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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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schmerzen eines Bewußtlosen sprechen? Der Verfasser will wahrscheinlich sagen:
die Schreie und das Zähneknirschen sind automatische Muskelbewegungen, ver¬
ursacht durch Veränderungen der Gehirnmasse, die furchtbare Schmerzen ver¬
ursachen würden, wenn sie von Bewußtsein begleitet wären. Dasselbe ist in
den meisten Fällen von Krämpfen zu sagen. Leider gibt es jedoch Arten von
Krcimpf, bei denen das Bewußtsein nicht schwindet; zu ihnen gehört der Starr¬
krampf, und die von ihm befallnen leiden schwer. Erkrankung der Atmungs¬
organe, die der Luft den Zugang zu den Lungen wehrt, hat den Erstickungstod
zur Folge. Solche Kranke leiden anfangs sehr, später mildert herabgesetztes
Bewußtsein oder Bewußtlosigkeit die Pein. Das Röcheln, das sich vorm Tode
auch bei andern Krankheiten einstellt, wird von dem in einem Halbschlaf be¬
fangnen Sterbenden nicht als peinvoll empfunden. Über die an Diphtherie
erkrankten Kinder weiß Block) wenig Tröstliches zu sagen; sie leiden schrecklich,
ehe das Bewußtsein schwindet. Bei Krankheiten der Nieren und des Blutes
setzt die Schwäche das Bewußtsein und damit die Schmerzempfindung herab,
auch tritt der Tod oft plötzlich ein. Auch dein Typhuskranken hilft Bewußt¬
losigkeit über das Schlimmste hinweg. Dagegen leidet der Cholerakranke
schrecklich -- glücklicherweise im schlimmsten Falle nur wenige Tage. (Die so¬
genannte onolers. no8tra3, Sommerdiarrhöe, ist keine Cholera.) Gegen das
Ende freilich "nimmt die Mattigkeit zu, Erbrechen und Darmentleerungen
halten inne, und die schmerzhaften Krämpfe hören auf -- lauter angenehme
Erscheinungen". Sehr hübsch gesagt! Der Zuckerkranke schlummert oft bewußtlos
hinüber. Von dem sehr mannigfach gearteten Tode an Tuberkulose "muß zu¬
gegeben werden, daß er kein qualvoller ist". Auch dem Krebskranken bereitet
die Natur oft ein sanftes Ende, das manchem nur durch den Namen qualvoll
gemacht wird. Weil der Krebs mitunter wirklich scheußliche Formen annimmt,
flößt schon sein Name Entsetzen ein; deshalb ist es von höchster Wichtigkeit
für die Gemütsverfassung des Erkrankten, daß ihm die Natur seines Leidens
verborgen bleibe, was leicht geschehen kann, wenn nur innere Organe ergriffen
sind und keine sichtbaren Erscheinungen dem Kranken den Gedanken an Krebs
nahelegen.

Beim Greisentod drängt sich uns das Bewußtsein der Unzulänglichkeit
unsers Wissens am stärksten auf. Die "Abnutzung der Maschine" paßt nur
sehr unvollkommen oder eigentlich gar nicht auf den Organismus, und auch
der begeistertste Anhänger der Bazillentheorie wird sich nicht dadurch lächerlich
machen wollen, daß er den Altersbazillus sucht. Wir wissen nur, daß über
alles Lebendige das Gesetz des Todes herrscht, Und sehen ein, daß dieses Gesetz
notwendig ist, weil die Alten fortmüssen, damit für junges Leben Raum ge¬
schafft werde. Bekannt ist, daß die Lebensdauer in einem gewissen Verhältnis
steht zur Größe des Organismus und zur Dauer seines Wachstums. Große
Bäume leben ein paar tausend, große Dickhäuter über hundert Jahre. Doch
gilt dieses Gesetz nicht allgemein und nicht in mathematisch genauer Form:


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schmerzen eines Bewußtlosen sprechen? Der Verfasser will wahrscheinlich sagen:
die Schreie und das Zähneknirschen sind automatische Muskelbewegungen, ver¬
ursacht durch Veränderungen der Gehirnmasse, die furchtbare Schmerzen ver¬
ursachen würden, wenn sie von Bewußtsein begleitet wären. Dasselbe ist in
den meisten Fällen von Krämpfen zu sagen. Leider gibt es jedoch Arten von
Krcimpf, bei denen das Bewußtsein nicht schwindet; zu ihnen gehört der Starr¬
krampf, und die von ihm befallnen leiden schwer. Erkrankung der Atmungs¬
organe, die der Luft den Zugang zu den Lungen wehrt, hat den Erstickungstod
zur Folge. Solche Kranke leiden anfangs sehr, später mildert herabgesetztes
Bewußtsein oder Bewußtlosigkeit die Pein. Das Röcheln, das sich vorm Tode
auch bei andern Krankheiten einstellt, wird von dem in einem Halbschlaf be¬
fangnen Sterbenden nicht als peinvoll empfunden. Über die an Diphtherie
erkrankten Kinder weiß Block) wenig Tröstliches zu sagen; sie leiden schrecklich,
ehe das Bewußtsein schwindet. Bei Krankheiten der Nieren und des Blutes
setzt die Schwäche das Bewußtsein und damit die Schmerzempfindung herab,
auch tritt der Tod oft plötzlich ein. Auch dein Typhuskranken hilft Bewußt¬
losigkeit über das Schlimmste hinweg. Dagegen leidet der Cholerakranke
schrecklich — glücklicherweise im schlimmsten Falle nur wenige Tage. (Die so¬
genannte onolers. no8tra3, Sommerdiarrhöe, ist keine Cholera.) Gegen das
Ende freilich „nimmt die Mattigkeit zu, Erbrechen und Darmentleerungen
halten inne, und die schmerzhaften Krämpfe hören auf — lauter angenehme
Erscheinungen". Sehr hübsch gesagt! Der Zuckerkranke schlummert oft bewußtlos
hinüber. Von dem sehr mannigfach gearteten Tode an Tuberkulose „muß zu¬
gegeben werden, daß er kein qualvoller ist". Auch dem Krebskranken bereitet
die Natur oft ein sanftes Ende, das manchem nur durch den Namen qualvoll
gemacht wird. Weil der Krebs mitunter wirklich scheußliche Formen annimmt,
flößt schon sein Name Entsetzen ein; deshalb ist es von höchster Wichtigkeit
für die Gemütsverfassung des Erkrankten, daß ihm die Natur seines Leidens
verborgen bleibe, was leicht geschehen kann, wenn nur innere Organe ergriffen
sind und keine sichtbaren Erscheinungen dem Kranken den Gedanken an Krebs
nahelegen.

