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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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nur in dem äußern, formalen, sondern auch in dem Stilcharakter, wie an dem
bekannten Ich-Stil des Johannesevangeliums schlagend nachgewiesen wird.
is. 89 ff.) Das Neue Testament war wohl in seinem Inhalt ein heiliges,
von gottbegeifterten Männern geschriebnes, in seiner Form aber ein Volksbuch,
dos in der Sprache der Masse geschrieben sein mußte, wenn es ans die Masse
wirken .und seine missionierende Kraft bewähren sollte. Wäre es für die obern
Schichten benimmt gewesen, so wäre es sicher in der damaligen literarischen
Kunstsprache verfaßt worden, die den Massen wenn auch vielleicht gerade noch
in den Kopf, so doch schwerlich ins Herz gedrungen wäre. Gerade hierauf
aber mußte es den Missionaren ankommen, und darum mußte" sie ni der
Sprache des Volkes zu dem Volke reden, wenn sie nicht an ihm vorbeireden
wollten. Gewiß mag'sich der klassisch gebildete Alexandriner von diesem Pöbel¬
griechisch mit derselben Gebärde abgewandt haben wie später der orthodoxe
Byzantiner von den naiven Volksbüchern seiner Zeit und wie der zur strengen
Sprächorthodoxie erzogne Neugrieche von der modernen volkssprachlichen Literatur
aber das kennzeichnet'gerade die tiefe soziale Einsicht jener Gottesmänner. daß
sie den Mut hatte", dem Volke zu geben, was des Volkes war. daß sie das
Senkblei des Wortes Gottes in das Meer des sozialen Organismus sandte",
da wo es an tiefsten ist. und nicht in dem seichten Wasser des Strandes umher¬
plätscherten. Denn auch das ist ein Punkt, der sehr zu beachten ist. zumal weil er
von Deißmann nicht genügend hervorgehoben ist: die Verfasser der heiligen
Bücher müssen durchaus bewußt zur Volkssprache gegriffen haben, nicht weil
sie die Literatursprache nicht beherrschten, sondern weil sie wußten, daß sie das
Volk kalt lassen würde, wie die Stilübungen der Rhetoren es kalt ließen, die
es täglich hören konnte. Schon um sich nicht mit diesen zu identifizieren,
mußten die christlichen Missionare zu einer andern Sprache greifen, als die der
gebildete" Gesellschaft war. und so lief sicher anch etwas soziale Oppositionslust
mit unter. Der sprachliche Dualismus. der schon damals das Griechentum
durchzo,ewann eine oial- und kulturgeschichtliche Bedeutung.

ggz
Dieser Zwiespalt aber erstreckte sich auch auf die literarische Form. Hatten
sich die Verfasser der neutestamentlichen Briefe an die Gebildeten gewandt, so
Hütten sie die antike Briefform gewählt, wie sie sich in einer langen Tradition
entwickelt hatte. Die aber konnten sie nicht gebrauchen, weil die Kreise, an
die sie sich wandten, außerhalb dieser Tradition stände". Daher wählte" sie
die ""gekünstelte, unmittelbare Form, wie sie in den zahlreiche" Papyrusbriefe"
vorliegt. Deißmann gibt zahlreiche Probe" davon im Original und ^n der
Übersetzung is. 100 bis 157). um zu zeige", wie sich diese Privatbriese einfacher
Leute von der antiken, literarischen Briefform entfernen und der abus lichen
unliterarischen nähern. Er vergleicht diese Briefe mit den antiken Episteln und
gewinnt so den Hintergrund'zur Unterscheidung nnliterar.scher Briefe mit
literarischer Episteln much im Neuen Testament; zu jenen gehören ihm die
Paulusbricfe. zu diesen die Epistel des Jakolu.s. Petrus und Judas sowie die


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nur in dem äußern, formalen, sondern auch in dem Stilcharakter, wie an dem
bekannten Ich-Stil des Johannesevangeliums schlagend nachgewiesen wird.
is. 89 ff.) Das Neue Testament war wohl in seinem Inhalt ein heiliges,
von gottbegeifterten Männern geschriebnes, in seiner Form aber ein Volksbuch,
dos in der Sprache der Masse geschrieben sein mußte, wenn es ans die Masse
wirken .und seine missionierende Kraft bewähren sollte. Wäre es für die obern
Schichten benimmt gewesen, so wäre es sicher in der damaligen literarischen
Kunstsprache verfaßt worden, die den Massen wenn auch vielleicht gerade noch
in den Kopf, so doch schwerlich ins Herz gedrungen wäre. Gerade hierauf
aber mußte es den Missionaren ankommen, und darum mußte» sie ni der
Sprache des Volkes zu dem Volke reden, wenn sie nicht an ihm vorbeireden
wollten. Gewiß mag'sich der klassisch gebildete Alexandriner von diesem Pöbel¬
griechisch mit derselben Gebärde abgewandt haben wie später der orthodoxe
Byzantiner von den naiven Volksbüchern seiner Zeit und wie der zur strengen
Sprächorthodoxie erzogne Neugrieche von der modernen volkssprachlichen Literatur
aber das kennzeichnet'gerade die tiefe soziale Einsicht jener Gottesmänner. daß
sie den Mut hatte», dem Volke zu geben, was des Volkes war. daß sie das
Senkblei des Wortes Gottes in das Meer des sozialen Organismus sandte»,
da wo es an tiefsten ist. und nicht in dem seichten Wasser des Strandes umher¬
plätscherten. Denn auch das ist ein Punkt, der sehr zu beachten ist. zumal weil er
von Deißmann nicht genügend hervorgehoben ist: die Verfasser der heiligen
Bücher müssen durchaus bewußt zur Volkssprache gegriffen haben, nicht weil
sie die Literatursprache nicht beherrschten, sondern weil sie wußten, daß sie das
Volk kalt lassen würde, wie die Stilübungen der Rhetoren es kalt ließen, die
es täglich hören konnte. Schon um sich nicht mit diesen zu identifizieren,
mußten die christlichen Missionare zu einer andern Sprache greifen, als die der
gebildete» Gesellschaft war. und so lief sicher anch etwas soziale Oppositionslust
mit unter. Der sprachliche Dualismus. der schon damals das Griechentum
durchzo,ewann eine oial- und kulturgeschichtliche Bedeutung.

