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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Sprache in ihrem Haturzusammenhange

hängen gemacht haben, ein Verfahren, das zu den größten Ungereimtheiten
führen muß, und alle unsre etymologischen Wörterbücher sind von der ersten
bis zur letzten Seite ein sprechender Beweis für diese Tatsache. Da soll
unser Meer (lateinisch mar-s) mit dem zufällig gleichklingenden lateinischen
inor-i (sterben), der gute Mond (griechisch inen) mit dem lateinischen mot-iri
(messen) zusammenhängen, also ursprünglich "Zeitmesser" bedeuten, unser Wort
Tochter, das im Altindischen and-nar lautet, soll wegen des gleichlautenden
altindischen aut (melken) ursprünglich "die Melkerin" bedeuten oder gar unser
Schiebe wegen des rein zufälligen Gleichklangs einer Herkunft mit dem alt¬
hochdeutscher Worte slßo (stumpf) sein und "die die Zähne stumpf machende
Frucht" bedeuten! Ja, wäre es so, dann herrschte blinde Unvernunft in der
Sprache, und alles ernste Forschen hörte hier auf, und doch werden jene und
noch ganz andre Etymologien alles Ernstes sogar auf Philologenversammlungen
als wissenschaftliche Wahrheit noch heute vorgetragen. Nein, auch in der
Sprache herrscht wie sonst in der Natur Vernunft und tiefe Gesetzmäßigkeit.
Ihr ist eben von Haus aus jede spezielle Begriffsbezeichnung fremd, wie ich
diese neue fundamentale Erkenntnis den Lesern dieser Zeitschrift auch wieder
an den Flußnamen zu besonders sinnlicher Anschauung bringen konnte. Wie
hier den Bezeichnungen der Flüsse Wurzeln mit dem Allgemeinbegriff "fließen"
zugrundeliegen, die Namen der Flüsse also ihrer Natur nach nichts andres
bedeuten, als was diese sind, nämlich "Fluß", so ist es überall in der Sprache,
deren psychisches Lebensprinzip im Generellen besteht. Erst mit der fort¬
schreitenden Kultur verwendet der Träger der Sprache, der Mensch, ihren
Formenreichtum dazu, mit seiner Hilfe die einzelnen Vertreter der Gattung
als bestimmte Individuen voneinander abzuheben. Die Entstehung der Wort¬
form selbst in physischer wie psychischer Beziehung ist ein vom menschlichen
Willen unabhängiger Naturprozeß, ihre individuelle Verwendung dagegen ist
Sache der Konvention.

Wie die Sprache nach ihrer Entstehung ein Naturprodukt ist, so ist die
Sprachwissenschaft, insofern sie ihre Entstehung oder Schöpfung zu begreifen
sucht, eine Naturwissenschaft und nicht, wie die meisten der heute lebenden
Sprachforscher meinen, eine Kulturwissenschaft, gleichbedeutend mit Sprach¬
geschichte. Wir berühren damit die Frage, wie sich Geschichts- und Natur¬
wissenschaften grundsätzlich unterscheiden, und mit den Philosophen Windelband
und Rickert wie dem Historiker Eduard Meyer können wir den Unterschied
kurz dahin zusammenfassen: die Naturwissenschaft sucht überall das Allgemeine,
das Gleichbleibende und darum das Gesetz in den Erscheinungen, die Ge¬
schichte umgekehrt hat dieses bestimmte Volk oder Individuum, also das Be¬
sondre zu ihrem Gegenstande. Wenden wir diesen wesentlichen Unterschied
auf die Sprache an, so folgt ohne weiteres, daß alle Sprachwissenschaft,
der es. gelingt, Gesetze festzustellen, die unabhängig vou Raum und Zeit die
Sprachen aller Völker und Zeiten durchziehen, Gesetzes- d. h. eben Natur-


Die Sprache in ihrem Haturzusammenhange

hängen gemacht haben, ein Verfahren, das zu den größten Ungereimtheiten
führen muß, und alle unsre etymologischen Wörterbücher sind von der ersten
bis zur letzten Seite ein sprechender Beweis für diese Tatsache. Da soll
unser Meer (lateinisch mar-s) mit dem zufällig gleichklingenden lateinischen
inor-i (sterben), der gute Mond (griechisch inen) mit dem lateinischen mot-iri
(messen) zusammenhängen, also ursprünglich „Zeitmesser" bedeuten, unser Wort
Tochter, das im Altindischen and-nar lautet, soll wegen des gleichlautenden
altindischen aut (melken) ursprünglich „die Melkerin" bedeuten oder gar unser
Schiebe wegen des rein zufälligen Gleichklangs einer Herkunft mit dem alt¬
hochdeutscher Worte slßo (stumpf) sein und „die die Zähne stumpf machende
Frucht" bedeuten! Ja, wäre es so, dann herrschte blinde Unvernunft in der
Sprache, und alles ernste Forschen hörte hier auf, und doch werden jene und
noch ganz andre Etymologien alles Ernstes sogar auf Philologenversammlungen
als wissenschaftliche Wahrheit noch heute vorgetragen. Nein, auch in der
Sprache herrscht wie sonst in der Natur Vernunft und tiefe Gesetzmäßigkeit.
Ihr ist eben von Haus aus jede spezielle Begriffsbezeichnung fremd, wie ich
diese neue fundamentale Erkenntnis den Lesern dieser Zeitschrift auch wieder
an den Flußnamen zu besonders sinnlicher Anschauung bringen konnte. Wie
hier den Bezeichnungen der Flüsse Wurzeln mit dem Allgemeinbegriff „fließen"
zugrundeliegen, die Namen der Flüsse also ihrer Natur nach nichts andres
bedeuten, als was diese sind, nämlich „Fluß", so ist es überall in der Sprache,
deren psychisches Lebensprinzip im Generellen besteht. Erst mit der fort¬
schreitenden Kultur verwendet der Träger der Sprache, der Mensch, ihren
Formenreichtum dazu, mit seiner Hilfe die einzelnen Vertreter der Gattung
als bestimmte Individuen voneinander abzuheben. Die Entstehung der Wort¬
form selbst in physischer wie psychischer Beziehung ist ein vom menschlichen
Willen unabhängiger Naturprozeß, ihre individuelle Verwendung dagegen ist
Sache der Konvention.

