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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Entstehung der Religion

gelebt haben, stark beeinflußt ist. und daß wir die ursprüngliche Gestalt des
nordischen Mythus nicht kennen, wird wiederholt hervorgehoben.

Wie nun der Naturdämon noch nicht Gott ist, so ist auch der Götter¬
glaube, der Göttermythus (in dessen Gestaltung neben der volkstümlichen
geschichtlichen Überlieferung die Kunstdichtung eingreift) für sich allein noch
nicht Religion. Erst der Kultus ist es, "der dem Inhalt des Mythus den
Charakter einer ihn über die Schwankungen der sonstigen mythischen Phantasie¬
gebilde erhebenden Glaubensüberzeugung verleiht, worauf diese dann
weiterhin durch die eindrucksvollere und dauerndere Überlieferung verstärkt wird,
durch die sich die Kulthandlungen zu Normen des gemeinsamen Lebens erheben".
Obwohl jedoch demnach der Kult eine unerläßliche Bedingung für die Entstehung
der Religion ist. macht er für sich allein oder mit dem Mythus zusammen die
Religion noch nicht ans. Ein vom einzelnen Menschen für seine persönlichen
Zwecke geübter Kultzauber oder Zcmbertult ist noch keine Religion. Der Kult
wird zur Vorstufe, nur zur Vorstufe, der Religion erst dadurch, daß er den
einzelnen an eine engere oder weitere Gemeinschaft bindet, wie denn schon der
Name rsli^o die Bindung als zu ihrer Wesenheit gehörig bezeichnet. Ent¬
scheidend für den religiösen Charakter der Kulthandlung ist jedoch ihre Ge¬
meinsamkeit, die Erzwingung durch allgemeine Sitte oder öffentliche Vorschrift,
auch noch nicht, denn diese Bindung kann einem sozialen Zweck von unter¬
geordneter Bedeutung dienen, etwa Vorbereitung auf einen Krieg oder eine
hygienische Maßregel sein. Soll der Kult religiös genannt werden, so muß er
auf einen allgemeinen, die Kulturbedürfnisse der betreffenden Entwicklungsstufe
umfassenden Hoeck gerichtet sein, und als erster solcher Zweck, der geradezu
Bedingung ist für die Erhaltung des Lebens des ganzen Stammes, muß der
Erntesegen angesehen werden; weshalb der Vegetations- oder Ackerbaukult
(a8nouIwi-Ä ist ja die Grundlage aller Kultur) als der erste wirklich religiöse
Kult erscheint, wofern er - damit nennen wir das letzte, das entscheidende
Merkmal der Religion -- nicht einem Dämon, sondern einem Gott gewidmet,
auf eine übersinnliche Welt bezogen wird. Die verschiednen Kultformen, ihre
allmähliche Veredlung und Vergeistigung, durch die der ursprüngliche Zauber
Zu guter Letzt zum Symbol philosophischer Wahrheiten und idealer Güter erhoben
wird, sind der Gegenstand umfangreicher Kapitel des Buches.

Wir können, schreibt Wundt Seite 735 ff.. "Religion nicht begreifen, wenn
wir nicht zu verstehen suchen, wie sie entstanden ist. Sie aus den Bekenntnissen
eines aus christlichen Lehrüberlieferungen und griechischer Philosophie schöpfenden
Mannes wie Augustin oder gar aus den Selbstbekenntnissen moderner Mystiker
erkunden zu wollen, ist ein Unternehmen, das von vornherein zur Ergebnis¬
losigkeit verurteilt ist.... Nur als psychologische Entwicklungsgeschichte der
mythologischen und der religiösen Motive kann sdie Wissenschaftj dieser Auf¬
gabe nachkommen. In den vorangegangnen Kapiteln ist nun der Versuch
gemacht worden, die Hauptphasen jener Entwicklung zu schildern. Dabei mußte


Die Entstehung der Religion

gelebt haben, stark beeinflußt ist. und daß wir die ursprüngliche Gestalt des
nordischen Mythus nicht kennen, wird wiederholt hervorgehoben.

Wie nun der Naturdämon noch nicht Gott ist, so ist auch der Götter¬
glaube, der Göttermythus (in dessen Gestaltung neben der volkstümlichen
geschichtlichen Überlieferung die Kunstdichtung eingreift) für sich allein noch
nicht Religion. Erst der Kultus ist es, „der dem Inhalt des Mythus den
Charakter einer ihn über die Schwankungen der sonstigen mythischen Phantasie¬
gebilde erhebenden Glaubensüberzeugung verleiht, worauf diese dann
weiterhin durch die eindrucksvollere und dauerndere Überlieferung verstärkt wird,
durch die sich die Kulthandlungen zu Normen des gemeinsamen Lebens erheben".
Obwohl jedoch demnach der Kult eine unerläßliche Bedingung für die Entstehung
der Religion ist. macht er für sich allein oder mit dem Mythus zusammen die
Religion noch nicht ans. Ein vom einzelnen Menschen für seine persönlichen
Zwecke geübter Kultzauber oder Zcmbertult ist noch keine Religion. Der Kult
wird zur Vorstufe, nur zur Vorstufe, der Religion erst dadurch, daß er den
einzelnen an eine engere oder weitere Gemeinschaft bindet, wie denn schon der
Name rsli^o die Bindung als zu ihrer Wesenheit gehörig bezeichnet. Ent¬
scheidend für den religiösen Charakter der Kulthandlung ist jedoch ihre Ge¬
meinsamkeit, die Erzwingung durch allgemeine Sitte oder öffentliche Vorschrift,
auch noch nicht, denn diese Bindung kann einem sozialen Zweck von unter¬
geordneter Bedeutung dienen, etwa Vorbereitung auf einen Krieg oder eine
hygienische Maßregel sein. Soll der Kult religiös genannt werden, so muß er
auf einen allgemeinen, die Kulturbedürfnisse der betreffenden Entwicklungsstufe
umfassenden Hoeck gerichtet sein, und als erster solcher Zweck, der geradezu
Bedingung ist für die Erhaltung des Lebens des ganzen Stammes, muß der
Erntesegen angesehen werden; weshalb der Vegetations- oder Ackerbaukult
(a8nouIwi-Ä ist ja die Grundlage aller Kultur) als der erste wirklich religiöse
Kult erscheint, wofern er - damit nennen wir das letzte, das entscheidende
Merkmal der Religion — nicht einem Dämon, sondern einem Gott gewidmet,
auf eine übersinnliche Welt bezogen wird. Die verschiednen Kultformen, ihre
allmähliche Veredlung und Vergeistigung, durch die der ursprüngliche Zauber
Zu guter Letzt zum Symbol philosophischer Wahrheiten und idealer Güter erhoben
wird, sind der Gegenstand umfangreicher Kapitel des Buches.

