder Mitarbeiter lieferte seinen glatt behauenen
Stein, und diese Steine wurden dann zusammengefügt, ohne daß man sich
darum kümmerte, wie sie zueinander paßten. Insofern ist der Hinnebergsche
Band nur eine Verkleinerung, wenn man will eine Komprimierung der


Die Literaturen Osteuropas

machen mußten, um aufatmen zu können. Auch darin sollten uns die böhmische
und die polnische Literatur näherstehn, daß sie die einzigen unter den osteuro¬
päischen sind, die man als historische bezeichnen kann: während die russische
Literatur erst im neunzehnten Jahrhundert Interesse gewinnt, hatten jene
beiden schon im sechzehnten eine hohe Blüte entfaltet, und die polnische war
es, die die russische erst befruchtet und von der byzantinischen Scholastik be¬
freit hat. Die Wurzeln der polnischen Literatur wiederum liegen teils im
Boden der deutschen, teils der böhmischen Literatur, und es ist deshalb eine
höchst merkwürdige Erscheinung, daß die moderne deutsche Generation ungleich
mehr Gefallen findet an der russischen Literatur mit ihrem unhistorischen,
wurzellosen, proletarischen Charakter als an der trotz Demokratismus und
Realismus ihre aristokratischen Ideale nie verleugnenden, von rein ästhetischem
Standpunkt betrachtet ungleich höher stehenden polnischen Literatur. Wenn
man von Sienkiewicz absieht, kennt man bei uns keinen einzigen der jüngern
Dichter und Dichterinnen Polens, weder die Dichter des Bauerntums Rey-
mond, Prus, die in der Weltliteratur ihresgleichen suchende Maria Konop-
nizka, der Malerdichter Wyspiansky, der Dramatiker Kisielewski, der
Lyriker Petmayer, der soziale Satiriker Weyßenhoff und andre. Unsre
sonst so geschäftigen Übersetzungsliteraten halten sich von diesen begabten Jung¬
polen geflissentlich fern, und in unsern populären Novellen- und Roman¬
bibliotheken, voran in Reclams Universalbibliothek, die, von Sienkiewicz ab¬
gesehen, nur drei Werken der jüngern Generation Aufnahme gewährt hat,
aber keinem einzigen der eben genannten ersten Ranges, glänzen die Jung¬
polen durch Abwesenheit.

Dasselbe gilt von der tschechischen Literatur. Ihr jüngster Aufschwung
seit den achtziger Jahren hat bei uns noch wenig Beachtung gefunden, und
die Vertreter des Realismus mit Jiracek an der Spitze sind fast völlig un¬
bekannt. Und doch treten mich sie schon aus dem Rahmen der Lokalliteraturen
heraus und in die Weltliteratur hinein.

Doch das nur nebenbei als Beweis für die ungleichartige Verteilung
in der Behandlung der einzelnen osteuropäischen Literaturen in Hinnebergs
Sammlung.

Bedenklicher erscheint mir ein andrer Mangel, den gerade eine zu¬
sammenfassende Darstellung vermeiden sollte: man bekommt kein einheitliches
Bild von der Entwicklung dieser Literaturen, ebenso wie man in Helmolts
Geschichte von Osteuropa kein einheitliches Bild erhält von dem Ineinander¬
greifen der historischen Ereignisse bei den östlichen Völkern. Freilich hat dieser
Mangel seinen Grund in dem Prinzip des — wie ich sagen möchte — Mosaik¬
systems beider Darstellungen: jeder Mitarbeiter lieferte seinen glatt behauenen
Stein, und diese Steine wurden dann zusammengefügt, ohne daß man sich
darum kümmerte, wie sie zueinander paßten. Insofern ist der Hinnebergsche
Band nur eine Verkleinerung, wenn man will eine Komprimierung der


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[0564] Die Literaturen Osteuropas machen mußten, um aufatmen zu können. Auch darin sollten uns die böhmische und die polnische Literatur näherstehn, daß sie die einzigen unter den osteuro¬ päischen sind, die man als historische bezeichnen kann: während die russische Literatur erst im neunzehnten Jahrhundert Interesse gewinnt, hatten jene beiden schon im sechzehnten eine hohe Blüte entfaltet, und die polnische war es, die die russische erst befruchtet und von der byzantinischen Scholastik be¬ freit hat. Die Wurzeln der polnischen Literatur wiederum liegen teils im Boden der deutschen, teils der böhmischen Literatur, und es ist deshalb eine höchst merkwürdige Erscheinung, daß die moderne deutsche Generation ungleich mehr Gefallen findet an der russischen Literatur mit ihrem unhistorischen, wurzellosen, proletarischen Charakter als an der trotz Demokratismus und Realismus ihre aristokratischen Ideale nie verleugnenden, von rein ästhetischem Standpunkt betrachtet ungleich höher stehenden polnischen Literatur. Wenn man von Sienkiewicz absieht, kennt man bei uns keinen einzigen der jüngern Dichter und Dichterinnen Polens, weder die Dichter des Bauerntums Rey- mond, Prus, die in der Weltliteratur ihresgleichen suchende Maria Konop- nizka, der Malerdichter Wyspiansky, der Dramatiker Kisielewski, der Lyriker Petmayer, der soziale Satiriker Weyßenhoff und andre. Unsre sonst so geschäftigen Übersetzungsliteraten halten sich von diesen begabten Jung¬ polen geflissentlich fern, und in unsern populären Novellen- und Roman¬ bibliotheken, voran in Reclams Universalbibliothek, die, von Sienkiewicz ab¬ gesehen, nur drei Werken der jüngern Generation Aufnahme gewährt hat, aber keinem einzigen der eben genannten ersten Ranges, glänzen die Jung¬ polen durch Abwesenheit. Dasselbe gilt von der tschechischen Literatur. Ihr jüngster Aufschwung seit den achtziger Jahren hat bei uns noch wenig Beachtung gefunden, und die Vertreter des Realismus mit Jiracek an der Spitze sind fast völlig un¬ bekannt. Und doch treten mich sie schon aus dem Rahmen der Lokalliteraturen heraus und in die Weltliteratur hinein. Doch das nur nebenbei als Beweis für die ungleichartige Verteilung in der Behandlung der einzelnen osteuropäischen Literaturen in Hinnebergs Sammlung. Bedenklicher erscheint mir ein andrer Mangel, den gerade eine zu¬ sammenfassende Darstellung vermeiden sollte: man bekommt kein einheitliches Bild von der Entwicklung dieser Literaturen, ebenso wie man in Helmolts Geschichte von Osteuropa kein einheitliches Bild erhält von dem Ineinander¬ greifen der historischen Ereignisse bei den östlichen Völkern. Freilich hat dieser Mangel seinen Grund in dem Prinzip des — wie ich sagen möchte — Mosaik¬ systems beider Darstellungen: jeder Mitarbeiter lieferte seinen glatt behauenen Stein, und diese Steine wurden dann zusammengefügt, ohne daß man sich darum kümmerte, wie sie zueinander paßten. Insofern ist der Hinnebergsche Band nur eine Verkleinerung, wenn man will eine Komprimierung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/564>, abgerufen am 24.07.2024.