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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Modernisierung (Lhinas
von L. Ruhstrat i

! er die Beharnmgskräfte in dem alten Reiche der Mitte zu würdigen
weiß, der wird sich nicht sehr darüber wundern, daß es immer
wiederholter, durch länger als ein halbes Jahrhundert fortgesetzter
kräftiger Anstöße von außen bedürfte, ehe sich der chinesische Koloß
! dauernd dadurch beeinflussen ließ. Vergegenwärtigen wir uns
zunächst diese Stöße in gedrängten Zügen.

Der Krieg Englands gegen China zu Anfang der vierziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts, der sogenannte Opiumkrieg, legte die erste nennenswerte
Bresche in die Mauer, mit der sich das Reich von der Außenwelt abgeschlossen
hatte. Während bis dahin der ausländische Handel nur auf den einen Hafen
von Kanton in Südchina beschränkt und überdies völlig von der Laune der
Mandarinen abhängig gewesen war, wurden durch den Frieden von Nanking
im Jahre 1842 vier weitere Häfen eröffnet, darunter vor allem Schanghai,
das sich in wenigen Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Handelsplätze der
Erde und zum ersten Ostasiens emporarbeiten sollte. An England abgetreten
wurde nur die kleine Insel Hongkong. -

Es folgte der gemeinsame Feldzug Englands und Frankreichs im
Jahre 1860, der mit der Einnahme Pekings endete. Die dort herrschende
Mandschudynastie wird sich damals jedenfalls für verloren gehalten haben, und
das um so mehr, als die furchtbare Empörung der Taipingrebellen, die einen
großen Teil von Mittel- und Südchina, besonders die blühenden Provinzen
am Jangtsekiang, die Kornkammer des Reiches, in eine Wüstenei verwandelte,
noch lange nicht bezwungen war. Welch ein Wunder nun, als die "fremden
Barbaren" eine, mit asiatischen Augen angesehn, ganz unerwartete und kaum
begreifliche Milde obwalten ließen! Sie gaben die Hauptstadt wieder heraus,
und auch sonst wurde von dem eroberten Lande nichts von ihnen behalten.
Dagegen bedangen sie sich für ihren Handel die Eröffnung einer Reihe von
weitern Vertragshäfen aus. Außerdem mußte sich die chinesische Regierung zu
ihrem Kummer dazu bequemen, ausländische Gesandte in Peking zuzulassen.
Die nicht gut wegzuleugnende Anwesenheit dieser Vertreter abendländischer
Herrscher wußte man jedoch dem Volke gegenüber bald so auszulegen, daß die
tributpflichtigen Fürsten den Sohn des Himmels um die große Gnade ersucht
hätten, dauernd bei ihm vertreten sein zu dürfen. Dies ist nicht etwa eine
Übertreibung, sondern das Volk glaubte es wirklich.




Die Modernisierung (Lhinas
von L. Ruhstrat i

! er die Beharnmgskräfte in dem alten Reiche der Mitte zu würdigen
weiß, der wird sich nicht sehr darüber wundern, daß es immer
wiederholter, durch länger als ein halbes Jahrhundert fortgesetzter
kräftiger Anstöße von außen bedürfte, ehe sich der chinesische Koloß
! dauernd dadurch beeinflussen ließ. Vergegenwärtigen wir uns
zunächst diese Stöße in gedrängten Zügen.

Der Krieg Englands gegen China zu Anfang der vierziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts, der sogenannte Opiumkrieg, legte die erste nennenswerte
Bresche in die Mauer, mit der sich das Reich von der Außenwelt abgeschlossen
hatte. Während bis dahin der ausländische Handel nur auf den einen Hafen
von Kanton in Südchina beschränkt und überdies völlig von der Laune der
Mandarinen abhängig gewesen war, wurden durch den Frieden von Nanking
im Jahre 1842 vier weitere Häfen eröffnet, darunter vor allem Schanghai,
das sich in wenigen Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Handelsplätze der
Erde und zum ersten Ostasiens emporarbeiten sollte. An England abgetreten
wurde nur die kleine Insel Hongkong. -

