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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Line Hilfe zur Euthanasie

das Cicero dem alten Cato in den Mund legt, besonders deswegen, weil die
Pflege sehr alter Leute und der Umgang mit ihnen meist ein sehr mäßiges
Vergnügen für die Angehörigen oder sonstigen Pfleger ist. Zu den Alters¬
defekten gehört bekanntlich das Schwinden des Gedächtnisses. Der achtzig¬
jährige Bildhauer Houdon ging zu einer Zeit, wo ein neues Stück, in dem
Talma spielte, täglich wiederholt wurde, jeden Tag ins Theater. Ein Be¬
kannter fragte ihn, ob ihn das nicht langweile. Houdon antwortete: "Durch¬
aus nicht; ich habe mein Gedächtnis so vollständig verloren, daß jede Auf¬
führung eine Premiere für mich ist." Dem Berichterstatter dieser Anekdote
sagte ein Hundertjähriger: "Ich habe alles vergessen, Gott ausgenommen; der
Rest ist mir gleichgiltig." Übrigens mag an die Bemerkung des Statistikers
Schnapper-Arndt erinnert werden, daß die Hundert- und Mehrjährigen meist
arme Leute sind, die nicht sehr exakt zu zählen pflegen, auch keine schriftlichen
Urkunden besitzen und sich leicht um ein paar Dutzend Jahre verrechnen.
Daß der Tod an Altersschwäche kein schwerer Tod sein kann und von ver¬
nünftigen Greisen als Erlöser begrüßt wird, bedarf wohl keines wissenschaft¬
lichen Beweises. Doch kommt es leider auch vor, daß ein Hochbetagter noch
eine langwierige Krankheit durchzumachen hat.

Wie mächtig Gemütsbewegungen auf die Organe des Leibes einwirken,
ist bekannt. Die Wirkungen der Furcht pflegen mehr komisch als tragisch zü
verlaufen, und der Volksmund beschreibt sie mit kräftigen Worten. Kummer,
Sorge, Ärger erzeugen chronische Verdauungsstörungen. Plötzlicher Schrecken
aber, Zorn und Freude können töten. Der Tod wird durch die beschleunigte
und verstärkte Herztätigkeit herbeigeführt; die starken Blutwellen zerreißen Ge¬
fäße oder stören die Hirntätigkeit. Ein junger Mann, dem ein Telegramm
meldet, daß er eine bedeutende Erbschaft gemacht habe, wird zuerst blaß und
dann ungeheuer lustig. Er bemerkt, daß seine Lustigkeit nicht normal ist, und
versucht, sich durch einen Spaziergang zu beruhigen. Aber seine Aufregung
steigt, und er benimmt sich, nach Hause zurückgekehrt, wie ein Betrunkner. Er
ist sich der Krankhaftigkeit seines Zustandes bewußt und bricht in Tränen aus;
der Arzt wird geholt, eine Dusche angeordnet, es stellen sich heftige Kopf¬
schmerzen ein. Erbrechen schafft Erleichterung, nach einigen Tagen ist er
wiederhergestellt. Aber man sieht, daß diese Erschütterung leicht den Tod
zur Folge haben konnte. Einem Spieler werden 1000 Dukaten zugeschoben,
die er gewonnen hat. Man fragt, ob er das Spiel fortsetzen wolle; er ant¬
wortet nicht -- er ist tot. Die beiden Hunter, William und John, waren
Bundesgenossen Adam Smiths in dem Kampfe gegen die privilegierte Un¬
wissenheit und faule Routine, die die englischen Universitäten beherrschte.
Smith besuchte mit Gibbon zusammen Williams Vorlesungen über Anatomien
Die ergrimmten zünftigen Ärzte erließen Bestimmungen zu dem Zweck, die
schottischen Landsleute der Reformer von den Vorlesungen auszuschließen, und
von John erzählt nun Block), daß er in einem besondern Falle, wo er seinen


