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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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seelischen Erregungen, Gefühlen, Bestrebungen, von Freud und Leid verbunden
und trägt damit eine Fülle von Idealitäten an sich, die bei den Beziehungen,
die sich um die Fortpflanzung herumlagern, zur herrlichsten Entwicklung ge¬
langen können. Jede Behandlung der Fortpflanzungseinrichtungen, die diese
Beziehungen nicht hegt und fördert, ist verfehlt und für die Menschheit er¬
niedrigend. Es ist deswegen nichts empörender, als wenn das Naturrecht des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Ehe in der Art eines Züchtungs¬
instituts behandelte." Gegenwärtig geschieht das doch noch weit allgemeiner,
unter der Führung allerdings nicht der Juristen, sondern der Biologen. Eine
Ansicht Kants über den Gegenstand, die ich erst aus der Mitteilung Kohlers
kennen lerne, und die sich hier nicht wiedergeben läßt, wird eine noch scheu߬
lichere Roheit genannt. Der heute vorwiegenden Meinung gemäß läßt Kohler
das Familienleben mit der Grnppenehe beginnen. Die Polygamie in den
Ländern des Islam erklärt er mit allen Vernünftigen für ein Hindernis des
Fortschritts, denn es sei "ein Grundschaden der Menschheit, wenn ihr die
durchgeistigte Kulturarbeit des Weibes fehlt". Die absolute Unlöslichkeit der
Ehe hält er für eine Übertreibung; daß in Fällen, wo der Zweck der Ehe
nicht erreicht wird, vielmehr aus dem Zusammenleben der unglücklich Ver¬
heirateten nnr Qual und Verderben entspringen, das Band gelöst werden könne,
sei ein dringendes Kulturbedürfnis. Das Ehehindernis der Verwandtschaft
ist nach ihm eine eingeschränkte Anwendung des vom gesunden Instinkt ein-
gegebncn Grundsatzes der Exogamie, das heißt des bei vielen Naturvölkern
herrschenden Gesetzes, nach dem der junge Mann die Gattin nicht aus seinem,
sondern aus einem fremden Stamme zu wählen hat. Als vernünftige Gründe
des Verbots der Ehe zwischen nahe verwandten Personen führt Kohler an:
die Besorgnis vor Entartung; wenigstens sollen die Gebrechen, mit denen eine
Familie behaftet ist, nicht durch die Verbindung von Mitgliedern dieser Familie
gehäuft und gesteigert werden. "Ein zweiter Grund liegt darin, daß sich ver-
schiedne Familien miteinander verbinden sollen, damit das Gefüge des Staates
fest und unverbrüchlich wird und nicht unter Reibungen der Geschlechter not¬
leidet." In etwas andrer Fassung hat diesen Grund schon Thomas von Aquin
ausgesprochen: Die Liebe soll sich nicht in einen engen Kreis einsperren,
sondern von Familie zu Familie, von Stamm zu Stamm hinübergreifen, die
Stämme miteinander verschlingen und so die Menschen zu einem Ganzen, zur
Menschheit, verknüpfen. "Ein dritter Grund ist ein ethischer. Es soll ver¬
hindert werden, daß sich die geschlechtliche Leidenschaft im Schoße der Familie
selbst entwickelt." Es werden dann die Entwicklung der mutterrechtlichen zur
vaterrechtlichen Ehe, die Familienerziehung und das Familienvermögen be¬
handelt. In Beziehung auf die unehelichen Kinder bezeichnet es der Autor
als einen Fortschritt des Rechts, daß jetzt wenigstens ihr Erbrecht auf das
Vermögen der Mutter anerkannt ist. Wenn sich der Vater nicht ermitteln
läßt, demnach ein Erbanspruch auf das väterliche Vermögen nicht erhoben


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seelischen Erregungen, Gefühlen, Bestrebungen, von Freud und Leid verbunden
und trägt damit eine Fülle von Idealitäten an sich, die bei den Beziehungen,
die sich um die Fortpflanzung herumlagern, zur herrlichsten Entwicklung ge¬
langen können. Jede Behandlung der Fortpflanzungseinrichtungen, die diese
Beziehungen nicht hegt und fördert, ist verfehlt und für die Menschheit er¬
niedrigend. Es ist deswegen nichts empörender, als wenn das Naturrecht des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Ehe in der Art eines Züchtungs¬
instituts behandelte." Gegenwärtig geschieht das doch noch weit allgemeiner,
unter der Führung allerdings nicht der Juristen, sondern der Biologen. Eine
Ansicht Kants über den Gegenstand, die ich erst aus der Mitteilung Kohlers
kennen lerne, und die sich hier nicht wiedergeben läßt, wird eine noch scheu߬
lichere Roheit genannt. Der heute vorwiegenden Meinung gemäß läßt Kohler
das Familienleben mit der Grnppenehe beginnen. Die Polygamie in den
Ländern des Islam erklärt er mit allen Vernünftigen für ein Hindernis des
Fortschritts, denn es sei „ein Grundschaden der Menschheit, wenn ihr die
durchgeistigte Kulturarbeit des Weibes fehlt". Die absolute Unlöslichkeit der
Ehe hält er für eine Übertreibung; daß in Fällen, wo der Zweck der Ehe
nicht erreicht wird, vielmehr aus dem Zusammenleben der unglücklich Ver¬
heirateten nnr Qual und Verderben entspringen, das Band gelöst werden könne,
sei ein dringendes Kulturbedürfnis. Das Ehehindernis der Verwandtschaft
ist nach ihm eine eingeschränkte Anwendung des vom gesunden Instinkt ein-
