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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Was ist Monismus?

will er nichts wissen. Auch bei der ursprünglichen Entstehung des Lebens
ging alles mechanisch zu.

Aus anorganischer Materie ist ganz von selbst, das heißt durch die
mechanischen Kräfte der Materie, das organische Leben entstanden durch Ur¬
zeugung oder Archigonie. Die Urzeugung ist nach Haeckel ein "Postulat der
reinen Vernunft". Man pflegt dieser Behauptung gegenüber darauf hinzu¬
weisen, daß es noch keinem Chemiker gelungen sei und auch wahrscheinlich nie
einem gelingen werde, einen lebendigen, sei es auch noch so einfachen Orga¬
nismus zu erzeugen. Und sollte es einmal einem genialen Experimentator ge¬
lingen, in seinen Retorten nicht etwa sogleich einen Homunkulus, sondern nur
eine einfachste lebendige Zelle hervorzubringen, wie viel Intelligenz wäre dazu
nötig, mit welcher eingehenden Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze, mit
welch sorgfältiger, zwecksetzender Absicht müßte er zu Werke gehn! Wenn denn
einmal mit Postulaten der Vernunft gearbeitet werden soll, so sollte man
meinen, der Vernunft liege es näher zu fordern, auch bei der anfäng¬
lichen Entstehung des Lebens müsse eine zwecksetzende Intelligenz am Werke
gesessen haben. Sollte sich wirklich eine so verwickelte Zusammenstellung der
Stoffe und ihrer Kräfte, wie sie das organische Leben darstellt, eine Kompli¬
kation, die wir heute mit allem Scharfsinn der Wissenschaft nicht einmal zu
durchschauen, geschweige denn herzustellen vermögen, von selbst zusammengefunden
haben? Und Hütte sie sich zufällig zusammengefunden, der blinde Zufall hätte
die günstige Zusammenstellung wieder zerstört, wenn nicht "zufällig" der nächste
Augenblick und so fort in unendlicher Wiederholung jeder weitere Augenblick
dem Leben ebenso günstig gewesen wäre. So wenig es als Forderung der
Vernunft einleuchtet, daß die homerischen Gedichte durch ein unabsichtliches
Durcheinanderwerfen der vierundzwanzig Buchstaben des Alphabets entstanden
seien, so wenig ist es Postulat der Vernunft, daß das große Epos des Lebens
der Welt nur vermöge des mechanischen Durcheinanderwirbelus zahlloser Atome
oder der mehr als siebzig Elemente der Chemie zu erklären sei.

Von dem Punkte, wo das Leben entsprang, rückwärts schauend, behauptet
dieser moderne Monismus eine einheitliche, lückenlose Entwicklung der Orga¬
nismen aus der anorganischen Materie. Vorwärts schauend aber lehrt er, daß
nicht aus einer Fülle oder auch nur aus einer Mehrheit von Lebenskeimen,
sondern aus einem einzigen, einfachsten Urorgcmismus die Mannigfaltigkeit
der lebenden Wesen stamme. Weitaus die größte Zahl der Anhänger des Ent¬
wicklungsgedankens setzt eine Mehrheit von Lebensanfängen voraus. Selbst
Darwin neigte mehr zu der Ansicht, daß die uns bekannte Tierwelt von etwa
vier oder fünf, die Pflanzenwelt von ebensoviel oder etwas weniger Stamm¬
formen herrühre. Es ist das Verlangen nach einer größtmöglichen Einheit des
Weltbildes, das den Monismus treibt, die Möglichkeit jener Mehrheit abzu¬
weisen und die Einheit des Stammbaums sämtlicher Lebewesen zu be¬
haupten.


Was ist Monismus?

will er nichts wissen. Auch bei der ursprünglichen Entstehung des Lebens
ging alles mechanisch zu.

Aus anorganischer Materie ist ganz von selbst, das heißt durch die
mechanischen Kräfte der Materie, das organische Leben entstanden durch Ur¬
zeugung oder Archigonie. Die Urzeugung ist nach Haeckel ein „Postulat der
reinen Vernunft". Man pflegt dieser Behauptung gegenüber darauf hinzu¬
weisen, daß es noch keinem Chemiker gelungen sei und auch wahrscheinlich nie
einem gelingen werde, einen lebendigen, sei es auch noch so einfachen Orga¬
nismus zu erzeugen. Und sollte es einmal einem genialen Experimentator ge¬
lingen, in seinen Retorten nicht etwa sogleich einen Homunkulus, sondern nur
eine einfachste lebendige Zelle hervorzubringen, wie viel Intelligenz wäre dazu
nötig, mit welcher eingehenden Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze, mit
welch sorgfältiger, zwecksetzender Absicht müßte er zu Werke gehn! Wenn denn
einmal mit Postulaten der Vernunft gearbeitet werden soll, so sollte man
meinen, der Vernunft liege es näher zu fordern, auch bei der anfäng¬
lichen Entstehung des Lebens müsse eine zwecksetzende Intelligenz am Werke
gesessen haben. Sollte sich wirklich eine so verwickelte Zusammenstellung der
Stoffe und ihrer Kräfte, wie sie das organische Leben darstellt, eine Kompli¬
kation, die wir heute mit allem Scharfsinn der Wissenschaft nicht einmal zu
durchschauen, geschweige denn herzustellen vermögen, von selbst zusammengefunden
haben? Und Hütte sie sich zufällig zusammengefunden, der blinde Zufall hätte
die günstige Zusammenstellung wieder zerstört, wenn nicht „zufällig" der nächste
Augenblick und so fort in unendlicher Wiederholung jeder weitere Augenblick
dem Leben ebenso günstig gewesen wäre. So wenig es als Forderung der
Vernunft einleuchtet, daß die homerischen Gedichte durch ein unabsichtliches
Durcheinanderwerfen der vierundzwanzig Buchstaben des Alphabets entstanden
seien, so wenig ist es Postulat der Vernunft, daß das große Epos des Lebens
der Welt nur vermöge des mechanischen Durcheinanderwirbelus zahlloser Atome
oder der mehr als siebzig Elemente der Chemie zu erklären sei.