Wir können, schreibt Wundt Seite 735 ff.. „Religion nicht begreifen, wenn
wir nicht zu verstehen suchen, wie sie entstanden ist. Sie aus den Bekenntnissen
eines aus christlichen Lehrüberlieferungen und griechischer Philosophie schöpfenden
Mannes wie Augustin oder gar aus den Selbstbekenntnissen moderner Mystiker
erkunden zu wollen, ist ein Unternehmen, das von vornherein zur Ergebnis¬
losigkeit verurteilt ist.... Nur als psychologische Entwicklungsgeschichte der
mythologischen und der religiösen Motive kann sdie Wissenschaftj dieser Auf¬
gabe nachkommen. In den vorangegangnen Kapiteln ist nun der Versuch
gemacht worden, die Hauptphasen jener Entwicklung zu schildern. Dabei mußte


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[0409] Die Entstehung der Religion gelebt haben, stark beeinflußt ist. und daß wir die ursprüngliche Gestalt des nordischen Mythus nicht kennen, wird wiederholt hervorgehoben. Wie nun der Naturdämon noch nicht Gott ist, so ist auch der Götter¬ glaube, der Göttermythus (in dessen Gestaltung neben der volkstümlichen geschichtlichen Überlieferung die Kunstdichtung eingreift) für sich allein noch nicht Religion. Erst der Kultus ist es, „der dem Inhalt des Mythus den Charakter einer ihn über die Schwankungen der sonstigen mythischen Phantasie¬ gebilde erhebenden Glaubensüberzeugung verleiht, worauf diese dann weiterhin durch die eindrucksvollere und dauerndere Überlieferung verstärkt wird, durch die sich die Kulthandlungen zu Normen des gemeinsamen Lebens erheben". Obwohl jedoch demnach der Kult eine unerläßliche Bedingung für die Entstehung der Religion ist. macht er für sich allein oder mit dem Mythus zusammen die Religion noch nicht ans. Ein vom einzelnen Menschen für seine persönlichen Zwecke geübter Kultzauber oder Zcmbertult ist noch keine Religion. Der Kult wird zur Vorstufe, nur zur Vorstufe, der Religion erst dadurch, daß er den einzelnen an eine engere oder weitere Gemeinschaft bindet, wie denn schon der Name rsli^o die Bindung als zu ihrer Wesenheit gehörig bezeichnet. Ent¬ scheidend für den religiösen Charakter der Kulthandlung ist jedoch ihre Ge¬ meinsamkeit, die Erzwingung durch allgemeine Sitte oder öffentliche Vorschrift, auch noch nicht, denn diese Bindung kann einem sozialen Zweck von unter¬ geordneter Bedeutung dienen, etwa Vorbereitung auf einen Krieg oder eine hygienische Maßregel sein. Soll der Kult religiös genannt werden, so muß er auf einen allgemeinen, die Kulturbedürfnisse der betreffenden Entwicklungsstufe umfassenden Hoeck gerichtet sein, und als erster solcher Zweck, der geradezu Bedingung ist für die Erhaltung des Lebens des ganzen Stammes, muß der Erntesegen angesehen werden; weshalb der Vegetations- oder Ackerbaukult (a8nouIwi-Ä ist ja die Grundlage aller Kultur) als der erste wirklich religiöse Kult erscheint, wofern er - damit nennen wir das letzte, das entscheidende Merkmal der Religion — nicht einem Dämon, sondern einem Gott gewidmet, auf eine übersinnliche Welt bezogen wird. Die verschiednen Kultformen, ihre allmähliche Veredlung und Vergeistigung, durch die der ursprüngliche Zauber Zu guter Letzt zum Symbol philosophischer Wahrheiten und idealer Güter erhoben wird, sind der Gegenstand umfangreicher Kapitel des Buches. Wir können, schreibt Wundt Seite 735 ff.. „Religion nicht begreifen, wenn wir nicht zu verstehen suchen, wie sie entstanden ist. Sie aus den Bekenntnissen eines aus christlichen Lehrüberlieferungen und griechischer Philosophie schöpfenden Mannes wie Augustin oder gar aus den Selbstbekenntnissen moderner Mystiker erkunden zu wollen, ist ein Unternehmen, das von vornherein zur Ergebnis¬ losigkeit verurteilt ist.... Nur als psychologische Entwicklungsgeschichte der mythologischen und der religiösen Motive kann sdie Wissenschaftj dieser Auf¬ gabe nachkommen. In den vorangegangnen Kapiteln ist nun der Versuch gemacht worden, die Hauptphasen jener Entwicklung zu schildern. Dabei mußte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/409>, abgerufen am 04.07.2024.