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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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andie Ebräer. Freilich handelt es sich hier nicht wie in der Sprache um den
Unterschied von Hoch und Niedrige sondern um den von offiziell und privatim;
denn von den mitgeteilten Texten rühren mehrere von Angehörigen der "Ober¬
schicht" her, von Offizieren und Priestern, und beweisen, daß in Privatbriesen
jedenfalls kein prinzipieller Unterschied bestand zwischen denen der- Gebildeten
und der Ungebildeten- Man kann deshalb zweifeln, ob man mit Deißmann
,(S. 173) die Paulusbriefe zu den rein volkstümlichen Produkten ihrer Zeit
zählen kann- Deißmann ist in der Anwendung dieses Begriffes nicht immer
ganz konsequent: bald wechselt er bei ihm mit unliterarisch, bald mit prole¬
tarisch. Jesus und Paulus nennt er beide unliterarisch, nur daß bei Jesus,
der in einer ländlichen Bevölkerung wirkte, das Volksmäßige stärker hervortrete als
bei dem in großstädtischer Atmosphäre tätigen Paulus, und er führt dann fort:
"Aber volkstümlich sind die Paulusbriefe doch, am meisten im Wortschatz, aber
auch mit ihrem Inhalt auf die Probleme, Nöte und Schwächen der kleinen
Leute berechnet -- nur daß der gewaltige Mensch Paulus mehr kennt als das
Tausendwörterlexikon und die Dämonen des nur vegetierenden Hafenproletariers;
er verfügt über die Sprachgewalt des Dichters, erlebt die feinsten und zartesten
Stimmungen der religiösen und sittlichen Welt mit ungehemmter Kraft in den
Tiefen seiner Prophetenseele und offenbart sie in den Bekenntnissen seiner
Briefe." (S. 173.) Warum aber diese feinsten und zartesten Stimmungen aus¬
schließlich in den "untern Schichten" eine so laute Resonanz gefunden haben
sollen, ist nicht recht einzusehen. Gerade darin möchte ich den Fortschritt von
Jesus zu Paulus erkennen, daß jener es mit dem Volk im engern Sinne,
dieser aber ebensosehr auch mit dem gebildeten Mittelstand der Städte zu tun
hatte. Darin scheint mir eine gewisse Einseitigkeit zu liegen, daß Deißmann
immer nur von der untern und der obern Schicht redet und die mittlere nur
gelegentlich betont. Und doch gehören die Schreiber der meisten mitgeteilten Briefe
dieser an, wie es zum Beispiel bei Ur. 7 (S. 114) ausdrücklich gesagt wird.
Wohl heißt es einmal <S. 173), daß Paulus bei den Bürgern und Prole¬
tariern der internationalen Weltstädte stehe, und ein andermal ist die Rede
von der mittlern und untern Schicht (S. 209, 215 und 278), ob man aber
diese beiden Klassen so ohne weiteres gleichsetzen darf, selbst wenn man annimmt,
daß der Klassenhaß damals noch nicht so stark entwickelt war?

Wie steht es nun mit der scharfen Scheidung zwischen oberer Schicht einer¬
seits und mittlerer und unterer Schicht andrerseits, wenn wir neben die sprach-
und litemrgeschichtlichen Zeugnisse die tultur- und religionsgeschichtlichen
stellen? Was beweisen sie für die soziale Ursprungssphäre des Christentums?
Diese Frage läuft zwar nur neben der andern Hauptfrage her, die den Inhalt
des letzten Teiles von Deißmanns Werk bildet, nämlich die Frage, welche Ein¬
flüsse der antiken Kultur und Religion im alten Christentum nachweisbar sind;
doch interessiert uns von unserm Standpunkte jene Nebenfrage mehr, und sie
muß daher in den Vordergrund unsrer Betrachtung treten.


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andie Ebräer. Freilich handelt es sich hier nicht wie in der Sprache um den
Unterschied von Hoch und Niedrige sondern um den von offiziell und privatim;
denn von den mitgeteilten Texten rühren mehrere von Angehörigen der „Ober¬
schicht" her, von Offizieren und Priestern, und beweisen, daß in Privatbriesen
jedenfalls kein prinzipieller Unterschied bestand zwischen denen der- Gebildeten
und der Ungebildeten- Man kann deshalb zweifeln, ob man mit Deißmann
,(S. 173) die Paulusbriefe zu den rein volkstümlichen Produkten ihrer Zeit
zählen kann- Deißmann ist in der Anwendung dieses Begriffes nicht immer
ganz konsequent: bald wechselt er bei ihm mit unliterarisch, bald mit prole¬
tarisch. Jesus und Paulus nennt er beide unliterarisch, nur daß bei Jesus,
der in einer ländlichen Bevölkerung wirkte, das Volksmäßige stärker hervortrete als
bei dem in großstädtischer Atmosphäre tätigen Paulus, und er führt dann fort:
„Aber volkstümlich sind die Paulusbriefe doch, am meisten im Wortschatz, aber
auch mit ihrem Inhalt auf die Probleme, Nöte und Schwächen der kleinen
Leute berechnet — nur daß der gewaltige Mensch Paulus mehr kennt als das
Tausendwörterlexikon und die Dämonen des nur vegetierenden Hafenproletariers;
er verfügt über die Sprachgewalt des Dichters, erlebt die feinsten und zartesten
Stimmungen der religiösen und sittlichen Welt mit ungehemmter Kraft in den
Tiefen seiner Prophetenseele und offenbart sie in den Bekenntnissen seiner
Briefe." (S. 173.) Warum aber diese feinsten und zartesten Stimmungen aus¬
schließlich in den „untern Schichten" eine so laute Resonanz gefunden haben
sollen, ist nicht recht einzusehen. Gerade darin möchte ich den Fortschritt von
Jesus zu Paulus erkennen, daß jener es mit dem Volk im engern Sinne,
dieser aber ebensosehr auch mit dem gebildeten Mittelstand der Städte zu tun
hatte. Darin scheint mir eine gewisse Einseitigkeit zu liegen, daß Deißmann
immer nur von der untern und der obern Schicht redet und die mittlere nur
gelegentlich betont. Und doch gehören die Schreiber der meisten mitgeteilten Briefe
dieser an, wie es zum Beispiel bei Ur. 7 (S. 114) ausdrücklich gesagt wird.
Wohl heißt es einmal <S. 173), daß Paulus bei den Bürgern und Prole¬
tariern der internationalen Weltstädte stehe, und ein andermal ist die Rede
von der mittlern und untern Schicht (S. 209, 215 und 278), ob man aber
diese beiden Klassen so ohne weiteres gleichsetzen darf, selbst wenn man annimmt,
daß der Klassenhaß damals noch nicht so stark entwickelt war?

Wie steht es nun mit der scharfen Scheidung zwischen oberer Schicht einer¬
seits und mittlerer und unterer Schicht andrerseits, wenn wir neben die sprach-
und litemrgeschichtlichen Zeugnisse die tultur- und religionsgeschichtlichen
stellen? Was beweisen sie für die soziale Ursprungssphäre des Christentums?
Diese Frage läuft zwar nur neben der andern Hauptfrage her, die den Inhalt
des letzten Teiles von Deißmanns Werk bildet, nämlich die Frage, welche Ein¬
flüsse der antiken Kultur und Religion im alten Christentum nachweisbar sind;
doch interessiert uns von unserm Standpunkte jene Nebenfrage mehr, und sie
muß daher in den Vordergrund unsrer Betrachtung treten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/500>, abgerufen am 24.07.2024.