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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Entstehung der Religion

Wundt unterscheidet danach Märchen, die vom Aufstieg zum Himmel und
vom Abstieg handeln, dann Verschlingungsmdrchen, Truhenmärchen (besonders
Kinder werden in allerlei Behälter gesteckt, in solchen ausgesetzt oder verborgen),
Zwillingsmärchen (die zwei mögen anch bloß Brüder sein, oder Freunde, oder
Bruder und Schwester, oder Gatte und Gattin; kurzum, man liebt es, die
Helden paarweise auftreten zu lassen, als Verbündete oder als Gegner), endlich
Kulturmärchen: Geschichten von Wohltätern, Heilbringern, denen man die
wichtigsten Kulturgüter, das Feuer, die Nährpflanzen zu verdanken glaubt.
Hat man sich ursprünglich mit den Märchengcschichten bloß eigne Erlebnisse,
Vorkommnisse der Wirklichkeit, wie der Naturmensch sie auffaßt, in Worten
vergegenständlichen wollen, so mischt sich doch bald auch das Wohlgefallen an
solchem Spiel der Phantasie ein, und man dichtet Märchen zur Unterhaltung;
man gewinnt den Begebenheiten, namentlich wenn ihre Helden Tiere sind, eine
komische Seite ab und dichtet Scherzmärchcn. man lügt absichtlich, teils weil
es Spaß macht, teils zu einem bestimmten Zweck; so werden Lügenmärchen
gedichtet, um die Neugier der Weiber und der Kinder zu befriedigen, vor denen
man gewisse Zeremonien, namentlich die der Maurerweihe, geheim halten zu
müssen glaubt. Das Kulturmärchen, das einer höhern Entwicklungsstufe angehört,
leitet durch Sage und Legende (die Legende ist eine zu Erbauuugszwecken aus¬
gestattete Sage) zum eigentlichen Mythus über, der aus einer Verschmelzung
von Himmelsmärchen und Heldensagen entsteht und den Glauben an Götter
voraussetzt. Die Dämonen, an die der Naturmensch glaubt, sind noch keine
Götter. Die Dämonen, die die Gräber der Verstorbnen umschweben, oder die
in Krankheit, Wahnsinn und Ekstase vom Menschen Besitz ergreifen, können wir
schwerlich den Göttern zuzählen, nicht einmal den sogenannten Augenblicks¬
göttern. Ebenso verhält es sich mit den Naturdämonen der Berge, der Wälder,
der Einöden und mit allen jenen andern gespenstischen Wesen, die, zunächst der
Naturstimmung entspringend, in das Leben der Götter wie der Menschen ein¬
greifen oder in gewissen Fällen selbst zu Göttern sich erheben können. Trotz
solchen Übergängen, wie sie namentlich in der Vorstellung von Schutzdämoncn
zur Entwicklung gelangen, bleibt es dabei, daß der Dämon als solcher mit dem
Gott nicht in die gleiche Entwicklungsreihe gebracht werden kann, weil er ein
von diesen spezifisch verschiednes Wesen ist." Er hat. als Erzeugnis von Augen¬
blicksstimmungen, von Furcht und Hoffnung der Menschen, keinen eignen
Charakter, ist keine Persönlichkeit und existiert nur in seiner Beziehung zum
Menschen, gehört dieser unsrer irdischen Welt an. Was den Gott zum Gotte
macht, das ist sein Fürsichsein: er hat seinen eignen, von der Erde abgesonderten
Wohnort, den Himmel, der nun etwas ganz andres ist als im Märchen, oder
das Jenseits; er ist über das Los der Erdenkinder. Tod und Lud. erhaben,
und er ist eine menschenähnliche Persönlichkeit.

Die dritte Eigenschaft verleiht ihm der Sagenheld, der, zum Heros er¬
hoben, entweder von einem Gotte abstammt oder in den Himmel eingeht und


Die Entstehung der Religion

Wundt unterscheidet danach Märchen, die vom Aufstieg zum Himmel und
vom Abstieg handeln, dann Verschlingungsmdrchen, Truhenmärchen (besonders
Kinder werden in allerlei Behälter gesteckt, in solchen ausgesetzt oder verborgen),
Zwillingsmärchen (die zwei mögen anch bloß Brüder sein, oder Freunde, oder
Bruder und Schwester, oder Gatte und Gattin; kurzum, man liebt es, die
Helden paarweise auftreten zu lassen, als Verbündete oder als Gegner), endlich
Kulturmärchen: Geschichten von Wohltätern, Heilbringern, denen man die
wichtigsten Kulturgüter, das Feuer, die Nährpflanzen zu verdanken glaubt.
Hat man sich ursprünglich mit den Märchengcschichten bloß eigne Erlebnisse,
Vorkommnisse der Wirklichkeit, wie der Naturmensch sie auffaßt, in Worten
vergegenständlichen wollen, so mischt sich doch bald auch das Wohlgefallen an
solchem Spiel der Phantasie ein, und man dichtet Märchen zur Unterhaltung;
man gewinnt den Begebenheiten, namentlich wenn ihre Helden Tiere sind, eine
komische Seite ab und dichtet Scherzmärchcn. man lügt absichtlich, teils weil
es Spaß macht, teils zu einem bestimmten Zweck; so werden Lügenmärchen
gedichtet, um die Neugier der Weiber und der Kinder zu befriedigen, vor denen
man gewisse Zeremonien, namentlich die der Maurerweihe, geheim halten zu
müssen glaubt. Das Kulturmärchen, das einer höhern Entwicklungsstufe angehört,
leitet durch Sage und Legende (die Legende ist eine zu Erbauuugszwecken aus¬
gestattete Sage) zum eigentlichen Mythus über, der aus einer Verschmelzung
von Himmelsmärchen und Heldensagen entsteht und den Glauben an Götter
voraussetzt. Die Dämonen, an die der Naturmensch glaubt, sind noch keine
Götter. Die Dämonen, die die Gräber der Verstorbnen umschweben, oder die
in Krankheit, Wahnsinn und Ekstase vom Menschen Besitz ergreifen, können wir
schwerlich den Göttern zuzählen, nicht einmal den sogenannten Augenblicks¬
göttern. Ebenso verhält es sich mit den Naturdämonen der Berge, der Wälder,
der Einöden und mit allen jenen andern gespenstischen Wesen, die, zunächst der
Naturstimmung entspringend, in das Leben der Götter wie der Menschen ein¬
greifen oder in gewissen Fällen selbst zu Göttern sich erheben können. Trotz
solchen Übergängen, wie sie namentlich in der Vorstellung von Schutzdämoncn
zur Entwicklung gelangen, bleibt es dabei, daß der Dämon als solcher mit dem
Gott nicht in die gleiche Entwicklungsreihe gebracht werden kann, weil er ein
von diesen spezifisch verschiednes Wesen ist." Er hat. als Erzeugnis von Augen¬
blicksstimmungen, von Furcht und Hoffnung der Menschen, keinen eignen
Charakter, ist keine Persönlichkeit und existiert nur in seiner Beziehung zum
Menschen, gehört dieser unsrer irdischen Welt an. Was den Gott zum Gotte
macht, das ist sein Fürsichsein: er hat seinen eignen, von der Erde abgesonderten
Wohnort, den Himmel, der nun etwas ganz andres ist als im Märchen, oder
das Jenseits; er ist über das Los der Erdenkinder. Tod und Lud. erhaben,
und er ist eine menschenähnliche Persönlichkeit.

