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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Vie Entstehung der Religion

unter die Götter versetzt wird. Der Kult aber behütet den Gott vor dem
Schicksal, zum bloßen Menschen erniedrigt zu werden. "Die Götter können in
die Begebenheiten j^der Sagej hilfreich oder feindlich eingreifen; sie selbst aber
sind durch ihr unwandelbares, über die alltäglichen Drangsale erhobenes Dasein
jenem Wechsel der Geschicke entzogen, der das Heldenleben zum idealen Vorbild
menschlichen Strebens macht. Erst innerhalb der Heldensage werden daher die
Götter, indem sich in ihrer Anteilnahme an den Schicksalen der Menschen und
an den Kämpfen der Helden der Charakter dieser auch auf sie überträgt, mehr
und mehr selbst zu persönlichen Wesen, auf die nun das Interesse, das die
ursprüngliche Sage nur für den Helden in Anspruch nahm, allmählich hinüber
wandert. So teilen sich in die Gestaltung der Göttervorstellung Kultus und
Sage. Der Kultus sorgt dafür, daß die Götter trotz störender Einwirkung der
Sagenzüge als Helfer in der Not, aber auch als furchtbare Rächer der Schuld
und der ihnen versagten Ehrfurcht in Opfer und Gebet zu übermenschlichen
Wesen erhoben werden. Die Sage aber bringt sie immer und immer wieder
dem Menschen menschlich näher, indem sie alles das, was dieser an dem Helden
als Eigenschaften verehrt, die er an sich selber schätzt, auf sie übertrüge. So
kann sich denn auch nur aus der Heldensage allmählich eine Göttersage ent¬
wickeln, nicht umgekehrt." Es ist also eine verkehrte Ansicht, daß aus Natur¬
göttern menschliche Helden geworden, und die Heldensagen schließlich zu
Kindermärchen entartet seien. Vor ein paar Jahrzehnten galt man als ein
rückständiger Dummkopf, wenn man Abraham, Jakob und seine Söhne, Moses
und David nicht für Sonnen-, Mond- und Planetengötter hielt; mit dieser
Errungenschaft der voraussetzungslosen Wissenschaft hat jetzt also Wundt auf¬
geräumt. Stammeshelden sind die genannten ohne Zweifel (es gibt Ortssagen
und Stammessagcn), und die Schicksale und Eigenschaften ganzer Stämme sind
aus sie übertragen und mythisch ausgeschmückt worden, aber das schließt
natürlich nicht aus, daß sie als einzelne Menschen wirklich gelebt haben; ihr
Dasein wird durch die mythischen Bestandteile der biblischen Erzählung so
wenig zur Unmöglichkeit, wie das Barbarossas oder Karls des Großen durch
die Volksdichtung, die sich dieser Heldengestalten bemächtigt hat. Die Ent¬
stehung, Wandlung, Verschmelzung, Wanderung der Sagen und Mythen wird
nun ausführlich beschrieben, und es werden unter anderm unterschieden der
Heraklestyp, bei dem viele Heldentaten auf einen einzelnen Helden gehäuft
werden, ohne durch eine Idee oder einen Zweck und Plan miteinander ver¬
bunden zu sein (erst die spätern allegorisierenden und moralisierenden Ge¬
staltungen der Heraklessage haben auch in diesen Sagenzyklus Plan und Einheit
gebracht), vom Argonautentyp, dem ein großes Unternehmen zugrunde liegt,
das viele Personen erfordert und sich in viele Episoden gliedert; ferner solche,
bei denen, wie in der Ilias, im Dietrich- und im Nibelungenliede, die geschicht¬
liche Überlieferung vorwaltet, von den beinahe rein mythischen, zu denen die
Edda gehört. Daß diese von der christlichen Umwelt, in der die Statten