Beim Greisentod drängt sich uns das Bewußtsein der Unzulänglichkeit
unsers Wissens am stärksten auf. Die „Abnutzung der Maschine" paßt nur
sehr unvollkommen oder eigentlich gar nicht auf den Organismus, und auch
der begeistertste Anhänger der Bazillentheorie wird sich nicht dadurch lächerlich
machen wollen, daß er den Altersbazillus sucht. Wir wissen nur, daß über
alles Lebendige das Gesetz des Todes herrscht, Und sehen ein, daß dieses Gesetz
notwendig ist, weil die Alten fortmüssen, damit für junges Leben Raum ge¬
schafft werde. Bekannt ist, daß die Lebensdauer in einem gewissen Verhältnis
steht zur Größe des Organismus und zur Dauer seines Wachstums. Große
Bäume leben ein paar tausend, große Dickhäuter über hundert Jahre. Doch
gilt dieses Gesetz nicht allgemein und nicht in mathematisch genauer Form:


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[0504] Line Hilfe zur LuttMaste schmerzen eines Bewußtlosen sprechen? Der Verfasser will wahrscheinlich sagen: die Schreie und das Zähneknirschen sind automatische Muskelbewegungen, ver¬ ursacht durch Veränderungen der Gehirnmasse, die furchtbare Schmerzen ver¬ ursachen würden, wenn sie von Bewußtsein begleitet wären. Dasselbe ist in den meisten Fällen von Krämpfen zu sagen. Leider gibt es jedoch Arten von Krcimpf, bei denen das Bewußtsein nicht schwindet; zu ihnen gehört der Starr¬ krampf, und die von ihm befallnen leiden schwer. Erkrankung der Atmungs¬ organe, die der Luft den Zugang zu den Lungen wehrt, hat den Erstickungstod zur Folge. Solche Kranke leiden anfangs sehr, später mildert herabgesetztes Bewußtsein oder Bewußtlosigkeit die Pein. Das Röcheln, das sich vorm Tode auch bei andern Krankheiten einstellt, wird von dem in einem Halbschlaf be¬ fangnen Sterbenden nicht als peinvoll empfunden. Über die an Diphtherie erkrankten Kinder weiß Block) wenig Tröstliches zu sagen; sie leiden schrecklich, ehe das Bewußtsein schwindet. Bei Krankheiten der Nieren und des Blutes setzt die Schwäche das Bewußtsein und damit die Schmerzempfindung herab, auch tritt der Tod oft plötzlich ein. Auch dein Typhuskranken hilft Bewußt¬ losigkeit über das Schlimmste hinweg. Dagegen leidet der Cholerakranke schrecklich — glücklicherweise im schlimmsten Falle nur wenige Tage. (Die so¬ genannte onolers. no8tra3, Sommerdiarrhöe, ist keine Cholera.) Gegen das Ende freilich „nimmt die Mattigkeit zu, Erbrechen und Darmentleerungen halten inne, und die schmerzhaften Krämpfe hören auf — lauter angenehme Erscheinungen". Sehr hübsch gesagt! Der Zuckerkranke schlummert oft bewußtlos hinüber. Von dem sehr mannigfach gearteten Tode an Tuberkulose „muß zu¬ gegeben werden, daß er kein qualvoller ist". Auch dem Krebskranken bereitet die Natur oft ein sanftes Ende, das manchem nur durch den Namen qualvoll gemacht wird. Weil der Krebs mitunter wirklich scheußliche Formen annimmt, flößt schon sein Name Entsetzen ein; deshalb ist es von höchster Wichtigkeit für die Gemütsverfassung des Erkrankten, daß ihm die Natur seines Leidens verborgen bleibe, was leicht geschehen kann, wenn nur innere Organe ergriffen sind und keine sichtbaren Erscheinungen dem Kranken den Gedanken an Krebs nahelegen. Beim Greisentod drängt sich uns das Bewußtsein der Unzulänglichkeit unsers Wissens am stärksten auf. Die „Abnutzung der Maschine" paßt nur sehr unvollkommen oder eigentlich gar nicht auf den Organismus, und auch der begeistertste Anhänger der Bazillentheorie wird sich nicht dadurch lächerlich machen wollen, daß er den Altersbazillus sucht. Wir wissen nur, daß über alles Lebendige das Gesetz des Todes herrscht, Und sehen ein, daß dieses Gesetz notwendig ist, weil die Alten fortmüssen, damit für junges Leben Raum ge¬ schafft werde. Bekannt ist, daß die Lebensdauer in einem gewissen Verhältnis steht zur Größe des Organismus und zur Dauer seines Wachstums. Große Bäume leben ein paar tausend, große Dickhäuter über hundert Jahre. Doch gilt dieses Gesetz nicht allgemein und nicht in mathematisch genauer Form:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/504>, abgerufen am 24.07.2024.