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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Literaturen Osteuropas

zuziehen, und nur für die neugriechische Literatur mußte man auf beiden
Seiten aus äußern Gründen davon abgehn, außerdem auf einer Seite
(Kultur der Gegenwart) für die ungarische sowie für die keltisch-litauische.
Sprachliche Unzuträglichkeiten hat dieses Verfahren nicht zur Folge gehabt;
denn teils sind die Verfasser selbst des Deutschen mächtig, teils hat die Re¬
daktion dafür gesorgt, daß keine Unebenheiten zurückblieben, es seien denn
solche, die sich aus der Persönlichkeit der Verfasser ergaben. Da außerdem
an beiden Werken nur kompetente Fachgelehrte beteiligt waren, hat man die
Gewähr, ein treues Spiegelbild der betreffenden Literatur vor sich zu sehen.

Freilich herrscht über die Auswahl dieser Literaturen keine völlige Ein¬
helligkeit. Obwohl man meinen könnte, daß mit zehn deren Zahl erschöpft
sei, so sind doch in keinem der beiden Werke sämtliche osteuropäischen
Literaturen vertreten. In der Amelangschen Sammlung fehlen die finnische
und die chemische sowie die keltisch-litauische Literatur, in der Teubnerschen
die rumänische und die jungtürkische. Die Gründe dafür lassen sich nur zum
Teil feststellen; für das erste Werk lagen sie wohl rein äußerlich darin, daß
jene Literaturen keinen Band oder Halbhart zu füllen vermochten, für das
zweite treffen diese Gründe nicht zu, so müssen also andre maßgebend gewesen
sein. Die jungtürkische Literatur blieb höchstwahrscheinlich darum weg, weil
man sie unter den orientalischen zu behandeln gedenkt, indem man sich weniger
auf den literarischen als auf den ethnographisch-sprachlichen Standpunkt stellte.
Das kann man immerhin gelten lassen, insofern auch die türkische Moderne
schließlich aus orientalischem Milieu erwachsen ist. Anders liegen aber die
Dinge bei der rumänischen Literatur. Ihre Weglassung kann sich nur aus
einem kulturgeschichtlichen Irrtum erklären oder aus einer rein äußerlichen
Auffassung. Man deduzierte hier offenbar so: das Rumänische ist eine
romanische Sprache -- was wenigstens zum Teil richtig ist --, folglich ge¬
hört auch die rumänische Literatur zu den romanischen Literaturen, und das
ist ein völliger Fehlschluß: sie hat mit ihnen nicht die geringsten Berührungs¬
punkte, sondern wurzelt ganz im östlichen Kulturkreise, teils im altbulgarischen,
teils im neugriechischen, teils im siebenbürgisch-deutschen, vornehmlich aber in
jenen, und damit gehört sie in die Sphäre des Balkans. Der Verfasser
dieser Zeilen hat sich erlaubt, den Herausgeber der Kultur der Gegenwart
darauf hinzuweisen, hat aber damit keinen Anklang gefunden.*) Man wird
nun sehen, wie wunderlich deplaciert sich die rumänische Literatur inmitten
der romanischen ausnehmen wird, während man sie in dem vorliegenden
Bande schmerzlich vermißt. Rechnet man also diese beiden fehlenden Literaturen
zu den obigen zehn hinzu, so kommt man im ganzen auf zwölf verschiedne



*) Die Verkennung dieser Divergenz zwischen sprachlicher und literarischer Entwicklung
ist darum nicht weniger zu entschuldigen, weil sie auch der Leitung eines streng fachwissenschaft¬
lichen Unternehmens zugestoßen ist, nämlich dem Gröberschen Grundriß für romanische Philologie,
dem die rumänische Literatur ebenfalls wie ein fremder Pfahl im Fleische steckt.
Die Literaturen Osteuropas

zuziehen, und nur für die neugriechische Literatur mußte man auf beiden
Seiten aus äußern Gründen davon abgehn, außerdem auf einer Seite
(Kultur der Gegenwart) für die ungarische sowie für die keltisch-litauische.
Sprachliche Unzuträglichkeiten hat dieses Verfahren nicht zur Folge gehabt;
denn teils sind die Verfasser selbst des Deutschen mächtig, teils hat die Re¬
daktion dafür gesorgt, daß keine Unebenheiten zurückblieben, es seien denn
solche, die sich aus der Persönlichkeit der Verfasser ergaben. Da außerdem
an beiden Werken nur kompetente Fachgelehrte beteiligt waren, hat man die
Gewähr, ein treues Spiegelbild der betreffenden Literatur vor sich zu sehen.

