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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Line Rechtsphilosophie

In der folgenden Beschreibung der Kulturentwicklung wird zunächst des
Unlogischen (Irrationalen) gedacht, das zu überwinden eine der Aufgaben der
Entwicklung sei, und wie sich das Recht daran beteilige. Örtliche und zeitliche
Entfernung werden als solche alogische Elemente genannt. Die erste wird durch
die Verkehrstechnik, die zweite durch Einbeziehung zukünftiger Güter in den
gegenwärtigen Gebrauch, durch Zins und Diskont, überwunden, der ebenfalls
alogische Zufall durch Versicherungsanstalten. Unlogisch wird das Recht selbst
dadurch, daß es unmöglich allen feinen Unterschieden in den Bedürfnissen, die
der Kulturfortschritt erzeugt, genau entsprechen, vielmehr gewisse Verhältnisse
nur in Bausch und Bogen regeln kann. "Darum muß die Kultur hier gleichsam
in ihr eignes Fleisch schneiden und auf die Verwirklichung gewisser Erfordernisse
verzichten, um das Menschenmögliche zu erreichen. Auch hier gilt der Satz, daß
die Kunst des Lebens darin besteht, das kleinste Übel zu wählen." So, um
von Kohlers Beispielen eins anzuführen, muß angenommen werden, daß es
beim Kauf und Verkauf auf dem Markt und im Laden immer rechtschaffen
zugehe, obwohl das durchaus nicht immer der Fall ist. Zwischen das Logische
und das Unlogische läßt Kohler als verbindendes die Kausalität treten und
macht unter anderm den Unterschied von Ursache und Bedingung klar: diese
habe es nur mit Sein oder Nichtsein zu tun (etwas, ohne das ein andres nicht
da sein kann, heißt seine Bedingung), "die Verursachung dagegen mit der Art
und Weise des Erfolges". Die Ansicht, daß es keine Verursachung gebe, kein
xrovtsr too, sondern nur ein xost Koo, wird zurückgewiesen. (Ohne den Glauben
an die Verursachung konnte es ja überhaupt kein Recht, zunächst kein Straf¬
recht geben; wenn der Mörder den Tod des Ermordeten nicht verursacht hat,
so hat er ihn auch nicht verschuldet.)

Die Entwicklung der Kultur und damit auch des Rechts wird vom Seelen¬
leben der Gesamtheit, von der Volksseele und der Volksstimmung beeinflußt.
So vom religiösen Fanatismus, "der zur Unterschätzung der Erdengüter verleitet
und einen Kongregatiouismus, eine Vereinsbildung ans der Grundlage völliger
Ablösung.von allen irdischen Bestrebungen hervorruft". Auf Zeiten von starkem
Jchsinn sodann (der Verfasser verdeutscht Egoismus und Altruismus mit Jch-
sinn und Fremdsinn) folge oft ein Rückschlag in der Art, daß man sich ganz
und gar dem Wohle andrer widme, für dieses Wohl Vereine über Vereine
gründe und die Bedürftigen uicht allein unterstütze sondern verhätschele. Es
gebe sentimentale Zeiten, in denen der Mensch nur seinen Empfindungen lebe,
und rationalistische, in denen man das historisch Gewordne und jede Autorität
geringschätze und nur das für vernünftig oder verständig Erachtete bestehen
lassen wolle, eine Richtung, die zwar zeitweise notwendig sei, die aber doch
mehr zerstöre als aufbaue, weil Kulturschöpfung nur durch Fortentwicklung des
Gewordnen und Bestehenden möglich sei. Alle solche Zustände machen nun teils
das Einschreiten der Justiz und Gesetzgebung notwendig, zum Beispiel gegen
Anhäufung des Besitzes in der Toten Hand, teils ziehen sie die Rechtspflege


Line Rechtsphilosophie

In der folgenden Beschreibung der Kulturentwicklung wird zunächst des
Unlogischen (Irrationalen) gedacht, das zu überwinden eine der Aufgaben der
Entwicklung sei, und wie sich das Recht daran beteilige. Örtliche und zeitliche
Entfernung werden als solche alogische Elemente genannt. Die erste wird durch
die Verkehrstechnik, die zweite durch Einbeziehung zukünftiger Güter in den
gegenwärtigen Gebrauch, durch Zins und Diskont, überwunden, der ebenfalls
alogische Zufall durch Versicherungsanstalten. Unlogisch wird das Recht selbst
dadurch, daß es unmöglich allen feinen Unterschieden in den Bedürfnissen, die
der Kulturfortschritt erzeugt, genau entsprechen, vielmehr gewisse Verhältnisse
nur in Bausch und Bogen regeln kann. „Darum muß die Kultur hier gleichsam
in ihr eignes Fleisch schneiden und auf die Verwirklichung gewisser Erfordernisse
verzichten, um das Menschenmögliche zu erreichen. Auch hier gilt der Satz, daß
die Kunst des Lebens darin besteht, das kleinste Übel zu wählen." So, um
von Kohlers Beispielen eins anzuführen, muß angenommen werden, daß es
beim Kauf und Verkauf auf dem Markt und im Laden immer rechtschaffen
zugehe, obwohl das durchaus nicht immer der Fall ist. Zwischen das Logische
und das Unlogische läßt Kohler als verbindendes die Kausalität treten und
macht unter anderm den Unterschied von Ursache und Bedingung klar: diese
habe es nur mit Sein oder Nichtsein zu tun (etwas, ohne das ein andres nicht
da sein kann, heißt seine Bedingung), „die Verursachung dagegen mit der Art
und Weise des Erfolges". Die Ansicht, daß es keine Verursachung gebe, kein
xrovtsr too, sondern nur ein xost Koo, wird zurückgewiesen. (Ohne den Glauben
an die Verursachung konnte es ja überhaupt kein Recht, zunächst kein Straf¬
recht geben; wenn der Mörder den Tod des Ermordeten nicht verursacht hat,
so hat er ihn auch nicht verschuldet.)