Von dem Punkte, wo das Leben entsprang, rückwärts schauend, behauptet
dieser moderne Monismus eine einheitliche, lückenlose Entwicklung der Orga¬
nismen aus der anorganischen Materie. Vorwärts schauend aber lehrt er, daß
nicht aus einer Fülle oder auch nur aus einer Mehrheit von Lebenskeimen,
sondern aus einem einzigen, einfachsten Urorgcmismus die Mannigfaltigkeit
der lebenden Wesen stamme. Weitaus die größte Zahl der Anhänger des Ent¬
wicklungsgedankens setzt eine Mehrheit von Lebensanfängen voraus. Selbst
Darwin neigte mehr zu der Ansicht, daß die uns bekannte Tierwelt von etwa
vier oder fünf, die Pflanzenwelt von ebensoviel oder etwas weniger Stamm¬
formen herrühre. Es ist das Verlangen nach einer größtmöglichen Einheit des
Weltbildes, das den Monismus treibt, die Möglichkeit jener Mehrheit abzu¬
weisen und die Einheit des Stammbaums sämtlicher Lebewesen zu be¬
haupten.


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[0556] Was ist Monismus? will er nichts wissen. Auch bei der ursprünglichen Entstehung des Lebens ging alles mechanisch zu. Aus anorganischer Materie ist ganz von selbst, das heißt durch die mechanischen Kräfte der Materie, das organische Leben entstanden durch Ur¬ zeugung oder Archigonie. Die Urzeugung ist nach Haeckel ein „Postulat der reinen Vernunft". Man pflegt dieser Behauptung gegenüber darauf hinzu¬ weisen, daß es noch keinem Chemiker gelungen sei und auch wahrscheinlich nie einem gelingen werde, einen lebendigen, sei es auch noch so einfachen Orga¬ nismus zu erzeugen. Und sollte es einmal einem genialen Experimentator ge¬ lingen, in seinen Retorten nicht etwa sogleich einen Homunkulus, sondern nur eine einfachste lebendige Zelle hervorzubringen, wie viel Intelligenz wäre dazu nötig, mit welcher eingehenden Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze, mit welch sorgfältiger, zwecksetzender Absicht müßte er zu Werke gehn! Wenn denn einmal mit Postulaten der Vernunft gearbeitet werden soll, so sollte man meinen, der Vernunft liege es näher zu fordern, auch bei der anfäng¬ lichen Entstehung des Lebens müsse eine zwecksetzende Intelligenz am Werke gesessen haben. Sollte sich wirklich eine so verwickelte Zusammenstellung der Stoffe und ihrer Kräfte, wie sie das organische Leben darstellt, eine Kompli¬ kation, die wir heute mit allem Scharfsinn der Wissenschaft nicht einmal zu durchschauen, geschweige denn herzustellen vermögen, von selbst zusammengefunden haben? Und Hütte sie sich zufällig zusammengefunden, der blinde Zufall hätte die günstige Zusammenstellung wieder zerstört, wenn nicht „zufällig" der nächste Augenblick und so fort in unendlicher Wiederholung jeder weitere Augenblick dem Leben ebenso günstig gewesen wäre. So wenig es als Forderung der Vernunft einleuchtet, daß die homerischen Gedichte durch ein unabsichtliches Durcheinanderwerfen der vierundzwanzig Buchstaben des Alphabets entstanden seien, so wenig ist es Postulat der Vernunft, daß das große Epos des Lebens der Welt nur vermöge des mechanischen Durcheinanderwirbelus zahlloser Atome oder der mehr als siebzig Elemente der Chemie zu erklären sei. Von dem Punkte, wo das Leben entsprang, rückwärts schauend, behauptet dieser moderne Monismus eine einheitliche, lückenlose Entwicklung der Orga¬ nismen aus der anorganischen Materie. Vorwärts schauend aber lehrt er, daß nicht aus einer Fülle oder auch nur aus einer Mehrheit von Lebenskeimen, sondern aus einem einzigen, einfachsten Urorgcmismus die Mannigfaltigkeit der lebenden Wesen stamme. Weitaus die größte Zahl der Anhänger des Ent¬ wicklungsgedankens setzt eine Mehrheit von Lebensanfängen voraus. Selbst Darwin neigte mehr zu der Ansicht, daß die uns bekannte Tierwelt von etwa vier oder fünf, die Pflanzenwelt von ebensoviel oder etwas weniger Stamm¬ formen herrühre. Es ist das Verlangen nach einer größtmöglichen Einheit des Weltbildes, das den Monismus treibt, die Möglichkeit jener Mehrheit abzu¬ weisen und die Einheit des Stammbaums sämtlicher Lebewesen zu be¬ haupten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/556>, abgerufen am 24.07.2024.