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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sicherheit noch erreicht werden kann. Es muß alles versucht werden, um für den
Reichssäckel sobald als möglich so viel neue Einnahmen zu schaffen, wie nach Lage der
Umstände zu haben sind, und es ist notwendig, daß diese Aufgabe von dem gegen¬
wärtigen Reichstag zu lösen ist. Das ist der Grund, weshalb der Reichstag nicht
aufgelöst werden soll, bis nicht alles durchgeführt worden ist. was jetzt noch in
der Schwebe ist. Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Auffassung vom Standpunkt
der praktischen Staatskunst durchaus berechtigt ist.

Etwas anders sieht die Sache freilich aus, wenn man ruhig darüber nach¬
denkt, was weiter werden soll. Wenn die Konservativen die Sache so weit ge¬
trieben haben, daß sie kalten Bluts einen Kanzler, der in der auswärtigen Politik
das Ansehen und die Interessen des Reichs mit Geschick und Erfolg im Sinne der
nationalen Wünsche gewahrt hat, und der sich zugleich in der innern Politik ge¬
rade um die landwirtschaftlichen Interessen und um eine Politik im Sinne ge¬
sunder konservativer Anschauungen so große Verdienste erworben hat, glatt im
Stich ließen, als er einer gewissenlosen Machtpolitik und dem Eigennutz der Gro߬
grundbesitzer die Reverenz versagte, dann hört überhaupt jede Berechnung auf, die
für die konservative Politik unter ihrer jetzigen Führung andre Beweggründe an¬
nimmt, als eben die nackteste Herrschsucht und den allergewöhnlichsten materiellen
Egoismus. Wir lesen immer wieder in der agrarisch-konservativen Presse, die
Reichsfinanzreform sei keine "nationale" Frage, sondern eine wirtschaftliche. Das
ist eine Unterscheidung, die nur für jemand zu verstehn ist, der schon den
Suggestionen der agrarischen Politiker unrettbar unterlegen ist und nur noch auf
Schlagwörter hört, auch wenn sich nichts dabei denken läßt. Die Unterscheidung
zwischen wirtschaftlichen und nationalen Fragen ist ungefähr ähnlich zu bewerten,
als wenn man die Begriffe "Laubwald" und "Buchenwald" gegenüberstellen
Wollte. Jede wirtschaftliche, soziale, politische Frage, unter Umständen jede wissen¬
schaftliche, künstlerische, sogar kirchliche Frage kann eine nationale Frage werden,
wenn sie durch die Verhältnisse eine solche Bedeutung für die Existenz und die
Stellung eines ganzen Volkes gewinnt, daß die Überzeugung Platz greift: hier
müssen sonstige Unterschiede der Anschauungen so weit zurückstehn, daß die Lösung
der Aufgabe durch gemeinsame Arbeit aller Parteien, die die Bedeutung der Frage
erkennen, und folglich auch durch gegenseitige Rücksichtnahme und gegenseitige Opfer
dieser Parteien ermöglicht wird. Das trifft auf die wirtschaftliche Frage, die sich
auf die Neuordnung der Neichsfincmzen bezieht, in vollem Maße zu. Wenn sich
nun die konservative Partei bei der Arbeit an dieser Frage mit dem Zentrum
gegen die Liberalen verband, nur weil sie. das Zentrum bereit fand, den Gro߬
grundbesitzern eine Last von den Schultern zu nehmen und sie andern, darunter
auch weniger Vermögenden aufzubürden, so kann das nicht die Bedeutung eines
einzelnen nebensächlichen Falls haben, eines zufälligen Zusammengehns der beiden
Parteien, sondern einer deutlichen Absage an die Politik des leitenden Staats¬
manns, der sich in nationalen Fragen ans Konservative und Liberale stützen und
dem Zentrum in solchen Fragen keine maßgebende Rolle zugestehn wollte. Den
konservativen Führern mußte überdies klar sein, aus welchen Gründen sich das
Zentrum der konservativen Politik anschloß, die seinen früher und von einem starken
Bruchteil der Partei noch heute vertretnen Grundsätzen gar nicht entsprach -- abgesehen
davon, daß gewiegten Politikern Charakter und Ziele des Zentrums ohnehin geläufig
sein müssen. Man wird den konservativen Führern nicht einen solchen Mangel an
Intelligenz zutrauen dürfen, daß sie nicht ganz genau die Motive des Zentrums
durchschaut hätten. Sie wußten, daß das Zentrum eine Politik der Rache treibt,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sicherheit noch erreicht werden kann. Es muß alles versucht werden, um für den
Reichssäckel sobald als möglich so viel neue Einnahmen zu schaffen, wie nach Lage der
Umstände zu haben sind, und es ist notwendig, daß diese Aufgabe von dem gegen¬
wärtigen Reichstag zu lösen ist. Das ist der Grund, weshalb der Reichstag nicht
aufgelöst werden soll, bis nicht alles durchgeführt worden ist. was jetzt noch in
der Schwebe ist. Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Auffassung vom Standpunkt
der praktischen Staatskunst durchaus berechtigt ist.

