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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Lin philosophischer Roman

die Überwachung, die Selbstprüfung hoben den Marius "aus dem rein ob¬
jektiven Dasein" der Heiden hinaus in die Lebensweise, die von der katho¬
lischen Kirche ihren Gläubigen anerzogen und später von den Mönchen auf
den Gipfel der Vollkommenheit gebracht wurde. In der Gestalt freilich, die
ihr Marc Aurel gegeben hatte, befriedigte sie nicht. Sie machte zunächst
traurig und übte einen Druck, der leicht die von den Theologen als Tod¬
sünde gebrandmarkten äesiäig., Passivität, Trägheit erzeugen konnte. Und
darin lag zugleich jenes Sichzufriedengeben mit der Welt, jene Duldung des
Übels, jener Verzicht auf den Kampf gegen dieses, der dem jungen Manne
am Kaiser so mißfiel. Aus solcher Niedergeschlagenheit in die Höhe wies ein
Vortrag, den Marc Aurels greiser Lehrer und Freund, der Rhetor Fronto,
im Friedenstempel einer auserlesnen Gesellschaft von Schöngeistern und Blau¬
strümpfen hielt. Er stellte darin die stoische Moral als die vornehmste Er¬
scheinungsform des Schönen dar und redete viel von einer Stadt oder einem
Staate, dem diese Moral Gesetz sei. Sollte mit diesem Staat eine bloße
Abstraktion gemeint sein oder ein Ideal, so würde sich Marius nicht damit
zufrieden gegeben haben. Was ihn bei den Worten des Meisters der Rede
lebhaft bewegte, das war der Gedanke: Existiert so etwas in Wirklichkeit?
Wo liegt diese vollkommne Stadt? Und es schien ihm manchmal, als habe
Fronto "eine geheime Gesellschaft im Auge, eine erhabne Gemeinschaft, an
deren Leben nicht teilzuhaben ein viel größerer Verlust wäre, als aus der
souveränen Stadt Rom bis an die Grenzen der Erde verbannt zu sein".

Marius sollte bald erfahren, daß die Stadt wirklich vorhanden war, ohne
daß der gelehrte Redner, der sie schilderte, eine Ahnung davon hatte. Auf der
Reise nach Rom war er in einer Herberge mit einem jungen Offizier aus dem
edeln Geschlecht der Cornelier zusammengetroffen, und sie hatten den Rest des
Weges miteinander zurückgelegt. Cornelius zeichnete sich durch den höchsten
Grad der Eigenschaft aus, die Marius über alles schätzte, und deren er sich selbst
rühmen durfte: einer Frische, wie sie nur vollkommne leibliche und seelische
Gesundheit zu verleihen vermag. Außerdem beobachtete dieser an jenem ge¬
messene Zurückhaltung; Cornelius führte seinen neuen Freund in Rom herum,
wich aber jedem Volksgetümmel aus und nahm an keinem öffentlichen Feste
teil. Und er imponierte durch seine ruhige, heitere Sicherheit; er machte den
Eindruck eines Menschen, der seiner selbst mächtig, über sich, über die Welt,
über seinen Weg durch die Welt vollkommen im klaren ist, der nicht zweifelt,
nicht zu forschen braucht und nichts zu fragen hat. Welcher Gegensatz zu den
heidnischen Größen, die Marius kennen lernte! An einem Gastmahl, das dem
berühmten Apulejus zu Ehren gegeben wurde, durfte er teilnehmen und wurde
sogar einer intimen Zwiesprache mit dem Weisesten der Weisen gewürdigt, aus
der er erfuhr, daß die platonischen Ideen Dämonen seien, Mittelwesen, die in
so dichten Scharen wie die Sonnenstäubchen die Luft bevölkern und die ver¬
mitteln zwischen uns und den unzugänglichen, sich nur im Leuchten der Sterne


Lin philosophischer Roman

die Überwachung, die Selbstprüfung hoben den Marius „aus dem rein ob¬
jektiven Dasein" der Heiden hinaus in die Lebensweise, die von der katho¬
lischen Kirche ihren Gläubigen anerzogen und später von den Mönchen auf
den Gipfel der Vollkommenheit gebracht wurde. In der Gestalt freilich, die
ihr Marc Aurel gegeben hatte, befriedigte sie nicht. Sie machte zunächst
traurig und übte einen Druck, der leicht die von den Theologen als Tod¬
sünde gebrandmarkten äesiäig., Passivität, Trägheit erzeugen konnte. Und
darin lag zugleich jenes Sichzufriedengeben mit der Welt, jene Duldung des
Übels, jener Verzicht auf den Kampf gegen dieses, der dem jungen Manne
am Kaiser so mißfiel. Aus solcher Niedergeschlagenheit in die Höhe wies ein
Vortrag, den Marc Aurels greiser Lehrer und Freund, der Rhetor Fronto,
im Friedenstempel einer auserlesnen Gesellschaft von Schöngeistern und Blau¬
strümpfen hielt. Er stellte darin die stoische Moral als die vornehmste Er¬
scheinungsform des Schönen dar und redete viel von einer Stadt oder einem
Staate, dem diese Moral Gesetz sei. Sollte mit diesem Staat eine bloße
Abstraktion gemeint sein oder ein Ideal, so würde sich Marius nicht damit
zufrieden gegeben haben. Was ihn bei den Worten des Meisters der Rede
lebhaft bewegte, das war der Gedanke: Existiert so etwas in Wirklichkeit?
Wo liegt diese vollkommne Stadt? Und es schien ihm manchmal, als habe
Fronto „eine geheime Gesellschaft im Auge, eine erhabne Gemeinschaft, an
deren Leben nicht teilzuhaben ein viel größerer Verlust wäre, als aus der
souveränen Stadt Rom bis an die Grenzen der Erde verbannt zu sein".

