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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Ein philosophischer Roman

Wohnhäusern der philosophischen Kaiser nicht paßt, beim ersten Besuch, be¬
handelte ihn der große Stoiker als jungen Freund und zog ihn -- eins seiner
Kinder feierte gerade den Geburtstag -- in den intimsten Familienkreis. Das
Haus war prächtig ausgestattet, aber nur dem prunk- und bequemlichkeit¬
liebenden jüngern Bruder, Lucius Verus, zu Gefallen, nach dessen Tode alles
Überflüssige hinausgeschafft wurde. Die gemütlichen Szenen, die uns Pater
da malt, sind möglich, denn das asiatische Hofzeremoniell hatte ja damals die
auch ohne stoische Philosophie natürlichen und einfachen Umgangsformen der
Gräkolatiner noch nicht verdrängt. Marius freute sich über des Kaisers
Humanität und hatte Verständnis für seinen religiösen Sinn und für seine
Absicht, durch pietätvolle Teilnahme am Götterkult das Volk allmählich zur
Philosophie zu erziehen, auch für seine, die stoische Atciraxie bekundende Nach¬
sicht mit der ehebrecherischen Faustina. Aber der große Philosoph auf dem
Kaiserthrone imponierte ihm nicht in dem Maße, wie er erwartet hatte. Gegen
die Weltverachtung, die Aurelius in einer öffentlichen Rede predigte, bäumten
sich des Marius Weltfrcudigkeir und Tätigkeitsdrang auf; er vermißte in des
Kaisers Wesen den Schwung, fand darin etwas wie Mittelmäßigkeit, wenn
auch eine aures, in<zal<)ein"8, und bald mischte sich sogar eine Spur von Ver¬
achtung, von sittlicher Entrüstung ein. Die Vermählung des Verus wurde
unter anderm auch mit der unvermeidlichen Tierschlächterei in der Arena ge¬
feiert, und diesem unwürdigen Schauspiel wohnte der Kaiser bei. "Marius,
der sich, müde und entrüstet, in dem großen Schlachthaus vereinsamt fühlte,
konnte nicht umhin, zu beobachten, wie Aurelius in seiner gewohnten Nach¬
giebigkeit gegen Lucius Verus, der bequem neben ihm ruhte und von Zeit zu
Zeit laut Beifall rief, während der langen Stunden, die Marius selbst dort
blieb, gleichgiltig dagesessen hatte. Meistens hatte freilich der Kaiser die
Augen von dem Schauspiel abgewandt, hatte gelesen oder geschrieben, aber
er war doch gleichgiltig erschienen. Vielleicht dachte er über das stoische
Paradoxon von der Geringfügigkeit oder gar Nichtigkeit des Schmerzes nach,
das ihm sogar zur Entschuldigung dienen mochte, sollten sich die wilden
Launen des Volkes einmal nicht mehr bloß gegen Tiere und Verbrecher,
sondern gegen schuldlose Männer und Frauen richten." An diese Haltung
des Kaisers im Amphitheater erinnerte sich Marius, als einige Jahre später
unter des Kaisers Autorität in Gallien Christen abgeschlachtet wurden. Eines
wurde ihm in jenem Augenblicke klar, dank dem untrüglichen Gewissen, das,
unabhängig von Theorien und, wenn sie nicht damit übereinstimmten, trotz
ihnen, in ihm lebendig war: es gab einen Kampf zwischen dem wahrhaft
Guten und dem wahrhaft Bösen in diesem kurzen, dunkeln Erdendasein; er,
Marius. sah dieses gewaltige Ringen, der philosophische Kaiser dagegen schien
es nicht zu sehen. Doch förderte ihn die Teilnahme an dessen literarischer
Tätigkeit immerhin im innern Leben. Die fortwährende Beschäftigung mit
der eignen Seele, wie sie die Schriften Marc Aurels bekunden, die Sammlung,