Die dritte Eigenschaft verleiht ihm der Sagenheld, der, zum Heros er¬
hoben, entweder von einem Gotte abstammt oder in den Himmel eingeht und


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[0407] Die Entstehung der Religion Wundt unterscheidet danach Märchen, die vom Aufstieg zum Himmel und vom Abstieg handeln, dann Verschlingungsmdrchen, Truhenmärchen (besonders Kinder werden in allerlei Behälter gesteckt, in solchen ausgesetzt oder verborgen), Zwillingsmärchen (die zwei mögen anch bloß Brüder sein, oder Freunde, oder Bruder und Schwester, oder Gatte und Gattin; kurzum, man liebt es, die Helden paarweise auftreten zu lassen, als Verbündete oder als Gegner), endlich Kulturmärchen: Geschichten von Wohltätern, Heilbringern, denen man die wichtigsten Kulturgüter, das Feuer, die Nährpflanzen zu verdanken glaubt. Hat man sich ursprünglich mit den Märchengcschichten bloß eigne Erlebnisse, Vorkommnisse der Wirklichkeit, wie der Naturmensch sie auffaßt, in Worten vergegenständlichen wollen, so mischt sich doch bald auch das Wohlgefallen an solchem Spiel der Phantasie ein, und man dichtet Märchen zur Unterhaltung; man gewinnt den Begebenheiten, namentlich wenn ihre Helden Tiere sind, eine komische Seite ab und dichtet Scherzmärchcn. man lügt absichtlich, teils weil es Spaß macht, teils zu einem bestimmten Zweck; so werden Lügenmärchen gedichtet, um die Neugier der Weiber und der Kinder zu befriedigen, vor denen man gewisse Zeremonien, namentlich die der Maurerweihe, geheim halten zu müssen glaubt. Das Kulturmärchen, das einer höhern Entwicklungsstufe angehört, leitet durch Sage und Legende (die Legende ist eine zu Erbauuugszwecken aus¬ gestattete Sage) zum eigentlichen Mythus über, der aus einer Verschmelzung von Himmelsmärchen und Heldensagen entsteht und den Glauben an Götter voraussetzt. Die Dämonen, an die der Naturmensch glaubt, sind noch keine Götter. Die Dämonen, die die Gräber der Verstorbnen umschweben, oder die in Krankheit, Wahnsinn und Ekstase vom Menschen Besitz ergreifen, können wir schwerlich den Göttern zuzählen, nicht einmal den sogenannten Augenblicks¬ göttern. Ebenso verhält es sich mit den Naturdämonen der Berge, der Wälder, der Einöden und mit allen jenen andern gespenstischen Wesen, die, zunächst der Naturstimmung entspringend, in das Leben der Götter wie der Menschen ein¬ greifen oder in gewissen Fällen selbst zu Göttern sich erheben können. Trotz solchen Übergängen, wie sie namentlich in der Vorstellung von Schutzdämoncn zur Entwicklung gelangen, bleibt es dabei, daß der Dämon als solcher mit dem Gott nicht in die gleiche Entwicklungsreihe gebracht werden kann, weil er ein von diesen spezifisch verschiednes Wesen ist." Er hat. als Erzeugnis von Augen¬ blicksstimmungen, von Furcht und Hoffnung der Menschen, keinen eignen Charakter, ist keine Persönlichkeit und existiert nur in seiner Beziehung zum Menschen, gehört dieser unsrer irdischen Welt an. Was den Gott zum Gotte macht, das ist sein Fürsichsein: er hat seinen eignen, von der Erde abgesonderten Wohnort, den Himmel, der nun etwas ganz andres ist als im Märchen, oder das Jenseits; er ist über das Los der Erdenkinder. Tod und Lud. erhaben, und er ist eine menschenähnliche Persönlichkeit. Die dritte Eigenschaft verleiht ihm der Sagenheld, der, zum Heros er¬ hoben, entweder von einem Gotte abstammt oder in den Himmel eingeht und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/407>, abgerufen am 04.07.2024.