Marius sollte bald erfahren, daß die Stadt wirklich vorhanden war, ohne
daß der gelehrte Redner, der sie schilderte, eine Ahnung davon hatte. Auf der
Reise nach Rom war er in einer Herberge mit einem jungen Offizier aus dem
edeln Geschlecht der Cornelier zusammengetroffen, und sie hatten den Rest des
Weges miteinander zurückgelegt. Cornelius zeichnete sich durch den höchsten
Grad der Eigenschaft aus, die Marius über alles schätzte, und deren er sich selbst
rühmen durfte: einer Frische, wie sie nur vollkommne leibliche und seelische
Gesundheit zu verleihen vermag. Außerdem beobachtete dieser an jenem ge¬
messene Zurückhaltung; Cornelius führte seinen neuen Freund in Rom herum,
wich aber jedem Volksgetümmel aus und nahm an keinem öffentlichen Feste
teil. Und er imponierte durch seine ruhige, heitere Sicherheit; er machte den
Eindruck eines Menschen, der seiner selbst mächtig, über sich, über die Welt,
über seinen Weg durch die Welt vollkommen im klaren ist, der nicht zweifelt,
nicht zu forschen braucht und nichts zu fragen hat. Welcher Gegensatz zu den
heidnischen Größen, die Marius kennen lernte! An einem Gastmahl, das dem
berühmten Apulejus zu Ehren gegeben wurde, durfte er teilnehmen und wurde
sogar einer intimen Zwiesprache mit dem Weisesten der Weisen gewürdigt, aus
der er erfuhr, daß die platonischen Ideen Dämonen seien, Mittelwesen, die in
so dichten Scharen wie die Sonnenstäubchen die Luft bevölkern und die ver¬
mitteln zwischen uns und den unzugänglichen, sich nur im Leuchten der Sterne


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[0466] Lin philosophischer Roman die Überwachung, die Selbstprüfung hoben den Marius „aus dem rein ob¬ jektiven Dasein" der Heiden hinaus in die Lebensweise, die von der katho¬ lischen Kirche ihren Gläubigen anerzogen und später von den Mönchen auf den Gipfel der Vollkommenheit gebracht wurde. In der Gestalt freilich, die ihr Marc Aurel gegeben hatte, befriedigte sie nicht. Sie machte zunächst traurig und übte einen Druck, der leicht die von den Theologen als Tod¬ sünde gebrandmarkten äesiäig., Passivität, Trägheit erzeugen konnte. Und darin lag zugleich jenes Sichzufriedengeben mit der Welt, jene Duldung des Übels, jener Verzicht auf den Kampf gegen dieses, der dem jungen Manne am Kaiser so mißfiel. Aus solcher Niedergeschlagenheit in die Höhe wies ein Vortrag, den Marc Aurels greiser Lehrer und Freund, der Rhetor Fronto, im Friedenstempel einer auserlesnen Gesellschaft von Schöngeistern und Blau¬ strümpfen hielt. Er stellte darin die stoische Moral als die vornehmste Er¬ scheinungsform des Schönen dar und redete viel von einer Stadt oder einem Staate, dem diese Moral Gesetz sei. Sollte mit diesem Staat eine bloße Abstraktion gemeint sein oder ein Ideal, so würde sich Marius nicht damit zufrieden gegeben haben. Was ihn bei den Worten des Meisters der Rede lebhaft bewegte, das war der Gedanke: Existiert so etwas in Wirklichkeit? Wo liegt diese vollkommne Stadt? Und es schien ihm manchmal, als habe Fronto „eine geheime Gesellschaft im Auge, eine erhabne Gemeinschaft, an deren Leben nicht teilzuhaben ein viel größerer Verlust wäre, als aus der souveränen Stadt Rom bis an die Grenzen der Erde verbannt zu sein". Marius sollte bald erfahren, daß die Stadt wirklich vorhanden war, ohne daß der gelehrte Redner, der sie schilderte, eine Ahnung davon hatte. Auf der Reise nach Rom war er in einer Herberge mit einem jungen Offizier aus dem edeln Geschlecht der Cornelier zusammengetroffen, und sie hatten den Rest des Weges miteinander zurückgelegt. Cornelius zeichnete sich durch den höchsten Grad der Eigenschaft aus, die Marius über alles schätzte, und deren er sich selbst rühmen durfte: einer Frische, wie sie nur vollkommne leibliche und seelische Gesundheit zu verleihen vermag. Außerdem beobachtete dieser an jenem ge¬ messene Zurückhaltung; Cornelius führte seinen neuen Freund in Rom herum, wich aber jedem Volksgetümmel aus und nahm an keinem öffentlichen Feste teil. Und er imponierte durch seine ruhige, heitere Sicherheit; er machte den Eindruck eines Menschen, der seiner selbst mächtig, über sich, über die Welt, über seinen Weg durch die Welt vollkommen im klaren ist, der nicht zweifelt, nicht zu forschen braucht und nichts zu fragen hat. Welcher Gegensatz zu den heidnischen Größen, die Marius kennen lernte! An einem Gastmahl, das dem berühmten Apulejus zu Ehren gegeben wurde, durfte er teilnehmen und wurde sogar einer intimen Zwiesprache mit dem Weisesten der Weisen gewürdigt, aus der er erfuhr, daß die platonischen Ideen Dämonen seien, Mittelwesen, die in so dichten Scharen wie die Sonnenstäubchen die Luft bevölkern und die ver¬ mitteln zwischen uns und den unzugänglichen, sich nur im Leuchten der Sterne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/466>, abgerufen am 22.12.2024.