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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Wissenschaft ist. Und ein solches Grundgesetz der menschlichen Sprache ist
zum Beispiel das neuentdeckte Gesetz der Metathesis, was mein Bruder in
einem in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht erschienenen längern Auf¬
satze (1908, Heft 1 und 2) an der Hand unwiderlegbarer Tatsachen und noch
ganz kürzlich wieder in einem in der Kölnischen Zeitung (Ur. 244 des Jahr¬
gangs 1909, erste Sonntagsbeilage) veröffentlichten kürzern Artikel dargetan
hat. Nicht nur aus einem schon so ungeheuern Gebiete wie dem der indo¬
germanischen Sprachfamilie hat das Gesetz durchgehends sprachschöpferisch
gewirkt, sondern in allen Sprachen der Erde, so unter andern auch in der
ältesten uns erhaltnen Sprache des Menschengeschlechts, im Altägyptischen,
wo wir unterschiedslos noch verschiedne Wurzelformen für denselben Begriff
nebeneinander vorfinden wie ad und da (Stein, Mauer), est und bet (Feige),
Zorx und xorA (brechen), dös und sek (reinigen), insr und rsrn (Mensch), Zua
und ans (Wind) usw. Wie das Gesetz der Metathesis überall im Raume
gilt, so auch überall in der Zeit, was zugleich seine wichtigste und beste Be¬
stätigung ist. Täglich wiederholt es sich vor unsern Augen überall da, wo
die Sprache noch ein natürliches Leben führt, in den Mundarten, in der
Sprache der Kinder wie der sogenannten Ungebildeten. Ganze Geheimsprachen
der Naturvölker sind wieder künstlich auf diesem Gesetze aufgebaut, wie uns
zuletzt noch Herr Oberrichter Schultz in Apia von einer solchen Geheimsprache
auf Samoa, der sogenannten MZaug. lium (gaZg.na -- Sprache, lium -- um¬
drehen) zu berichten wußte. Umgekehrt können wir die krankhafte Befolgung
unsers Gesetzes bei geisteskranken Menschen beobachten, die die Gebilde der
Sprache unter Zwang umlagern müssen, und hier, wo die Psychologie, in
deren Bereich unser Gesetz fällt, zur Psychiatrie wird, erkennen wir am klarsten,
wo die Ursachen unsers Gesetzes liegen, nämlich im menschlichen Gehirn,
d. h. in dem Teile des Gehirns, der der Sitz des Sprechvermögens ist.
Deshalb unterliegt der Mensch diesem Gesetz, das in seiner Natur begründet
ist, willenlos, und so ist die Sprache ihrem innersten Wesen nach ein Natur¬
produkt, das nicht etwa wie Kultur, Sitte, Geschichte der Wille des Menschen
geschaffen hat. Die letzten Gründe aller Spracherscheinungen müssen doch
auch ganz natürlich im menschlichen Sprachzentrum liegen, hier enthüllt sich
uns das Geheimnis, wie die Natur aus der verschwindend kleinen Anzahl
von Lauten den unermeßlichen Gestaltenreichtum der Sprache durch Variierung
der einzelnen Sprachwurzeln geschaffen hat. Wäre es anders gewesen, wäre
jede Form mit ganz speziellen Bedeutungsinhalt für sich gebildet worden,
dann wäre die Entstehung der Sprache, wie es nach der Auffassung der bis¬
herigen Wissenschaft allerdings erscheinen muß, kein Naturprozeß, sondern eine
zufällige, willkürliche Erscheinung, ein "Wunder", das wir also uicht begreifen
könnten. Damit hörte alles tiefere Forschen auf diesem Gebiete aus, da jede
Sprachform gleichsam für sich in der Luft hinge, und wir von vornherein
auf die Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge verzichten müßten. Die


Die Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Wissenschaft ist. Und ein solches Grundgesetz der menschlichen Sprache ist
zum Beispiel das neuentdeckte Gesetz der Metathesis, was mein Bruder in
einem in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht erschienenen längern Auf¬
satze (1908, Heft 1 und 2) an der Hand unwiderlegbarer Tatsachen und noch
ganz kürzlich wieder in einem in der Kölnischen Zeitung (Ur. 244 des Jahr¬
gangs 1909, erste Sonntagsbeilage) veröffentlichten kürzern Artikel dargetan
hat. Nicht nur aus einem schon so ungeheuern Gebiete wie dem der indo¬
germanischen Sprachfamilie hat das Gesetz durchgehends sprachschöpferisch
gewirkt, sondern in allen Sprachen der Erde, so unter andern auch in der
ältesten uns erhaltnen Sprache des Menschengeschlechts, im Altägyptischen,
wo wir unterschiedslos noch verschiedne Wurzelformen für denselben Begriff
nebeneinander vorfinden wie ad und da (Stein, Mauer), est und bet (Feige),
Zorx und xorA (brechen), dös und sek (reinigen), insr und rsrn (Mensch), Zua
und ans (Wind) usw. Wie das Gesetz der Metathesis überall im Raume
gilt, so auch überall in der Zeit, was zugleich seine wichtigste und beste Be¬
stätigung ist. Täglich wiederholt es sich vor unsern Augen überall da, wo
die Sprache noch ein natürliches Leben führt, in den Mundarten, in der
Sprache der Kinder wie der sogenannten Ungebildeten. Ganze Geheimsprachen
der Naturvölker sind wieder künstlich auf diesem Gesetze aufgebaut, wie uns
zuletzt noch Herr Oberrichter Schultz in Apia von einer solchen Geheimsprache
auf Samoa, der sogenannten MZaug. lium (gaZg.na — Sprache, lium — um¬
drehen) zu berichten wußte. Umgekehrt können wir die krankhafte Befolgung
unsers Gesetzes bei geisteskranken Menschen beobachten, die die Gebilde der
Sprache unter Zwang umlagern müssen, und hier, wo die Psychologie, in
deren Bereich unser Gesetz fällt, zur Psychiatrie wird, erkennen wir am klarsten,
wo die Ursachen unsers Gesetzes liegen, nämlich im menschlichen Gehirn,
d. h. in dem Teile des Gehirns, der der Sitz des Sprechvermögens ist.
Deshalb unterliegt der Mensch diesem Gesetz, das in seiner Natur begründet
ist, willenlos, und so ist die Sprache ihrem innersten Wesen nach ein Natur¬
produkt, das nicht etwa wie Kultur, Sitte, Geschichte der Wille des Menschen
geschaffen hat. Die letzten Gründe aller Spracherscheinungen müssen doch
auch ganz natürlich im menschlichen Sprachzentrum liegen, hier enthüllt sich
uns das Geheimnis, wie die Natur aus der verschwindend kleinen Anzahl
von Lauten den unermeßlichen Gestaltenreichtum der Sprache durch Variierung
der einzelnen Sprachwurzeln geschaffen hat. Wäre es anders gewesen, wäre
jede Form mit ganz speziellen Bedeutungsinhalt für sich gebildet worden,
dann wäre die Entstehung der Sprache, wie es nach der Auffassung der bis¬
herigen Wissenschaft allerdings erscheinen muß, kein Naturprozeß, sondern eine
zufällige, willkürliche Erscheinung, ein „Wunder", das wir also uicht begreifen
könnten. Damit hörte alles tiefere Forschen auf diesem Gebiete aus, da jede
Sprachform gleichsam für sich in der Luft hinge, und wir von vornherein
auf die Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge verzichten müßten. Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/324>, abgerufen am 24.07.2024.