Freilich herrscht über die Auswahl dieser Literaturen keine völlige Ein¬
helligkeit. Obwohl man meinen könnte, daß mit zehn deren Zahl erschöpft
sei, so sind doch in keinem der beiden Werke sämtliche osteuropäischen
Literaturen vertreten. In der Amelangschen Sammlung fehlen die finnische
und die chemische sowie die keltisch-litauische Literatur, in der Teubnerschen
die rumänische und die jungtürkische. Die Gründe dafür lassen sich nur zum
Teil feststellen; für das erste Werk lagen sie wohl rein äußerlich darin, daß
jene Literaturen keinen Band oder Halbhart zu füllen vermochten, für das
zweite treffen diese Gründe nicht zu, so müssen also andre maßgebend gewesen
sein. Die jungtürkische Literatur blieb höchstwahrscheinlich darum weg, weil
man sie unter den orientalischen zu behandeln gedenkt, indem man sich weniger
auf den literarischen als auf den ethnographisch-sprachlichen Standpunkt stellte.
Das kann man immerhin gelten lassen, insofern auch die türkische Moderne
schließlich aus orientalischem Milieu erwachsen ist. Anders liegen aber die
Dinge bei der rumänischen Literatur. Ihre Weglassung kann sich nur aus
einem kulturgeschichtlichen Irrtum erklären oder aus einer rein äußerlichen
Auffassung. Man deduzierte hier offenbar so: das Rumänische ist eine
romanische Sprache — was wenigstens zum Teil richtig ist —, folglich ge¬
hört auch die rumänische Literatur zu den romanischen Literaturen, und das
ist ein völliger Fehlschluß: sie hat mit ihnen nicht die geringsten Berührungs¬
punkte, sondern wurzelt ganz im östlichen Kulturkreise, teils im altbulgarischen,
teils im neugriechischen, teils im siebenbürgisch-deutschen, vornehmlich aber in
jenen, und damit gehört sie in die Sphäre des Balkans. Der Verfasser
dieser Zeilen hat sich erlaubt, den Herausgeber der Kultur der Gegenwart
darauf hinzuweisen, hat aber damit keinen Anklang gefunden.*) Man wird
nun sehen, wie wunderlich deplaciert sich die rumänische Literatur inmitten
der romanischen ausnehmen wird, während man sie in dem vorliegenden
Bande schmerzlich vermißt. Rechnet man also diese beiden fehlenden Literaturen
zu den obigen zehn hinzu, so kommt man im ganzen auf zwölf verschiedne



*) Die Verkennung dieser Divergenz zwischen sprachlicher und literarischer Entwicklung
ist darum nicht weniger zu entschuldigen, weil sie auch der Leitung eines streng fachwissenschaft¬
lichen Unternehmens zugestoßen ist, nämlich dem Gröberschen Grundriß für romanische Philologie,
dem die rumänische Literatur ebenfalls wie ein fremder Pfahl im Fleische steckt.
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[0561] Die Literaturen Osteuropas zuziehen, und nur für die neugriechische Literatur mußte man auf beiden Seiten aus äußern Gründen davon abgehn, außerdem auf einer Seite (Kultur der Gegenwart) für die ungarische sowie für die keltisch-litauische. Sprachliche Unzuträglichkeiten hat dieses Verfahren nicht zur Folge gehabt; denn teils sind die Verfasser selbst des Deutschen mächtig, teils hat die Re¬ daktion dafür gesorgt, daß keine Unebenheiten zurückblieben, es seien denn solche, die sich aus der Persönlichkeit der Verfasser ergaben. Da außerdem an beiden Werken nur kompetente Fachgelehrte beteiligt waren, hat man die Gewähr, ein treues Spiegelbild der betreffenden Literatur vor sich zu sehen. Freilich herrscht über die Auswahl dieser Literaturen keine völlige Ein¬ helligkeit. Obwohl man meinen könnte, daß mit zehn deren Zahl erschöpft sei, so sind doch in keinem der beiden Werke sämtliche osteuropäischen Literaturen vertreten. In der Amelangschen Sammlung fehlen die finnische und die chemische sowie die keltisch-litauische Literatur, in der Teubnerschen die rumänische und die jungtürkische. Die Gründe dafür lassen sich nur zum Teil feststellen; für das erste Werk lagen sie wohl rein äußerlich darin, daß jene Literaturen keinen Band oder Halbhart zu füllen vermochten, für das zweite treffen diese Gründe nicht zu, so müssen also andre maßgebend gewesen sein. Die jungtürkische Literatur blieb höchstwahrscheinlich darum weg, weil man sie unter den orientalischen zu behandeln gedenkt, indem man sich weniger auf den literarischen als auf den ethnographisch-sprachlichen Standpunkt stellte. Das kann man immerhin gelten lassen, insofern auch die türkische Moderne schließlich aus orientalischem Milieu erwachsen ist. Anders liegen aber die Dinge bei der rumänischen Literatur. Ihre Weglassung kann sich nur aus einem kulturgeschichtlichen Irrtum erklären oder aus einer rein äußerlichen Auffassung. Man deduzierte hier offenbar so: das Rumänische ist eine romanische Sprache — was wenigstens zum Teil richtig ist —, folglich ge¬ hört auch die rumänische Literatur zu den romanischen Literaturen, und das ist ein völliger Fehlschluß: sie hat mit ihnen nicht die geringsten Berührungs¬ punkte, sondern wurzelt ganz im östlichen Kulturkreise, teils im altbulgarischen, teils im neugriechischen, teils im siebenbürgisch-deutschen, vornehmlich aber in jenen, und damit gehört sie in die Sphäre des Balkans. Der Verfasser dieser Zeilen hat sich erlaubt, den Herausgeber der Kultur der Gegenwart darauf hinzuweisen, hat aber damit keinen Anklang gefunden.*) Man wird nun sehen, wie wunderlich deplaciert sich die rumänische Literatur inmitten der romanischen ausnehmen wird, während man sie in dem vorliegenden Bande schmerzlich vermißt. Rechnet man also diese beiden fehlenden Literaturen zu den obigen zehn hinzu, so kommt man im ganzen auf zwölf verschiedne *) Die Verkennung dieser Divergenz zwischen sprachlicher und literarischer Entwicklung ist darum nicht weniger zu entschuldigen, weil sie auch der Leitung eines streng fachwissenschaft¬ lichen Unternehmens zugestoßen ist, nämlich dem Gröberschen Grundriß für romanische Philologie, dem die rumänische Literatur ebenfalls wie ein fremder Pfahl im Fleische steckt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/561>, abgerufen am 24.07.2024.