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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Tatsachen jedoch widersprechen dieser Auffassung, genau so wie auf biologischen
Gebiete die früher von den meisten Naturforschem vertretne Ansicht, jede
einzelne Art sei für sich erschaffen worden, seit Darwin unhaltbar geworden
ist, weil sie ebenfalls im Widerspruch zu den Tatsachen steht. Auch darin ist
die Sprache der übrigen Natur gleich: sie ist einheitlich und in dieser Ein¬
heitlichkeit unendlich einfach, aber andrerseits zeigt sie wieder in ihren Gebilden
die vielverschlungenste Mannigfaltigkeit. In ihr eben das einheitliche Gesetz
zu erkennen, ist die höchste Tat aller wissenschaftlichen Forschung.

Aus diesem einen Gedanken heraus sind die neuen Sprachforschungen
geboren, in ihm gipfeln sie auch wieder. Es ist derselbe große Gedanke, der
die ganze wissenschaftliche Lebensarbeit eines Goethe vom Anfang bis zum
Schluß beherrscht. Schon der Dreißigjährige, mit leidenschaftlich glühender
Liebe an die allmächtige Göttin Natur Hingegebne läßt in jener herrlichen
Rhapsodie "Die Natur" immer wieder wie einen wunderbaren Akkord diesen
einen Gedanken der Einheit in der Vielheit der Erscheinungen durchklingen,
der dann später abgeklärter den Grundton der Gedichtreihe "Gott und Welt"
bildet. Diese eine, aus Goethes innerstem Wesen hervorgehende Idee führt
den Mann mit erneuter Begeisterung zu seinem Lieblingsphilosophen Spinoza
zurück, bei dem fast ein Jahrzehnt vorher schon der Jüngling frische Nahrung
und neues Blut für seine nach Klarheit ringende Welt- und Naturanschauung
gesucht hatte, und die Differenzierung des einen Gottes, wie er sich in tausend
mannigfaltigen Erscheinungen offenbart, fesselt ihn jetzt mit um so größerer
Gewalt. Diese eine Idee treibt ihn nun mit Allgewalt zu botanischen Studien,
sein klares Auge sieht das Problem von der Entstehung der Arten, und der
Darwinsche Entwicklungsgedanke, der sich erst um die Mitte des folgenden
Jahrhunderts mühsam durchringt, ist ihm, der überall durch die verwirrende
Fülle der Erscheinungen hindurch zu dem sie beherrschenden einheitlichen Ge¬
setze vorzudringen sucht, unumstößliche Gewißheit, die er beglückt in der
"Metamorphose der Pflanzen" zu vollendetem dichterischem Ausdrucke bringt.
Von der Analyse, von der jede Wissenschaft ihrem Wesen nach ausgehn muß,
erhebt sich ein solches wissenschaftliches Denken zur Synthese. Jene Art
bleibt subaltern, sie trennt die Erscheinungen, die ihrer Natur nach zusammen¬
gehören; diese ist die höhere, sie verbindet die Dinge durch die Erkenntnis
des sie einheitlich beherrschenden Gesetzes. Auf dem Gebiete der Botanik
stellen Goethe und sein großer Lehrmeister Linne diesen Gegensatz dar; denn
wie es so häufig geschieht, hat mit der Zeit gerade der sich allmählich zu
dem Meister entwickelnde Gegensatz auf den Jünger befruchtend gewirkt. Was
Goethe mächtig zu Linne hinzog, das war seine Lehre von der Kontinuität
der organischen Wesen, die Lehre, daß die nennr keine Sprünge mache.
Wenn aber der scharf scheidende Klassifikator seiner Wissenschaft dem Gedanken,
daß die von ihm streng getrennten Arten im Grunde auf einen gemeinsamen
Ursprung zurückgehn könnten, leidenschaftlich widersprach, so erschien dem'


Grenzboten IV 1909 41

Tatsachen jedoch widersprechen dieser Auffassung, genau so wie auf biologischen
Gebiete die früher von den meisten Naturforschem vertretne Ansicht, jede
einzelne Art sei für sich erschaffen worden, seit Darwin unhaltbar geworden
ist, weil sie ebenfalls im Widerspruch zu den Tatsachen steht. Auch darin ist
die Sprache der übrigen Natur gleich: sie ist einheitlich und in dieser Ein¬
heitlichkeit unendlich einfach, aber andrerseits zeigt sie wieder in ihren Gebilden
die vielverschlungenste Mannigfaltigkeit. In ihr eben das einheitliche Gesetz
zu erkennen, ist die höchste Tat aller wissenschaftlichen Forschung.

