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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Modernisierung Chinas

Bei solchen Anschauungen waren weitere Zusammenstöße unausbleiblich.
Zunächst kamen nach dem Frieden von Peking freilich mehr als drei Jahrzehnte
ziemlichen Stillebens. Der Handel in den Vertragshäfen blühte auf, aber von
durchgreifenden Reformen für das ganze Land wollte man noch nicht viel
wissen. Doch ist die Einführung des Telegraphen im ganzen Reiche, die in
die achtziger Jahre fiel und hauptsächlich Li Hung-tschang zu verdanken war,
zu erwähnen.

Erst der Krieg mit Japan brachte eine weitere, für jedermann überraschend
kommende Erschütterung. Bald nach dessen Beendigung wollte es der Kaiser
Kuanghsii, dem seine Tante und Pflegemutter, die verstorbne Kaiserin-Witwe,
die Zügel der Regierung übergeben hatte, mit allerhand Reformen versuchen.
So wohlgemeint diese anch sein mochten, so waren sie wohl ziemlich überstürzt
und jedenfalls durchaus nicht nach dem Geschmacke der Kaiserin-Witwe. Sie
trat deshalb wieder aus ihrer Zurückhaltung hervor und widerrief sofort sämtliche
Reformerlasse des Kaisers, der fortan nur noch ihr Gefangner war.

Dieser Staatsstreich der Kaiserin-Witwe fand im Jahre 1898 statt. Ob¬
gleich er deutlich genug anzeigte, daß der Kurs des Staatsschiffs zunächst wieder
rückwärts gehn sollte, ließ sich trotzdem ein so grimmiger fremdenfeindlicher
Ausbruch, wie ihn der Sommer 1900 während der Boxerzeit brachte, nicht
voraussehn. Man hat sich seitdem oft gefragt, was wohl der Hauptgrund für
das unkluge Verhalten der Pekinger Regierung in dieser Zeit gewesen sein möge.
Die Erklärung scheint darin zu liegen, daß die fremde Presse in Ostasien,
besonders die englische, damals fortwährend ganz ungescheut von einer bevor¬
stehenden Aufteilung des chinesischen Reichs sprach. In Peking muß man
schließlich fest daran geglaubt haben, bei den fremden Mächten bestünde tat¬
sächlich eine so schlimme Absicht. Daß die größte Gefahr da war, eine Ver¬
bindung mit den Boxern könnte gerade das herbeiführen, was man zu verhüten
wünschte, wurde übersehn. Offenbar hielt sich die Pekinger Regierung ohne eine
derartige Begünstigung der Boxer von vornherein für verloren, und sie erblickte
hierin ein letztes Mittel der Rettung für sich selbst.

Als sich die Aufregung dieser schwülen Zeit etwas gelegt hatte und wieder
leidliche Ruhe eingetreten war, mußte die chinesische Negierung erkennen, daß
die fremden Mächte niemals eine Aufteilung des Reichs beabsichtigt hatten und
auch jetzt noch nicht daran dachten. Trotzdem ist es fraglich, ob man nun die
Gedanken der Modernisierung nachdrücklich aufgenommen hätte, wenn nicht
bald eine abermalige starke Erschütterung gefolgt wäre, nämlich der russisch¬
japanische Krieg. Das im höchsten Grade demütigende Bewußtsein, ein so langer
und erbitterter Kampf werde ganz auf dem Boden des eignen Landes aus¬
gefochten, hat jedenfalls mehr als alles andre dazu beigetragen, der Pekinger
Regierung und überhaupt jedem denkenden Chinesen die Augen darüber zu
öffnen, wie schwach ihr Reich doch sein müsse, wenn so etwas möglich sein
konnte. Sobald aber eine solche Einsicht einmal durchbrach, mußte dadurch der
Boden für Reformen geebnet werden.


Die Modernisierung Chinas

Bei solchen Anschauungen waren weitere Zusammenstöße unausbleiblich.
Zunächst kamen nach dem Frieden von Peking freilich mehr als drei Jahrzehnte
ziemlichen Stillebens. Der Handel in den Vertragshäfen blühte auf, aber von
durchgreifenden Reformen für das ganze Land wollte man noch nicht viel
wissen. Doch ist die Einführung des Telegraphen im ganzen Reiche, die in
die achtziger Jahre fiel und hauptsächlich Li Hung-tschang zu verdanken war,
zu erwähnen.

Erst der Krieg mit Japan brachte eine weitere, für jedermann überraschend
kommende Erschütterung. Bald nach dessen Beendigung wollte es der Kaiser
Kuanghsii, dem seine Tante und Pflegemutter, die verstorbne Kaiserin-Witwe,
die Zügel der Regierung übergeben hatte, mit allerhand Reformen versuchen.
So wohlgemeint diese anch sein mochten, so waren sie wohl ziemlich überstürzt
und jedenfalls durchaus nicht nach dem Geschmacke der Kaiserin-Witwe. Sie
trat deshalb wieder aus ihrer Zurückhaltung hervor und widerrief sofort sämtliche
Reformerlasse des Kaisers, der fortan nur noch ihr Gefangner war.

Dieser Staatsstreich der Kaiserin-Witwe fand im Jahre 1898 statt. Ob¬
gleich er deutlich genug anzeigte, daß der Kurs des Staatsschiffs zunächst wieder
rückwärts gehn sollte, ließ sich trotzdem ein so grimmiger fremdenfeindlicher
Ausbruch, wie ihn der Sommer 1900 während der Boxerzeit brachte, nicht
voraussehn. Man hat sich seitdem oft gefragt, was wohl der Hauptgrund für
das unkluge Verhalten der Pekinger Regierung in dieser Zeit gewesen sein möge.
Die Erklärung scheint darin zu liegen, daß die fremde Presse in Ostasien,
besonders die englische, damals fortwährend ganz ungescheut von einer bevor¬
stehenden Aufteilung des chinesischen Reichs sprach. In Peking muß man
schließlich fest daran geglaubt haben, bei den fremden Mächten bestünde tat¬
sächlich eine so schlimme Absicht. Daß die größte Gefahr da war, eine Ver¬
bindung mit den Boxern könnte gerade das herbeiführen, was man zu verhüten
wünschte, wurde übersehn. Offenbar hielt sich die Pekinger Regierung ohne eine
derartige Begünstigung der Boxer von vornherein für verloren, und sie erblickte
hierin ein letztes Mittel der Rettung für sich selbst.

Als sich die Aufregung dieser schwülen Zeit etwas gelegt hatte und wieder
leidliche Ruhe eingetreten war, mußte die chinesische Negierung erkennen, daß
die fremden Mächte niemals eine Aufteilung des Reichs beabsichtigt hatten und
auch jetzt noch nicht daran dachten. Trotzdem ist es fraglich, ob man nun die
Gedanken der Modernisierung nachdrücklich aufgenommen hätte, wenn nicht
bald eine abermalige starke Erschütterung gefolgt wäre, nämlich der russisch¬
japanische Krieg. Das im höchsten Grade demütigende Bewußtsein, ein so langer
und erbitterter Kampf werde ganz auf dem Boden des eignen Landes aus¬
gefochten, hat jedenfalls mehr als alles andre dazu beigetragen, der Pekinger
Regierung und überhaupt jedem denkenden Chinesen die Augen darüber zu
öffnen, wie schwach ihr Reich doch sein müsse, wenn so etwas möglich sein
konnte. Sobald aber eine solche Einsicht einmal durchbrach, mußte dadurch der
Boden für Reformen geebnet werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/15>, abgerufen am 04.07.2024.