Die Entwicklung der Kultur und damit auch des Rechts wird vom Seelen¬
leben der Gesamtheit, von der Volksseele und der Volksstimmung beeinflußt.
So vom religiösen Fanatismus, „der zur Unterschätzung der Erdengüter verleitet
und einen Kongregatiouismus, eine Vereinsbildung ans der Grundlage völliger
Ablösung.von allen irdischen Bestrebungen hervorruft". Auf Zeiten von starkem
Jchsinn sodann (der Verfasser verdeutscht Egoismus und Altruismus mit Jch-
sinn und Fremdsinn) folge oft ein Rückschlag in der Art, daß man sich ganz
und gar dem Wohle andrer widme, für dieses Wohl Vereine über Vereine
gründe und die Bedürftigen uicht allein unterstütze sondern verhätschele. Es
gebe sentimentale Zeiten, in denen der Mensch nur seinen Empfindungen lebe,
und rationalistische, in denen man das historisch Gewordne und jede Autorität
geringschätze und nur das für vernünftig oder verständig Erachtete bestehen
lassen wolle, eine Richtung, die zwar zeitweise notwendig sei, die aber doch
mehr zerstöre als aufbaue, weil Kulturschöpfung nur durch Fortentwicklung des
Gewordnen und Bestehenden möglich sei. Alle solche Zustände machen nun teils
das Einschreiten der Justiz und Gesetzgebung notwendig, zum Beispiel gegen
Anhäufung des Besitzes in der Toten Hand, teils ziehen sie die Rechtspflege


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[0566] Line Rechtsphilosophie In der folgenden Beschreibung der Kulturentwicklung wird zunächst des Unlogischen (Irrationalen) gedacht, das zu überwinden eine der Aufgaben der Entwicklung sei, und wie sich das Recht daran beteilige. Örtliche und zeitliche Entfernung werden als solche alogische Elemente genannt. Die erste wird durch die Verkehrstechnik, die zweite durch Einbeziehung zukünftiger Güter in den gegenwärtigen Gebrauch, durch Zins und Diskont, überwunden, der ebenfalls alogische Zufall durch Versicherungsanstalten. Unlogisch wird das Recht selbst dadurch, daß es unmöglich allen feinen Unterschieden in den Bedürfnissen, die der Kulturfortschritt erzeugt, genau entsprechen, vielmehr gewisse Verhältnisse nur in Bausch und Bogen regeln kann. „Darum muß die Kultur hier gleichsam in ihr eignes Fleisch schneiden und auf die Verwirklichung gewisser Erfordernisse verzichten, um das Menschenmögliche zu erreichen. Auch hier gilt der Satz, daß die Kunst des Lebens darin besteht, das kleinste Übel zu wählen." So, um von Kohlers Beispielen eins anzuführen, muß angenommen werden, daß es beim Kauf und Verkauf auf dem Markt und im Laden immer rechtschaffen zugehe, obwohl das durchaus nicht immer der Fall ist. Zwischen das Logische und das Unlogische läßt Kohler als verbindendes die Kausalität treten und macht unter anderm den Unterschied von Ursache und Bedingung klar: diese habe es nur mit Sein oder Nichtsein zu tun (etwas, ohne das ein andres nicht da sein kann, heißt seine Bedingung), „die Verursachung dagegen mit der Art und Weise des Erfolges". Die Ansicht, daß es keine Verursachung gebe, kein xrovtsr too, sondern nur ein xost Koo, wird zurückgewiesen. (Ohne den Glauben an die Verursachung konnte es ja überhaupt kein Recht, zunächst kein Straf¬ recht geben; wenn der Mörder den Tod des Ermordeten nicht verursacht hat, so hat er ihn auch nicht verschuldet.) Die Entwicklung der Kultur und damit auch des Rechts wird vom Seelen¬ leben der Gesamtheit, von der Volksseele und der Volksstimmung beeinflußt. So vom religiösen Fanatismus, „der zur Unterschätzung der Erdengüter verleitet und einen Kongregatiouismus, eine Vereinsbildung ans der Grundlage völliger Ablösung.von allen irdischen Bestrebungen hervorruft". Auf Zeiten von starkem Jchsinn sodann (der Verfasser verdeutscht Egoismus und Altruismus mit Jch- sinn und Fremdsinn) folge oft ein Rückschlag in der Art, daß man sich ganz und gar dem Wohle andrer widme, für dieses Wohl Vereine über Vereine gründe und die Bedürftigen uicht allein unterstütze sondern verhätschele. Es gebe sentimentale Zeiten, in denen der Mensch nur seinen Empfindungen lebe, und rationalistische, in denen man das historisch Gewordne und jede Autorität geringschätze und nur das für vernünftig oder verständig Erachtete bestehen lassen wolle, eine Richtung, die zwar zeitweise notwendig sei, die aber doch mehr zerstöre als aufbaue, weil Kulturschöpfung nur durch Fortentwicklung des Gewordnen und Bestehenden möglich sei. Alle solche Zustände machen nun teils das Einschreiten der Justiz und Gesetzgebung notwendig, zum Beispiel gegen Anhäufung des Besitzes in der Toten Hand, teils ziehen sie die Rechtspflege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/566>, abgerufen am 23.07.2024.