Aus diesem einen Gedanken heraus sind die neuen Sprachforschungen
geboren, in ihm gipfeln sie auch wieder. Es ist derselbe große Gedanke, der
die ganze wissenschaftliche Lebensarbeit eines Goethe vom Anfang bis zum
Schluß beherrscht. Schon der Dreißigjährige, mit leidenschaftlich glühender
Liebe an die allmächtige Göttin Natur Hingegebne läßt in jener herrlichen
Rhapsodie „Die Natur" immer wieder wie einen wunderbaren Akkord diesen
einen Gedanken der Einheit in der Vielheit der Erscheinungen durchklingen,
der dann später abgeklärter den Grundton der Gedichtreihe „Gott und Welt"
bildet. Diese eine, aus Goethes innerstem Wesen hervorgehende Idee führt
den Mann mit erneuter Begeisterung zu seinem Lieblingsphilosophen Spinoza
zurück, bei dem fast ein Jahrzehnt vorher schon der Jüngling frische Nahrung
und neues Blut für seine nach Klarheit ringende Welt- und Naturanschauung
gesucht hatte, und die Differenzierung des einen Gottes, wie er sich in tausend
mannigfaltigen Erscheinungen offenbart, fesselt ihn jetzt mit um so größerer
Gewalt. Diese eine Idee treibt ihn nun mit Allgewalt zu botanischen Studien,
sein klares Auge sieht das Problem von der Entstehung der Arten, und der
Darwinsche Entwicklungsgedanke, der sich erst um die Mitte des folgenden
Jahrhunderts mühsam durchringt, ist ihm, der überall durch die verwirrende
Fülle der Erscheinungen hindurch zu dem sie beherrschenden einheitlichen Ge¬
setze vorzudringen sucht, unumstößliche Gewißheit, die er beglückt in der
„Metamorphose der Pflanzen" zu vollendetem dichterischem Ausdrucke bringt.
Von der Analyse, von der jede Wissenschaft ihrem Wesen nach ausgehn muß,
erhebt sich ein solches wissenschaftliches Denken zur Synthese. Jene Art
bleibt subaltern, sie trennt die Erscheinungen, die ihrer Natur nach zusammen¬
gehören; diese ist die höhere, sie verbindet die Dinge durch die Erkenntnis
des sie einheitlich beherrschenden Gesetzes. Auf dem Gebiete der Botanik
stellen Goethe und sein großer Lehrmeister Linne diesen Gegensatz dar; denn
wie es so häufig geschieht, hat mit der Zeit gerade der sich allmählich zu
dem Meister entwickelnde Gegensatz auf den Jünger befruchtend gewirkt. Was
Goethe mächtig zu Linne hinzog, das war seine Lehre von der Kontinuität
der organischen Wesen, die Lehre, daß die nennr keine Sprünge mache.
Wenn aber der scharf scheidende Klassifikator seiner Wissenschaft dem Gedanken,
daß die von ihm streng getrennten Arten im Grunde auf einen gemeinsamen
Ursprung zurückgehn könnten, leidenschaftlich widersprach, so erschien dem'


Grenzboten IV 1909 41
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[0325] Tatsachen jedoch widersprechen dieser Auffassung, genau so wie auf biologischen Gebiete die früher von den meisten Naturforschem vertretne Ansicht, jede einzelne Art sei für sich erschaffen worden, seit Darwin unhaltbar geworden ist, weil sie ebenfalls im Widerspruch zu den Tatsachen steht. Auch darin ist die Sprache der übrigen Natur gleich: sie ist einheitlich und in dieser Ein¬ heitlichkeit unendlich einfach, aber andrerseits zeigt sie wieder in ihren Gebilden die vielverschlungenste Mannigfaltigkeit. In ihr eben das einheitliche Gesetz zu erkennen, ist die höchste Tat aller wissenschaftlichen Forschung. Aus diesem einen Gedanken heraus sind die neuen Sprachforschungen geboren, in ihm gipfeln sie auch wieder. Es ist derselbe große Gedanke, der die ganze wissenschaftliche Lebensarbeit eines Goethe vom Anfang bis zum Schluß beherrscht. Schon der Dreißigjährige, mit leidenschaftlich glühender Liebe an die allmächtige Göttin Natur Hingegebne läßt in jener herrlichen Rhapsodie „Die Natur" immer wieder wie einen wunderbaren Akkord diesen einen Gedanken der Einheit in der Vielheit der Erscheinungen durchklingen, der dann später abgeklärter den Grundton der Gedichtreihe „Gott und Welt" bildet. Diese eine, aus Goethes innerstem Wesen hervorgehende Idee führt den Mann mit erneuter Begeisterung zu seinem Lieblingsphilosophen Spinoza zurück, bei dem fast ein Jahrzehnt vorher schon der Jüngling frische Nahrung und neues Blut für seine nach Klarheit ringende Welt- und Naturanschauung gesucht hatte, und die Differenzierung des einen Gottes, wie er sich in tausend mannigfaltigen Erscheinungen offenbart, fesselt ihn jetzt mit um so größerer Gewalt. Diese eine Idee treibt ihn nun mit Allgewalt zu botanischen Studien, sein klares Auge sieht das Problem von der Entstehung der Arten, und der Darwinsche Entwicklungsgedanke, der sich erst um die Mitte des folgenden Jahrhunderts mühsam durchringt, ist ihm, der überall durch die verwirrende Fülle der Erscheinungen hindurch zu dem sie beherrschenden einheitlichen Ge¬ setze vorzudringen sucht, unumstößliche Gewißheit, die er beglückt in der „Metamorphose der Pflanzen" zu vollendetem dichterischem Ausdrucke bringt. Von der Analyse, von der jede Wissenschaft ihrem Wesen nach ausgehn muß, erhebt sich ein solches wissenschaftliches Denken zur Synthese. Jene Art bleibt subaltern, sie trennt die Erscheinungen, die ihrer Natur nach zusammen¬ gehören; diese ist die höhere, sie verbindet die Dinge durch die Erkenntnis des sie einheitlich beherrschenden Gesetzes. Auf dem Gebiete der Botanik stellen Goethe und sein großer Lehrmeister Linne diesen Gegensatz dar; denn wie es so häufig geschieht, hat mit der Zeit gerade der sich allmählich zu dem Meister entwickelnde Gegensatz auf den Jünger befruchtend gewirkt. Was Goethe mächtig zu Linne hinzog, das war seine Lehre von der Kontinuität der organischen Wesen, die Lehre, daß die nennr keine Sprünge mache. Wenn aber der scharf scheidende Klassifikator seiner Wissenschaft dem Gedanken, daß die von ihm streng getrennten Arten im Grunde auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehn könnten, leidenschaftlich widersprach, so erschien dem' Grenzboten IV 1909 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/325>, abgerufen am 24.07.2024.