Line Hilfe zur Euthanasie

das Cicero dem alten Cato in den Mund legt, besonders deswegen, weil die
Pflege sehr alter Leute und der Umgang mit ihnen meist ein sehr mäßiges
Vergnügen für die Angehörigen oder sonstigen Pfleger ist. Zu den Alters¬
defekten gehört bekanntlich das Schwinden des Gedächtnisses. Der achtzig¬
jährige Bildhauer Houdon ging zu einer Zeit, wo ein neues Stück, in dem
Talma spielte, täglich wiederholt wurde, jeden Tag ins Theater. Ein Be¬
kannter fragte ihn, ob ihn das nicht langweile. Houdon antwortete: „Durch¬
aus nicht; ich habe mein Gedächtnis so vollständig verloren, daß jede Auf¬
führung eine Premiere für mich ist." Dem Berichterstatter dieser Anekdote
sagte ein Hundertjähriger: „Ich habe alles vergessen, Gott ausgenommen; der
Rest ist mir gleichgiltig." Übrigens mag an die Bemerkung des Statistikers
Schnapper-Arndt erinnert werden, daß die Hundert- und Mehrjährigen meist
arme Leute sind, die nicht sehr exakt zu zählen pflegen, auch keine schriftlichen
Urkunden besitzen und sich leicht um ein paar Dutzend Jahre verrechnen.
Daß der Tod an Altersschwäche kein schwerer Tod sein kann und von ver¬
nünftigen Greisen als Erlöser begrüßt wird, bedarf wohl keines wissenschaft¬
lichen Beweises. Doch kommt es leider auch vor, daß ein Hochbetagter noch
eine langwierige Krankheit durchzumachen hat.

Wie mächtig Gemütsbewegungen auf die Organe des Leibes einwirken,
ist bekannt. Die Wirkungen der Furcht pflegen mehr komisch als tragisch zü
verlaufen, und der Volksmund beschreibt sie mit kräftigen Worten. Kummer,
Sorge, Ärger erzeugen chronische Verdauungsstörungen. Plötzlicher Schrecken
aber, Zorn und Freude können töten. Der Tod wird durch die beschleunigte
und verstärkte Herztätigkeit herbeigeführt; die starken Blutwellen zerreißen Ge¬
fäße oder stören die Hirntätigkeit. Ein junger Mann, dem ein Telegramm
meldet, daß er eine bedeutende Erbschaft gemacht habe, wird zuerst blaß und
dann ungeheuer lustig. Er bemerkt, daß seine Lustigkeit nicht normal ist, und
versucht, sich durch einen Spaziergang zu beruhigen. Aber seine Aufregung
steigt, und er benimmt sich, nach Hause zurückgekehrt, wie ein Betrunkner. Er
ist sich der Krankhaftigkeit seines Zustandes bewußt und bricht in Tränen aus;
der Arzt wird geholt, eine Dusche angeordnet, es stellen sich heftige Kopf¬
schmerzen ein. Erbrechen schafft Erleichterung, nach einigen Tagen ist er
wiederhergestellt. Aber man sieht, daß diese Erschütterung leicht den Tod
zur Folge haben konnte. Einem Spieler werden 1000 Dukaten zugeschoben,
die er gewonnen hat. Man fragt, ob er das Spiel fortsetzen wolle; er ant¬
wortet nicht — er ist tot. Die beiden Hunter, William und John, waren
Bundesgenossen Adam Smiths in dem Kampfe gegen die privilegierte Un¬
wissenheit und faule Routine, die die englischen Universitäten beherrschte.
Smith besuchte mit Gibbon zusammen Williams Vorlesungen über Anatomien
Die ergrimmten zünftigen Ärzte erließen Bestimmungen zu dem Zweck, die
schottischen Landsleute der Reformer von den Vorlesungen auszuschließen, und
von John erzählt nun Block), daß er in einem besondern Falle, wo er seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/506>, abgerufen am 24.07.2024.