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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Eine Rechtsphilosophie

seinen Einzelheiten unerkennbare Jenseits mit Phantasiebildcrn ausfüllen, die
sie uns als Dogmen aufzudrängen versuchen, und indem sich die Physiker und
die Biologen nicht immer damit begnügen, den unsern Sinnen unzugänglichen
Kausalnexus zwischen den Naturerscheinungen durch die Annahme hypothetischer
Wesenheiten herzustellen, was erlaubt und für den Fortschritt der Wissenschaft
notwendig ist, sondern mitunter auch ihre Hypothesen als Dogmen lehren.
Gegen diese beiden Verirrungen hat Kant mit seiner Erkenntnistheorie einen
Damm aufgerichtet, der allerdings zu eng gezogen ist. Kohler hat wiederum
recht, wenn er die Welt als ein Ganzes auffaßt, von dem der Mensch nur ein
Teil ist, und aus dieser Ganzheit, deren Teile doch miteinander harmonieren
und füreinander abgestimmt, aneinander angepaßt sein müssen, es erklärt, daß
die Gesetze der Mathematik und das Kausalitütsgesctz, die unser Geist anzu¬
erkennen gezwungen ist, durch die Vorgänge der Natur außer uns bestätigt
werden. Aber in der Polemik gegen Kants Dualismus tut er diesem ohne
Zweifel Unrecht. Er meint nicht den Dualismus von Geist und Körper, sondern
den zwischen dem Ich und dem Nichtich, der ganzen außer dem Ich gelegnen
Welt. "Nach der Kantschen Erkenntnistheorie steht auf der einen Seite das
Subjekt ganz allein im Thcaterraum. und vor ihm breitet sich als ungeheure
Bühne die Welt aus." Zwischen beiden gebe es keine Vermittlung; die Fülle
der Erscheinungen, alle andern Menschen und den eignen Leib eingeschlossen,
seien eben nur Erscheinungen, ein Schauspiel, und was hinter diesem stecke,
bleibe uns unerforschbar und unerreichbar, sodaß das einzelne Subjekt keine
Beziehung zu ihm habe. Was Kohler hier schildert, das ist der extreme er¬
kenntnistheoretische Idealismus, der sich bis zum Solipsismus verirrt hat und
eigentlich doch nur pathologisch zu nehmen ist; Kant selbst hat sich vor solchen
extremen Schlußfolgerungen aus seiner Erkenntnistheorie gehütet, wie schon seine
Moral beweist, die die Außenwelt und die Nebenmenschen als wirkliche Wesen
behandelt.

Unser Autor verwirft also Kant und demnach auch die Losung: zurück zu
Kant, und hält sich an Hegel, der die Weltgeschichte als ein Werden auffasse,
bei dem aus jedem Vergehenden ein Neues, Vollkommneres hervorgehe, sodaß
Vergangenheit und Zukunft auf das Schönste miteinander verknüpft erscheinen
und die Folge der Veränderungen der Welt als ein planvoll geordneter Kultur¬
fortschritt begriffen werden kann, als eine Entwicklung, in der sich die ewige
Vernunft allmählich verwirklicht; und das Recht hat nun die Aufgabe, dieser
Verwirklichung behilflich zu sein. Doch bekennt sich Kohler nicht zum unver¬
änderten Hegel, sondern zu einem korrigierten Ncuhegeltum. Der Lauf der Welt
sei nicht durchaus logisch, wie Hegel annehme, sondern fördere beständig auch
Unlogisches zutage, und die Entwicklung verlaufe nicht im strengen Drcitcckt
von These, Antithese und Synthese, sondern in krausen Windungen. (Es ist
Wohl überhaupt verfehlt, von Logik, statt von Vernunft, im Weltgeschehen zu
sprechen.)


Eine Rechtsphilosophie

seinen Einzelheiten unerkennbare Jenseits mit Phantasiebildcrn ausfüllen, die
sie uns als Dogmen aufzudrängen versuchen, und indem sich die Physiker und
die Biologen nicht immer damit begnügen, den unsern Sinnen unzugänglichen
Kausalnexus zwischen den Naturerscheinungen durch die Annahme hypothetischer
Wesenheiten herzustellen, was erlaubt und für den Fortschritt der Wissenschaft
notwendig ist, sondern mitunter auch ihre Hypothesen als Dogmen lehren.
Gegen diese beiden Verirrungen hat Kant mit seiner Erkenntnistheorie einen
Damm aufgerichtet, der allerdings zu eng gezogen ist. Kohler hat wiederum
recht, wenn er die Welt als ein Ganzes auffaßt, von dem der Mensch nur ein
Teil ist, und aus dieser Ganzheit, deren Teile doch miteinander harmonieren
und füreinander abgestimmt, aneinander angepaßt sein müssen, es erklärt, daß
die Gesetze der Mathematik und das Kausalitütsgesctz, die unser Geist anzu¬
erkennen gezwungen ist, durch die Vorgänge der Natur außer uns bestätigt
werden. Aber in der Polemik gegen Kants Dualismus tut er diesem ohne
Zweifel Unrecht. Er meint nicht den Dualismus von Geist und Körper, sondern
den zwischen dem Ich und dem Nichtich, der ganzen außer dem Ich gelegnen
Welt. „Nach der Kantschen Erkenntnistheorie steht auf der einen Seite das
Subjekt ganz allein im Thcaterraum. und vor ihm breitet sich als ungeheure
Bühne die Welt aus." Zwischen beiden gebe es keine Vermittlung; die Fülle
der Erscheinungen, alle andern Menschen und den eignen Leib eingeschlossen,
seien eben nur Erscheinungen, ein Schauspiel, und was hinter diesem stecke,
bleibe uns unerforschbar und unerreichbar, sodaß das einzelne Subjekt keine
Beziehung zu ihm habe. Was Kohler hier schildert, das ist der extreme er¬
kenntnistheoretische Idealismus, der sich bis zum Solipsismus verirrt hat und
eigentlich doch nur pathologisch zu nehmen ist; Kant selbst hat sich vor solchen
extremen Schlußfolgerungen aus seiner Erkenntnistheorie gehütet, wie schon seine
Moral beweist, die die Außenwelt und die Nebenmenschen als wirkliche Wesen
behandelt.