Es folgte der gemeinsame Feldzug Englands und Frankreichs im
Jahre 1860, der mit der Einnahme Pekings endete. Die dort herrschende
Mandschudynastie wird sich damals jedenfalls für verloren gehalten haben, und
das um so mehr, als die furchtbare Empörung der Taipingrebellen, die einen
großen Teil von Mittel- und Südchina, besonders die blühenden Provinzen
am Jangtsekiang, die Kornkammer des Reiches, in eine Wüstenei verwandelte,
noch lange nicht bezwungen war. Welch ein Wunder nun, als die „fremden
Barbaren" eine, mit asiatischen Augen angesehn, ganz unerwartete und kaum
begreifliche Milde obwalten ließen! Sie gaben die Hauptstadt wieder heraus,
und auch sonst wurde von dem eroberten Lande nichts von ihnen behalten.
Dagegen bedangen sie sich für ihren Handel die Eröffnung einer Reihe von
weitern Vertragshäfen aus. Außerdem mußte sich die chinesische Regierung zu
ihrem Kummer dazu bequemen, ausländische Gesandte in Peking zuzulassen.
Die nicht gut wegzuleugnende Anwesenheit dieser Vertreter abendländischer
Herrscher wußte man jedoch dem Volke gegenüber bald so auszulegen, daß die
tributpflichtigen Fürsten den Sohn des Himmels um die große Gnade ersucht
hätten, dauernd bei ihm vertreten sein zu dürfen. Dies ist nicht etwa eine
Übertreibung, sondern das Volk glaubte es wirklich.


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[0014] [Abbildung] Die Modernisierung (Lhinas von L. Ruhstrat i ! er die Beharnmgskräfte in dem alten Reiche der Mitte zu würdigen weiß, der wird sich nicht sehr darüber wundern, daß es immer wiederholter, durch länger als ein halbes Jahrhundert fortgesetzter kräftiger Anstöße von außen bedürfte, ehe sich der chinesische Koloß ! dauernd dadurch beeinflussen ließ. Vergegenwärtigen wir uns zunächst diese Stöße in gedrängten Zügen. Der Krieg Englands gegen China zu Anfang der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der sogenannte Opiumkrieg, legte die erste nennenswerte Bresche in die Mauer, mit der sich das Reich von der Außenwelt abgeschlossen hatte. Während bis dahin der ausländische Handel nur auf den einen Hafen von Kanton in Südchina beschränkt und überdies völlig von der Laune der Mandarinen abhängig gewesen war, wurden durch den Frieden von Nanking im Jahre 1842 vier weitere Häfen eröffnet, darunter vor allem Schanghai, das sich in wenigen Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Handelsplätze der Erde und zum ersten Ostasiens emporarbeiten sollte. An England abgetreten wurde nur die kleine Insel Hongkong. - Es folgte der gemeinsame Feldzug Englands und Frankreichs im Jahre 1860, der mit der Einnahme Pekings endete. Die dort herrschende Mandschudynastie wird sich damals jedenfalls für verloren gehalten haben, und das um so mehr, als die furchtbare Empörung der Taipingrebellen, die einen großen Teil von Mittel- und Südchina, besonders die blühenden Provinzen am Jangtsekiang, die Kornkammer des Reiches, in eine Wüstenei verwandelte, noch lange nicht bezwungen war. Welch ein Wunder nun, als die „fremden Barbaren" eine, mit asiatischen Augen angesehn, ganz unerwartete und kaum begreifliche Milde obwalten ließen! Sie gaben die Hauptstadt wieder heraus, und auch sonst wurde von dem eroberten Lande nichts von ihnen behalten. Dagegen bedangen sie sich für ihren Handel die Eröffnung einer Reihe von weitern Vertragshäfen aus. Außerdem mußte sich die chinesische Regierung zu ihrem Kummer dazu bequemen, ausländische Gesandte in Peking zuzulassen. Die nicht gut wegzuleugnende Anwesenheit dieser Vertreter abendländischer Herrscher wußte man jedoch dem Volke gegenüber bald so auszulegen, daß die tributpflichtigen Fürsten den Sohn des Himmels um die große Gnade ersucht hätten, dauernd bei ihm vertreten sein zu dürfen. Dies ist nicht etwa eine Übertreibung, sondern das Volk glaubte es wirklich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/14>, abgerufen am 04.07.2024.