ggz
Dieser Zwiespalt aber erstreckte sich auch auf die literarische Form. Hatten
sich die Verfasser der neutestamentlichen Briefe an die Gebildeten gewandt, so
Hütten sie die antike Briefform gewählt, wie sie sich in einer langen Tradition
entwickelt hatte. Die aber konnten sie nicht gebrauchen, weil die Kreise, an
die sie sich wandten, außerhalb dieser Tradition stände». Daher wählte» sie
die »»gekünstelte, unmittelbare Form, wie sie in den zahlreiche» Papyrusbriefe»
vorliegt. Deißmann gibt zahlreiche Probe» davon im Original und ^n der
Übersetzung is. 100 bis 157). um zu zeige», wie sich diese Privatbriese einfacher
Leute von der antiken, literarischen Briefform entfernen und der abus lichen
unliterarischen nähern. Er vergleicht diese Briefe mit den antiken Episteln und
gewinnt so den Hintergrund'zur Unterscheidung nnliterar.scher Briefe mit
literarischer Episteln much im Neuen Testament; zu jenen gehören ihm die
Paulusbricfe. zu diesen die Epistel des Jakolu.s. Petrus und Judas sowie die


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[0499] Zur Soziologie des Li>> isle»»»!us nur in dem äußern, formalen, sondern auch in dem Stilcharakter, wie an dem bekannten Ich-Stil des Johannesevangeliums schlagend nachgewiesen wird. is. 89 ff.) Das Neue Testament war wohl in seinem Inhalt ein heiliges, von gottbegeifterten Männern geschriebnes, in seiner Form aber ein Volksbuch, dos in der Sprache der Masse geschrieben sein mußte, wenn es ans die Masse wirken .und seine missionierende Kraft bewähren sollte. Wäre es für die obern Schichten benimmt gewesen, so wäre es sicher in der damaligen literarischen Kunstsprache verfaßt worden, die den Massen wenn auch vielleicht gerade noch in den Kopf, so doch schwerlich ins Herz gedrungen wäre. Gerade hierauf aber mußte es den Missionaren ankommen, und darum mußte» sie ni der Sprache des Volkes zu dem Volke reden, wenn sie nicht an ihm vorbeireden wollten. Gewiß mag'sich der klassisch gebildete Alexandriner von diesem Pöbel¬ griechisch mit derselben Gebärde abgewandt haben wie später der orthodoxe Byzantiner von den naiven Volksbüchern seiner Zeit und wie der zur strengen Sprächorthodoxie erzogne Neugrieche von der modernen volkssprachlichen Literatur aber das kennzeichnet'gerade die tiefe soziale Einsicht jener Gottesmänner. daß sie den Mut hatte», dem Volke zu geben, was des Volkes war. daß sie das Senkblei des Wortes Gottes in das Meer des sozialen Organismus sandte», da wo es an tiefsten ist. und nicht in dem seichten Wasser des Strandes umher¬ plätscherten. Denn auch das ist ein Punkt, der sehr zu beachten ist. zumal weil er von Deißmann nicht genügend hervorgehoben ist: die Verfasser der heiligen Bücher müssen durchaus bewußt zur Volkssprache gegriffen haben, nicht weil sie die Literatursprache nicht beherrschten, sondern weil sie wußten, daß sie das Volk kalt lassen würde, wie die Stilübungen der Rhetoren es kalt ließen, die es täglich hören konnte. Schon um sich nicht mit diesen zu identifizieren, mußten die christlichen Missionare zu einer andern Sprache greifen, als die der gebildete» Gesellschaft war. und so lief sicher anch etwas soziale Oppositionslust mit unter. Der sprachliche Dualismus. der schon damals das Griechentum durchzo,ewann eine oial- und kulturgeschichtliche Bedeutung. ggz Dieser Zwiespalt aber erstreckte sich auch auf die literarische Form. Hatten sich die Verfasser der neutestamentlichen Briefe an die Gebildeten gewandt, so Hütten sie die antike Briefform gewählt, wie sie sich in einer langen Tradition entwickelt hatte. Die aber konnten sie nicht gebrauchen, weil die Kreise, an die sie sich wandten, außerhalb dieser Tradition stände». Daher wählte» sie die »»gekünstelte, unmittelbare Form, wie sie in den zahlreiche» Papyrusbriefe» vorliegt. Deißmann gibt zahlreiche Probe» davon im Original und ^n der Übersetzung is. 100 bis 157). um zu zeige», wie sich diese Privatbriese einfacher Leute von der antiken, literarischen Briefform entfernen und der abus lichen unliterarischen nähern. Er vergleicht diese Briefe mit den antiken Episteln und gewinnt so den Hintergrund'zur Unterscheidung nnliterar.scher Briefe mit literarischer Episteln much im Neuen Testament; zu jenen gehören ihm die Paulusbricfe. zu diesen die Epistel des Jakolu.s. Petrus und Judas sowie die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/499>, abgerufen am 27.07.2024.