gegebncn Grundsatzes der Exogamie, das heißt des bei vielen Naturvölkern
herrschenden Gesetzes, nach dem der junge Mann die Gattin nicht aus seinem,
sondern aus einem fremden Stamme zu wählen hat. Als vernünftige Gründe
des Verbots der Ehe zwischen nahe verwandten Personen führt Kohler an:
die Besorgnis vor Entartung; wenigstens sollen die Gebrechen, mit denen eine
Familie behaftet ist, nicht durch die Verbindung von Mitgliedern dieser Familie
gehäuft und gesteigert werden. „Ein zweiter Grund liegt darin, daß sich ver-
schiedne Familien miteinander verbinden sollen, damit das Gefüge des Staates
fest und unverbrüchlich wird und nicht unter Reibungen der Geschlechter not¬
leidet." In etwas andrer Fassung hat diesen Grund schon Thomas von Aquin
ausgesprochen: Die Liebe soll sich nicht in einen engen Kreis einsperren,
sondern von Familie zu Familie, von Stamm zu Stamm hinübergreifen, die
Stämme miteinander verschlingen und so die Menschen zu einem Ganzen, zur
Menschheit, verknüpfen. „Ein dritter Grund ist ein ethischer. Es soll ver¬
hindert werden, daß sich die geschlechtliche Leidenschaft im Schoße der Familie
selbst entwickelt." Es werden dann die Entwicklung der mutterrechtlichen zur
vaterrechtlichen Ehe, die Familienerziehung und das Familienvermögen be¬
handelt. In Beziehung auf die unehelichen Kinder bezeichnet es der Autor
als einen Fortschritt des Rechts, daß jetzt wenigstens ihr Erbrecht auf das
Vermögen der Mutter anerkannt ist. Wenn sich der Vater nicht ermitteln
läßt, demnach ein Erbanspruch auf das väterliche Vermögen nicht erhoben


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[0603] «Line Rechtsphilosophie seelischen Erregungen, Gefühlen, Bestrebungen, von Freud und Leid verbunden und trägt damit eine Fülle von Idealitäten an sich, die bei den Beziehungen, die sich um die Fortpflanzung herumlagern, zur herrlichsten Entwicklung ge¬ langen können. Jede Behandlung der Fortpflanzungseinrichtungen, die diese Beziehungen nicht hegt und fördert, ist verfehlt und für die Menschheit er¬ niedrigend. Es ist deswegen nichts empörender, als wenn das Naturrecht des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Ehe in der Art eines Züchtungs¬ instituts behandelte." Gegenwärtig geschieht das doch noch weit allgemeiner, unter der Führung allerdings nicht der Juristen, sondern der Biologen. Eine Ansicht Kants über den Gegenstand, die ich erst aus der Mitteilung Kohlers kennen lerne, und die sich hier nicht wiedergeben läßt, wird eine noch scheu߬ lichere Roheit genannt. Der heute vorwiegenden Meinung gemäß läßt Kohler das Familienleben mit der Grnppenehe beginnen. Die Polygamie in den Ländern des Islam erklärt er mit allen Vernünftigen für ein Hindernis des Fortschritts, denn es sei „ein Grundschaden der Menschheit, wenn ihr die durchgeistigte Kulturarbeit des Weibes fehlt". Die absolute Unlöslichkeit der Ehe hält er für eine Übertreibung; daß in Fällen, wo der Zweck der Ehe nicht erreicht wird, vielmehr aus dem Zusammenleben der unglücklich Ver¬ heirateten nnr Qual und Verderben entspringen, das Band gelöst werden könne, sei ein dringendes Kulturbedürfnis. Das Ehehindernis der Verwandtschaft ist nach ihm eine eingeschränkte Anwendung des vom gesunden Instinkt ein- gegebncn Grundsatzes der Exogamie, das heißt des bei vielen Naturvölkern herrschenden Gesetzes, nach dem der junge Mann die Gattin nicht aus seinem, sondern aus einem fremden Stamme zu wählen hat. Als vernünftige Gründe des Verbots der Ehe zwischen nahe verwandten Personen führt Kohler an: die Besorgnis vor Entartung; wenigstens sollen die Gebrechen, mit denen eine Familie behaftet ist, nicht durch die Verbindung von Mitgliedern dieser Familie gehäuft und gesteigert werden. „Ein zweiter Grund liegt darin, daß sich ver- schiedne Familien miteinander verbinden sollen, damit das Gefüge des Staates fest und unverbrüchlich wird und nicht unter Reibungen der Geschlechter not¬ leidet." In etwas andrer Fassung hat diesen Grund schon Thomas von Aquin ausgesprochen: Die Liebe soll sich nicht in einen engen Kreis einsperren, sondern von Familie zu Familie, von Stamm zu Stamm hinübergreifen, die Stämme miteinander verschlingen und so die Menschen zu einem Ganzen, zur Menschheit, verknüpfen. „Ein dritter Grund ist ein ethischer. Es soll ver¬ hindert werden, daß sich die geschlechtliche Leidenschaft im Schoße der Familie selbst entwickelt." Es werden dann die Entwicklung der mutterrechtlichen zur vaterrechtlichen Ehe, die Familienerziehung und das Familienvermögen be¬ handelt. In Beziehung auf die unehelichen Kinder bezeichnet es der Autor als einen Fortschritt des Rechts, daß jetzt wenigstens ihr Erbrecht auf das Vermögen der Mutter anerkannt ist. Wenn sich der Vater nicht ermitteln läßt, demnach ein Erbanspruch auf das väterliche Vermögen nicht erhoben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/603>, abgerufen am 22.12.2024.