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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Entstehung der Religion

Kenntnis und Verständnis vor fünfzig Jahren durch Max Dunckers Geschichte
des Altertums Gemeingut der Gebildeten wurde, ist nicht der ursprüngliche
Mythus: er ist den Dichterwerken hochentwickelter Kulturvölker entnommen, die
von ihren eignen frühern Zuständen keine Erinnerung mehr hatten. Zudem
sind dichterische Bearbeitungen des Mythus nicht der Mythus selbst, obwohl
sie auf dessen Weiterentwicklung Einfluß haben, und das Ursprüngliche ist noch
gar kein Mythus.

Die erste Vorstufe des Mythus ist das Märchen: eine Erzählung von
abenteuerlichen und zauberhaften Begebenheiten. Es ist anfangs nicht etwa ein
Kunstprodukt von Dichtern, sondern das getreue Abbild der Wirklichkeit, wie
diese dem kindischen, unwissenden, von allerlei Schrecknissen geängstigten, von
Gefahren bedrohten, durch Bedürfnis, Hoffnung und Tatenlust zu Wagnissen
angespornten Naturmenschen erscheint. Seine Wirklichkeit ist ein Gemisch von
Zufällen und Märchenzauber. Selbstverständlich ist auch die zusammenhängende
Erzählung noch nicht das Allerursprünglichste: dieses besteht aus den Einzel¬
vorstellungen von Wagnissen, Gefahren und Glücks- oder Unglücksfällen, von
hilfreichen oder feindlichen Tieren, Ungeheuern, Dämonen. Wundt unterscheidet
das reine Abenteuermürchen, das Glücksmärchen, das mythologische Tiermärchen,
das vielfach sozusagen biologisch wird, indem sich Tiere in Menschen, Menschen
in Tiere verwandeln (die Einbeziehung des Pflanzenreichs schafft den Glauben
an Zauberkräuter und Zauberstabe) und Himmelsmärchen. Diese sind die spätern,
und sie haben durchweg ihre Parallelen in Märchen, die auf der Erde spielen.
Der Himmel und die Himmelskörper erregen die Aufmerksamkeit des Natur¬
menschen weit weniger als die irdischen Dinge, von denen sein Dasein unmittelbar
abhängt, und blickt er zu jenen auf, so ist er weit entfernt davon, sie erhaben
zu finden und Ehrfurcht vor ihnen zu hegen. Sonne und Mond sind ihm
Spielzeuge, die man in einer Kiste aufheben kann, an den Himmel geworfne
glänzende Bälle, Leuchten, die ein Mann über den Himmel hinweg trägt und
im Märchen manchmal einem Knaben zu tragen gibt, die Sterne Tauben-
schwärme und dergleichen. Es soll heute noch Neger geben, die glauben, daß
jeder Ort seine eigne Sonne und seinen eignen Mond habe, und die nicht
wissen, daß es ein und dieselbe Sonne ist, die täglich aufgeht. (Ich erinnere
mich eiues kleinen Mädchens, das von seinen Eltern auf ein andres Dorf
mitgenommen wurde und auf der Heimfahrt freudig erstaunt rief: "Sieh mal,
Mutter, da haben sie ja auch in Wilmsdorf einen Mond!") Wesen und Vor¬
gänge, die man auf Erden beobachtet, werden dann an den Himmel, den man
für ein mit Leitern zu erreichendes Stück Erde hält, versetzt. Wie es auf Erden
Menschen fressende Ungeheuer gibt, so kommt es am Himmel vor, daß die da
oben wandelnden Dinge verschlungen werden. Es entstehen so Märchenmotive,
die in unzähligen Variationen immer wiederkehren und sogar noch in den
italienischen Novellen erscheinen, die Shakespeare benutzte -- seine Stücke sind
voll solcher Märchenmotive --, ja bis in die heutige Dichtung fortwirken.


Die Entstehung der Religion

Kenntnis und Verständnis vor fünfzig Jahren durch Max Dunckers Geschichte
des Altertums Gemeingut der Gebildeten wurde, ist nicht der ursprüngliche
Mythus: er ist den Dichterwerken hochentwickelter Kulturvölker entnommen, die
von ihren eignen frühern Zuständen keine Erinnerung mehr hatten. Zudem
sind dichterische Bearbeitungen des Mythus nicht der Mythus selbst, obwohl
sie auf dessen Weiterentwicklung Einfluß haben, und das Ursprüngliche ist noch
gar kein Mythus.