Vie Entstehung der Religion

unter die Götter versetzt wird. Der Kult aber behütet den Gott vor dem
Schicksal, zum bloßen Menschen erniedrigt zu werden. „Die Götter können in
die Begebenheiten j^der Sagej hilfreich oder feindlich eingreifen; sie selbst aber
sind durch ihr unwandelbares, über die alltäglichen Drangsale erhobenes Dasein
jenem Wechsel der Geschicke entzogen, der das Heldenleben zum idealen Vorbild
menschlichen Strebens macht. Erst innerhalb der Heldensage werden daher die
Götter, indem sich in ihrer Anteilnahme an den Schicksalen der Menschen und
an den Kämpfen der Helden der Charakter dieser auch auf sie überträgt, mehr
und mehr selbst zu persönlichen Wesen, auf die nun das Interesse, das die
ursprüngliche Sage nur für den Helden in Anspruch nahm, allmählich hinüber
wandert. So teilen sich in die Gestaltung der Göttervorstellung Kultus und
Sage. Der Kultus sorgt dafür, daß die Götter trotz störender Einwirkung der
Sagenzüge als Helfer in der Not, aber auch als furchtbare Rächer der Schuld
und der ihnen versagten Ehrfurcht in Opfer und Gebet zu übermenschlichen
Wesen erhoben werden. Die Sage aber bringt sie immer und immer wieder
dem Menschen menschlich näher, indem sie alles das, was dieser an dem Helden
als Eigenschaften verehrt, die er an sich selber schätzt, auf sie übertrüge. So
kann sich denn auch nur aus der Heldensage allmählich eine Göttersage ent¬
wickeln, nicht umgekehrt." Es ist also eine verkehrte Ansicht, daß aus Natur¬
göttern menschliche Helden geworden, und die Heldensagen schließlich zu
Kindermärchen entartet seien. Vor ein paar Jahrzehnten galt man als ein
rückständiger Dummkopf, wenn man Abraham, Jakob und seine Söhne, Moses
und David nicht für Sonnen-, Mond- und Planetengötter hielt; mit dieser
Errungenschaft der voraussetzungslosen Wissenschaft hat jetzt also Wundt auf¬
geräumt. Stammeshelden sind die genannten ohne Zweifel (es gibt Ortssagen
und Stammessagcn), und die Schicksale und Eigenschaften ganzer Stämme sind
aus sie übertragen und mythisch ausgeschmückt worden, aber das schließt
natürlich nicht aus, daß sie als einzelne Menschen wirklich gelebt haben; ihr
Dasein wird durch die mythischen Bestandteile der biblischen Erzählung so
wenig zur Unmöglichkeit, wie das Barbarossas oder Karls des Großen durch
die Volksdichtung, die sich dieser Heldengestalten bemächtigt hat. Die Ent¬
stehung, Wandlung, Verschmelzung, Wanderung der Sagen und Mythen wird
nun ausführlich beschrieben, und es werden unter anderm unterschieden der
Heraklestyp, bei dem viele Heldentaten auf einen einzelnen Helden gehäuft
werden, ohne durch eine Idee oder einen Zweck und Plan miteinander ver¬
bunden zu sein (erst die spätern allegorisierenden und moralisierenden Ge¬
staltungen der Heraklessage haben auch in diesen Sagenzyklus Plan und Einheit
gebracht), vom Argonautentyp, dem ein großes Unternehmen zugrunde liegt,
das viele Personen erfordert und sich in viele Episoden gliedert; ferner solche,
bei denen, wie in der Ilias, im Dietrich- und im Nibelungenliede, die geschicht¬
liche Überlieferung vorwaltet, von den beinahe rein mythischen, zu denen die
Edda gehört. Daß diese von der christlichen Umwelt, in der die Statten


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[0408] Vie Entstehung der Religion unter die Götter versetzt wird. Der Kult aber behütet den Gott vor dem Schicksal, zum bloßen Menschen erniedrigt zu werden. „Die Götter können in die Begebenheiten j^der Sagej hilfreich oder feindlich eingreifen; sie selbst aber sind durch ihr unwandelbares, über die alltäglichen Drangsale erhobenes Dasein jenem Wechsel der Geschicke entzogen, der das Heldenleben zum idealen Vorbild menschlichen Strebens macht. Erst innerhalb der Heldensage werden daher die Götter, indem sich in ihrer Anteilnahme an den Schicksalen der Menschen und an den Kämpfen der Helden der Charakter dieser auch auf sie überträgt, mehr und mehr selbst zu persönlichen Wesen, auf die nun das Interesse, das die ursprüngliche Sage nur für den Helden in Anspruch nahm, allmählich hinüber wandert. So teilen sich in die Gestaltung der Göttervorstellung Kultus und Sage. Der Kultus sorgt dafür, daß die Götter trotz störender Einwirkung der Sagenzüge als Helfer in der Not, aber auch als furchtbare Rächer der Schuld und der ihnen versagten Ehrfurcht in Opfer und Gebet zu übermenschlichen Wesen erhoben werden. Die Sage aber bringt sie immer und immer wieder dem Menschen menschlich näher, indem sie alles das, was dieser an dem Helden als Eigenschaften verehrt, die er an sich selber schätzt, auf sie übertrüge. So kann sich denn auch nur aus der Heldensage allmählich eine Göttersage ent¬ wickeln, nicht umgekehrt." Es ist also eine verkehrte Ansicht, daß aus Natur¬ göttern menschliche Helden geworden, und die Heldensagen schließlich zu Kindermärchen entartet seien. Vor ein paar Jahrzehnten galt man als ein rückständiger Dummkopf, wenn man Abraham, Jakob und seine Söhne, Moses und David nicht für Sonnen-, Mond- und Planetengötter hielt; mit dieser Errungenschaft der voraussetzungslosen Wissenschaft hat jetzt also Wundt auf¬ geräumt. Stammeshelden sind die genannten ohne Zweifel (es gibt Ortssagen und Stammessagcn), und die Schicksale und Eigenschaften ganzer Stämme sind aus sie übertragen und mythisch ausgeschmückt worden, aber das schließt natürlich nicht aus, daß sie als einzelne Menschen wirklich gelebt haben; ihr Dasein wird durch die mythischen Bestandteile der biblischen Erzählung so wenig zur Unmöglichkeit, wie das Barbarossas oder Karls des Großen durch die Volksdichtung, die sich dieser Heldengestalten bemächtigt hat. Die Ent¬ stehung, Wandlung, Verschmelzung, Wanderung der Sagen und Mythen wird nun ausführlich beschrieben, und es werden unter anderm unterschieden der Heraklestyp, bei dem viele Heldentaten auf einen einzelnen Helden gehäuft werden, ohne durch eine Idee oder einen Zweck und Plan miteinander ver¬ bunden zu sein (erst die spätern allegorisierenden und moralisierenden Ge¬ staltungen der Heraklessage haben auch in diesen Sagenzyklus Plan und Einheit gebracht), vom Argonautentyp, dem ein großes Unternehmen zugrunde liegt, das viele Personen erfordert und sich in viele Episoden gliedert; ferner solche, bei denen, wie in der Ilias, im Dietrich- und im Nibelungenliede, die geschicht¬ liche Überlieferung vorwaltet, von den beinahe rein mythischen, zu denen die Edda gehört. Daß diese von der christlichen Umwelt, in der die Statten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/408>, abgerufen am 04.07.2024.