Etwas anders sieht die Sache freilich aus, wenn man ruhig darüber nach¬
denkt, was weiter werden soll. Wenn die Konservativen die Sache so weit ge¬
trieben haben, daß sie kalten Bluts einen Kanzler, der in der auswärtigen Politik
das Ansehen und die Interessen des Reichs mit Geschick und Erfolg im Sinne der
nationalen Wünsche gewahrt hat, und der sich zugleich in der innern Politik ge¬
rade um die landwirtschaftlichen Interessen und um eine Politik im Sinne ge¬
sunder konservativer Anschauungen so große Verdienste erworben hat, glatt im
Stich ließen, als er einer gewissenlosen Machtpolitik und dem Eigennutz der Gro߬
grundbesitzer die Reverenz versagte, dann hört überhaupt jede Berechnung auf, die
für die konservative Politik unter ihrer jetzigen Führung andre Beweggründe an¬
nimmt, als eben die nackteste Herrschsucht und den allergewöhnlichsten materiellen
Egoismus. Wir lesen immer wieder in der agrarisch-konservativen Presse, die
Reichsfinanzreform sei keine „nationale" Frage, sondern eine wirtschaftliche. Das
ist eine Unterscheidung, die nur für jemand zu verstehn ist, der schon den
Suggestionen der agrarischen Politiker unrettbar unterlegen ist und nur noch auf
Schlagwörter hört, auch wenn sich nichts dabei denken läßt. Die Unterscheidung
zwischen wirtschaftlichen und nationalen Fragen ist ungefähr ähnlich zu bewerten,
als wenn man die Begriffe „Laubwald" und „Buchenwald" gegenüberstellen
Wollte. Jede wirtschaftliche, soziale, politische Frage, unter Umständen jede wissen¬
schaftliche, künstlerische, sogar kirchliche Frage kann eine nationale Frage werden,
wenn sie durch die Verhältnisse eine solche Bedeutung für die Existenz und die
Stellung eines ganzen Volkes gewinnt, daß die Überzeugung Platz greift: hier
müssen sonstige Unterschiede der Anschauungen so weit zurückstehn, daß die Lösung
der Aufgabe durch gemeinsame Arbeit aller Parteien, die die Bedeutung der Frage
erkennen, und folglich auch durch gegenseitige Rücksichtnahme und gegenseitige Opfer
dieser Parteien ermöglicht wird. Das trifft auf die wirtschaftliche Frage, die sich
auf die Neuordnung der Neichsfincmzen bezieht, in vollem Maße zu. Wenn sich
nun die konservative Partei bei der Arbeit an dieser Frage mit dem Zentrum
gegen die Liberalen verband, nur weil sie. das Zentrum bereit fand, den Gro߬
grundbesitzern eine Last von den Schultern zu nehmen und sie andern, darunter
auch weniger Vermögenden aufzubürden, so kann das nicht die Bedeutung eines
einzelnen nebensächlichen Falls haben, eines zufälligen Zusammengehns der beiden
Parteien, sondern einer deutlichen Absage an die Politik des leitenden Staats¬
manns, der sich in nationalen Fragen ans Konservative und Liberale stützen und
dem Zentrum in solchen Fragen keine maßgebende Rolle zugestehn wollte. Den
konservativen Führern mußte überdies klar sein, aus welchen Gründen sich das
Zentrum der konservativen Politik anschloß, die seinen früher und von einem starken
Bruchteil der Partei noch heute vertretnen Grundsätzen gar nicht entsprach — abgesehen
davon, daß gewiegten Politikern Charakter und Ziele des Zentrums ohnehin geläufig
sein müssen. Man wird den konservativen Führern nicht einen solchen Mangel an
Intelligenz zutrauen dürfen, daß sie nicht ganz genau die Motive des Zentrums
durchschaut hätten. Sie wußten, daß das Zentrum eine Politik der Rache treibt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/53>, abgerufen am 22.12.2024.