Unser Autor verwirft also Kant und demnach auch die Losung: zurück zu
Kant, und hält sich an Hegel, der die Weltgeschichte als ein Werden auffasse,
bei dem aus jedem Vergehenden ein Neues, Vollkommneres hervorgehe, sodaß
Vergangenheit und Zukunft auf das Schönste miteinander verknüpft erscheinen
und die Folge der Veränderungen der Welt als ein planvoll geordneter Kultur¬
fortschritt begriffen werden kann, als eine Entwicklung, in der sich die ewige
Vernunft allmählich verwirklicht; und das Recht hat nun die Aufgabe, dieser
Verwirklichung behilflich zu sein. Doch bekennt sich Kohler nicht zum unver¬
änderten Hegel, sondern zu einem korrigierten Ncuhegeltum. Der Lauf der Welt
sei nicht durchaus logisch, wie Hegel annehme, sondern fördere beständig auch
Unlogisches zutage, und die Entwicklung verlaufe nicht im strengen Drcitcckt
von These, Antithese und Synthese, sondern in krausen Windungen. (Es ist
Wohl überhaupt verfehlt, von Logik, statt von Vernunft, im Weltgeschehen zu
sprechen.)


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[0565] Eine Rechtsphilosophie seinen Einzelheiten unerkennbare Jenseits mit Phantasiebildcrn ausfüllen, die sie uns als Dogmen aufzudrängen versuchen, und indem sich die Physiker und die Biologen nicht immer damit begnügen, den unsern Sinnen unzugänglichen Kausalnexus zwischen den Naturerscheinungen durch die Annahme hypothetischer Wesenheiten herzustellen, was erlaubt und für den Fortschritt der Wissenschaft notwendig ist, sondern mitunter auch ihre Hypothesen als Dogmen lehren. Gegen diese beiden Verirrungen hat Kant mit seiner Erkenntnistheorie einen Damm aufgerichtet, der allerdings zu eng gezogen ist. Kohler hat wiederum recht, wenn er die Welt als ein Ganzes auffaßt, von dem der Mensch nur ein Teil ist, und aus dieser Ganzheit, deren Teile doch miteinander harmonieren und füreinander abgestimmt, aneinander angepaßt sein müssen, es erklärt, daß die Gesetze der Mathematik und das Kausalitütsgesctz, die unser Geist anzu¬ erkennen gezwungen ist, durch die Vorgänge der Natur außer uns bestätigt werden. Aber in der Polemik gegen Kants Dualismus tut er diesem ohne Zweifel Unrecht. Er meint nicht den Dualismus von Geist und Körper, sondern den zwischen dem Ich und dem Nichtich, der ganzen außer dem Ich gelegnen Welt. „Nach der Kantschen Erkenntnistheorie steht auf der einen Seite das Subjekt ganz allein im Thcaterraum. und vor ihm breitet sich als ungeheure Bühne die Welt aus." Zwischen beiden gebe es keine Vermittlung; die Fülle der Erscheinungen, alle andern Menschen und den eignen Leib eingeschlossen, seien eben nur Erscheinungen, ein Schauspiel, und was hinter diesem stecke, bleibe uns unerforschbar und unerreichbar, sodaß das einzelne Subjekt keine Beziehung zu ihm habe. Was Kohler hier schildert, das ist der extreme er¬ kenntnistheoretische Idealismus, der sich bis zum Solipsismus verirrt hat und eigentlich doch nur pathologisch zu nehmen ist; Kant selbst hat sich vor solchen extremen Schlußfolgerungen aus seiner Erkenntnistheorie gehütet, wie schon seine Moral beweist, die die Außenwelt und die Nebenmenschen als wirkliche Wesen behandelt. Unser Autor verwirft also Kant und demnach auch die Losung: zurück zu Kant, und hält sich an Hegel, der die Weltgeschichte als ein Werden auffasse, bei dem aus jedem Vergehenden ein Neues, Vollkommneres hervorgehe, sodaß Vergangenheit und Zukunft auf das Schönste miteinander verknüpft erscheinen und die Folge der Veränderungen der Welt als ein planvoll geordneter Kultur¬ fortschritt begriffen werden kann, als eine Entwicklung, in der sich die ewige Vernunft allmählich verwirklicht; und das Recht hat nun die Aufgabe, dieser Verwirklichung behilflich zu sein. Doch bekennt sich Kohler nicht zum unver¬ änderten Hegel, sondern zu einem korrigierten Ncuhegeltum. Der Lauf der Welt sei nicht durchaus logisch, wie Hegel annehme, sondern fördere beständig auch Unlogisches zutage, und die Entwicklung verlaufe nicht im strengen Drcitcckt von These, Antithese und Synthese, sondern in krausen Windungen. (Es ist Wohl überhaupt verfehlt, von Logik, statt von Vernunft, im Weltgeschehen zu sprechen.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/565>, abgerufen am 25.08.2024.