Wie die Sprache nach ihrer Entstehung ein Naturprodukt ist, so ist die
Sprachwissenschaft, insofern sie ihre Entstehung oder Schöpfung zu begreifen
sucht, eine Naturwissenschaft und nicht, wie die meisten der heute lebenden
Sprachforscher meinen, eine Kulturwissenschaft, gleichbedeutend mit Sprach¬
geschichte. Wir berühren damit die Frage, wie sich Geschichts- und Natur¬
wissenschaften grundsätzlich unterscheiden, und mit den Philosophen Windelband
und Rickert wie dem Historiker Eduard Meyer können wir den Unterschied
kurz dahin zusammenfassen: die Naturwissenschaft sucht überall das Allgemeine,
das Gleichbleibende und darum das Gesetz in den Erscheinungen, die Ge¬
schichte umgekehrt hat dieses bestimmte Volk oder Individuum, also das Be¬
sondre zu ihrem Gegenstande. Wenden wir diesen wesentlichen Unterschied
auf die Sprache an, so folgt ohne weiteres, daß alle Sprachwissenschaft,
der es. gelingt, Gesetze festzustellen, die unabhängig vou Raum und Zeit die
Sprachen aller Völker und Zeiten durchziehen, Gesetzes- d. h. eben Natur-


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[0323] Die Sprache in ihrem Haturzusammenhange hängen gemacht haben, ein Verfahren, das zu den größten Ungereimtheiten führen muß, und alle unsre etymologischen Wörterbücher sind von der ersten bis zur letzten Seite ein sprechender Beweis für diese Tatsache. Da soll unser Meer (lateinisch mar-s) mit dem zufällig gleichklingenden lateinischen inor-i (sterben), der gute Mond (griechisch inen) mit dem lateinischen mot-iri (messen) zusammenhängen, also ursprünglich „Zeitmesser" bedeuten, unser Wort Tochter, das im Altindischen and-nar lautet, soll wegen des gleichlautenden altindischen aut (melken) ursprünglich „die Melkerin" bedeuten oder gar unser Schiebe wegen des rein zufälligen Gleichklangs einer Herkunft mit dem alt¬ hochdeutscher Worte slßo (stumpf) sein und „die die Zähne stumpf machende Frucht" bedeuten! Ja, wäre es so, dann herrschte blinde Unvernunft in der Sprache, und alles ernste Forschen hörte hier auf, und doch werden jene und noch ganz andre Etymologien alles Ernstes sogar auf Philologenversammlungen als wissenschaftliche Wahrheit noch heute vorgetragen. Nein, auch in der Sprache herrscht wie sonst in der Natur Vernunft und tiefe Gesetzmäßigkeit. Ihr ist eben von Haus aus jede spezielle Begriffsbezeichnung fremd, wie ich diese neue fundamentale Erkenntnis den Lesern dieser Zeitschrift auch wieder an den Flußnamen zu besonders sinnlicher Anschauung bringen konnte. Wie hier den Bezeichnungen der Flüsse Wurzeln mit dem Allgemeinbegriff „fließen" zugrundeliegen, die Namen der Flüsse also ihrer Natur nach nichts andres bedeuten, als was diese sind, nämlich „Fluß", so ist es überall in der Sprache, deren psychisches Lebensprinzip im Generellen besteht. Erst mit der fort¬ schreitenden Kultur verwendet der Träger der Sprache, der Mensch, ihren Formenreichtum dazu, mit seiner Hilfe die einzelnen Vertreter der Gattung als bestimmte Individuen voneinander abzuheben. Die Entstehung der Wort¬ form selbst in physischer wie psychischer Beziehung ist ein vom menschlichen Willen unabhängiger Naturprozeß, ihre individuelle Verwendung dagegen ist Sache der Konvention. Wie die Sprache nach ihrer Entstehung ein Naturprodukt ist, so ist die Sprachwissenschaft, insofern sie ihre Entstehung oder Schöpfung zu begreifen sucht, eine Naturwissenschaft und nicht, wie die meisten der heute lebenden Sprachforscher meinen, eine Kulturwissenschaft, gleichbedeutend mit Sprach¬ geschichte. Wir berühren damit die Frage, wie sich Geschichts- und Natur¬ wissenschaften grundsätzlich unterscheiden, und mit den Philosophen Windelband und Rickert wie dem Historiker Eduard Meyer können wir den Unterschied kurz dahin zusammenfassen: die Naturwissenschaft sucht überall das Allgemeine, das Gleichbleibende und darum das Gesetz in den Erscheinungen, die Ge¬ schichte umgekehrt hat dieses bestimmte Volk oder Individuum, also das Be¬ sondre zu ihrem Gegenstande. Wenden wir diesen wesentlichen Unterschied auf die Sprache an, so folgt ohne weiteres, daß alle Sprachwissenschaft, der es. gelingt, Gesetze festzustellen, die unabhängig vou Raum und Zeit die Sprachen aller Völker und Zeiten durchziehen, Gesetzes- d. h. eben Natur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/323>, abgerufen am 24.07.2024.