Ein philosophischer Roman

Wohnhäusern der philosophischen Kaiser nicht paßt, beim ersten Besuch, be¬
handelte ihn der große Stoiker als jungen Freund und zog ihn — eins seiner
Kinder feierte gerade den Geburtstag — in den intimsten Familienkreis. Das
Haus war prächtig ausgestattet, aber nur dem prunk- und bequemlichkeit¬
liebenden jüngern Bruder, Lucius Verus, zu Gefallen, nach dessen Tode alles
Überflüssige hinausgeschafft wurde. Die gemütlichen Szenen, die uns Pater
da malt, sind möglich, denn das asiatische Hofzeremoniell hatte ja damals die
auch ohne stoische Philosophie natürlichen und einfachen Umgangsformen der
Gräkolatiner noch nicht verdrängt. Marius freute sich über des Kaisers
Humanität und hatte Verständnis für seinen religiösen Sinn und für seine
Absicht, durch pietätvolle Teilnahme am Götterkult das Volk allmählich zur
Philosophie zu erziehen, auch für seine, die stoische Atciraxie bekundende Nach¬
sicht mit der ehebrecherischen Faustina. Aber der große Philosoph auf dem
Kaiserthrone imponierte ihm nicht in dem Maße, wie er erwartet hatte. Gegen
die Weltverachtung, die Aurelius in einer öffentlichen Rede predigte, bäumten
sich des Marius Weltfrcudigkeir und Tätigkeitsdrang auf; er vermißte in des
Kaisers Wesen den Schwung, fand darin etwas wie Mittelmäßigkeit, wenn
auch eine aures, in<zal<)ein»8, und bald mischte sich sogar eine Spur von Ver¬
achtung, von sittlicher Entrüstung ein. Die Vermählung des Verus wurde
unter anderm auch mit der unvermeidlichen Tierschlächterei in der Arena ge¬
feiert, und diesem unwürdigen Schauspiel wohnte der Kaiser bei. „Marius,
der sich, müde und entrüstet, in dem großen Schlachthaus vereinsamt fühlte,
konnte nicht umhin, zu beobachten, wie Aurelius in seiner gewohnten Nach¬
giebigkeit gegen Lucius Verus, der bequem neben ihm ruhte und von Zeit zu
Zeit laut Beifall rief, während der langen Stunden, die Marius selbst dort
blieb, gleichgiltig dagesessen hatte. Meistens hatte freilich der Kaiser die
Augen von dem Schauspiel abgewandt, hatte gelesen oder geschrieben, aber
er war doch gleichgiltig erschienen. Vielleicht dachte er über das stoische
Paradoxon von der Geringfügigkeit oder gar Nichtigkeit des Schmerzes nach,
das ihm sogar zur Entschuldigung dienen mochte, sollten sich die wilden
Launen des Volkes einmal nicht mehr bloß gegen Tiere und Verbrecher,
sondern gegen schuldlose Männer und Frauen richten." An diese Haltung
des Kaisers im Amphitheater erinnerte sich Marius, als einige Jahre später
unter des Kaisers Autorität in Gallien Christen abgeschlachtet wurden. Eines
wurde ihm in jenem Augenblicke klar, dank dem untrüglichen Gewissen, das,
unabhängig von Theorien und, wenn sie nicht damit übereinstimmten, trotz
ihnen, in ihm lebendig war: es gab einen Kampf zwischen dem wahrhaft
Guten und dem wahrhaft Bösen in diesem kurzen, dunkeln Erdendasein; er,
Marius. sah dieses gewaltige Ringen, der philosophische Kaiser dagegen schien
es nicht zu sehen. Doch förderte ihn die Teilnahme an dessen literarischer
Tätigkeit immerhin im innern Leben. Die fortwährende Beschäftigung mit
der eignen Seele, wie sie die Schriften Marc Aurels bekunden, die Sammlung,


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[0465] Ein philosophischer Roman Wohnhäusern der philosophischen Kaiser nicht paßt, beim ersten Besuch, be¬ handelte ihn der große Stoiker als jungen Freund und zog ihn — eins seiner Kinder feierte gerade den Geburtstag — in den intimsten Familienkreis. Das Haus war prächtig ausgestattet, aber nur dem prunk- und bequemlichkeit¬ liebenden jüngern Bruder, Lucius Verus, zu Gefallen, nach dessen Tode alles Überflüssige hinausgeschafft wurde. Die gemütlichen Szenen, die uns Pater da malt, sind möglich, denn das asiatische Hofzeremoniell hatte ja damals die auch ohne stoische Philosophie natürlichen und einfachen Umgangsformen der Gräkolatiner noch nicht verdrängt. Marius freute sich über des Kaisers Humanität und hatte Verständnis für seinen religiösen Sinn und für seine Absicht, durch pietätvolle Teilnahme am Götterkult das Volk allmählich zur Philosophie zu erziehen, auch für seine, die stoische Atciraxie bekundende Nach¬ sicht mit der ehebrecherischen Faustina. Aber der große Philosoph auf dem Kaiserthrone imponierte ihm nicht in dem Maße, wie er erwartet hatte. Gegen die Weltverachtung, die Aurelius in einer öffentlichen Rede predigte, bäumten sich des Marius Weltfrcudigkeir und Tätigkeitsdrang auf; er vermißte in des Kaisers Wesen den Schwung, fand darin etwas wie Mittelmäßigkeit, wenn auch eine aures, in<zal<)ein»8, und bald mischte sich sogar eine Spur von Ver¬ achtung, von sittlicher Entrüstung ein. Die Vermählung des Verus wurde unter anderm auch mit der unvermeidlichen Tierschlächterei in der Arena ge¬ feiert, und diesem unwürdigen Schauspiel wohnte der Kaiser bei. „Marius, der sich, müde und entrüstet, in dem großen Schlachthaus vereinsamt fühlte, konnte nicht umhin, zu beobachten, wie Aurelius in seiner gewohnten Nach¬ giebigkeit gegen Lucius Verus, der bequem neben ihm ruhte und von Zeit zu Zeit laut Beifall rief, während der langen Stunden, die Marius selbst dort blieb, gleichgiltig dagesessen hatte. Meistens hatte freilich der Kaiser die Augen von dem Schauspiel abgewandt, hatte gelesen oder geschrieben, aber er war doch gleichgiltig erschienen. Vielleicht dachte er über das stoische Paradoxon von der Geringfügigkeit oder gar Nichtigkeit des Schmerzes nach, das ihm sogar zur Entschuldigung dienen mochte, sollten sich die wilden Launen des Volkes einmal nicht mehr bloß gegen Tiere und Verbrecher, sondern gegen schuldlose Männer und Frauen richten." An diese Haltung des Kaisers im Amphitheater erinnerte sich Marius, als einige Jahre später unter des Kaisers Autorität in Gallien Christen abgeschlachtet wurden. Eines wurde ihm in jenem Augenblicke klar, dank dem untrüglichen Gewissen, das, unabhängig von Theorien und, wenn sie nicht damit übereinstimmten, trotz ihnen, in ihm lebendig war: es gab einen Kampf zwischen dem wahrhaft Guten und dem wahrhaft Bösen in diesem kurzen, dunkeln Erdendasein; er, Marius. sah dieses gewaltige Ringen, der philosophische Kaiser dagegen schien es nicht zu sehen. Doch förderte ihn die Teilnahme an dessen literarischer Tätigkeit immerhin im innern Leben. Die fortwährende Beschäftigung mit der eignen Seele, wie sie die Schriften Marc Aurels bekunden, die Sammlung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/465>, abgerufen am 22.12.2024.