Die erste Vorstufe des Mythus ist das Märchen: eine Erzählung von
abenteuerlichen und zauberhaften Begebenheiten. Es ist anfangs nicht etwa ein
Kunstprodukt von Dichtern, sondern das getreue Abbild der Wirklichkeit, wie
diese dem kindischen, unwissenden, von allerlei Schrecknissen geängstigten, von
Gefahren bedrohten, durch Bedürfnis, Hoffnung und Tatenlust zu Wagnissen
angespornten Naturmenschen erscheint. Seine Wirklichkeit ist ein Gemisch von
Zufällen und Märchenzauber. Selbstverständlich ist auch die zusammenhängende
Erzählung noch nicht das Allerursprünglichste: dieses besteht aus den Einzel¬
vorstellungen von Wagnissen, Gefahren und Glücks- oder Unglücksfällen, von
hilfreichen oder feindlichen Tieren, Ungeheuern, Dämonen. Wundt unterscheidet
das reine Abenteuermürchen, das Glücksmärchen, das mythologische Tiermärchen,
das vielfach sozusagen biologisch wird, indem sich Tiere in Menschen, Menschen
in Tiere verwandeln (die Einbeziehung des Pflanzenreichs schafft den Glauben
an Zauberkräuter und Zauberstabe) und Himmelsmärchen. Diese sind die spätern,
und sie haben durchweg ihre Parallelen in Märchen, die auf der Erde spielen.
Der Himmel und die Himmelskörper erregen die Aufmerksamkeit des Natur¬
menschen weit weniger als die irdischen Dinge, von denen sein Dasein unmittelbar
abhängt, und blickt er zu jenen auf, so ist er weit entfernt davon, sie erhaben
zu finden und Ehrfurcht vor ihnen zu hegen. Sonne und Mond sind ihm
Spielzeuge, die man in einer Kiste aufheben kann, an den Himmel geworfne
glänzende Bälle, Leuchten, die ein Mann über den Himmel hinweg trägt und
im Märchen manchmal einem Knaben zu tragen gibt, die Sterne Tauben-
schwärme und dergleichen. Es soll heute noch Neger geben, die glauben, daß
jeder Ort seine eigne Sonne und seinen eignen Mond habe, und die nicht
wissen, daß es ein und dieselbe Sonne ist, die täglich aufgeht. (Ich erinnere
mich eiues kleinen Mädchens, das von seinen Eltern auf ein andres Dorf
mitgenommen wurde und auf der Heimfahrt freudig erstaunt rief: „Sieh mal,
Mutter, da haben sie ja auch in Wilmsdorf einen Mond!") Wesen und Vor¬
gänge, die man auf Erden beobachtet, werden dann an den Himmel, den man
für ein mit Leitern zu erreichendes Stück Erde hält, versetzt. Wie es auf Erden
Menschen fressende Ungeheuer gibt, so kommt es am Himmel vor, daß die da
oben wandelnden Dinge verschlungen werden. Es entstehen so Märchenmotive,
die in unzähligen Variationen immer wiederkehren und sogar noch in den
italienischen Novellen erscheinen, die Shakespeare benutzte — seine Stücke sind
voll solcher Märchenmotive —, ja bis in die heutige Dichtung fortwirken.


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[0406] Die Entstehung der Religion Kenntnis und Verständnis vor fünfzig Jahren durch Max Dunckers Geschichte des Altertums Gemeingut der Gebildeten wurde, ist nicht der ursprüngliche Mythus: er ist den Dichterwerken hochentwickelter Kulturvölker entnommen, die von ihren eignen frühern Zuständen keine Erinnerung mehr hatten. Zudem sind dichterische Bearbeitungen des Mythus nicht der Mythus selbst, obwohl sie auf dessen Weiterentwicklung Einfluß haben, und das Ursprüngliche ist noch gar kein Mythus. Die erste Vorstufe des Mythus ist das Märchen: eine Erzählung von abenteuerlichen und zauberhaften Begebenheiten. Es ist anfangs nicht etwa ein Kunstprodukt von Dichtern, sondern das getreue Abbild der Wirklichkeit, wie diese dem kindischen, unwissenden, von allerlei Schrecknissen geängstigten, von Gefahren bedrohten, durch Bedürfnis, Hoffnung und Tatenlust zu Wagnissen angespornten Naturmenschen erscheint. Seine Wirklichkeit ist ein Gemisch von Zufällen und Märchenzauber. Selbstverständlich ist auch die zusammenhängende Erzählung noch nicht das Allerursprünglichste: dieses besteht aus den Einzel¬ vorstellungen von Wagnissen, Gefahren und Glücks- oder Unglücksfällen, von hilfreichen oder feindlichen Tieren, Ungeheuern, Dämonen. Wundt unterscheidet das reine Abenteuermürchen, das Glücksmärchen, das mythologische Tiermärchen, das vielfach sozusagen biologisch wird, indem sich Tiere in Menschen, Menschen in Tiere verwandeln (die Einbeziehung des Pflanzenreichs schafft den Glauben an Zauberkräuter und Zauberstabe) und Himmelsmärchen. Diese sind die spätern, und sie haben durchweg ihre Parallelen in Märchen, die auf der Erde spielen. Der Himmel und die Himmelskörper erregen die Aufmerksamkeit des Natur¬ menschen weit weniger als die irdischen Dinge, von denen sein Dasein unmittelbar abhängt, und blickt er zu jenen auf, so ist er weit entfernt davon, sie erhaben zu finden und Ehrfurcht vor ihnen zu hegen. Sonne und Mond sind ihm Spielzeuge, die man in einer Kiste aufheben kann, an den Himmel geworfne glänzende Bälle, Leuchten, die ein Mann über den Himmel hinweg trägt und im Märchen manchmal einem Knaben zu tragen gibt, die Sterne Tauben- schwärme und dergleichen. Es soll heute noch Neger geben, die glauben, daß jeder Ort seine eigne Sonne und seinen eignen Mond habe, und die nicht wissen, daß es ein und dieselbe Sonne ist, die täglich aufgeht. (Ich erinnere mich eiues kleinen Mädchens, das von seinen Eltern auf ein andres Dorf mitgenommen wurde und auf der Heimfahrt freudig erstaunt rief: „Sieh mal, Mutter, da haben sie ja auch in Wilmsdorf einen Mond!") Wesen und Vor¬ gänge, die man auf Erden beobachtet, werden dann an den Himmel, den man für ein mit Leitern zu erreichendes Stück Erde hält, versetzt. Wie es auf Erden Menschen fressende Ungeheuer gibt, so kommt es am Himmel vor, daß die da oben wandelnden Dinge verschlungen werden. Es entstehen so Märchenmotive, die in unzähligen Variationen immer wiederkehren und sogar noch in den italienischen Novellen erscheinen, die Shakespeare benutzte — seine Stücke sind voll solcher Märchenmotive —, ja bis in die heutige Dichtung fortwirken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/406>, abgerufen am 04.07.2024.