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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Ein philosophischer Roman

Äußerstes herzugeben." Gewiß kann man mit dieser Auffassung in den
tiefsten Schlamm sinnloser und gemeiner Schwelgerei geraten, aber auch zu
energischer praktischer Tätigkeit.

Die Wirkungen jeder Lehre hängen von der Natur der Persönlichkeit ab,
die sie aufnimmt. Marius nahm sie auf, nicht als eine Theorie für abge¬
lebte Greise, sondern als die Rechtfertigung der jugendlichen Lust am Leben
und als Antrieb zur höchsten Kraftentfaltung in jedem Augenblick. Und wie
eine und dieselbe Theorie in verschiednen Persönlichkeiten verschieden wirkt,
so nähern sich die entgegengesetztesten Theorien, so im Altertum der Zynismus
und Kyrenaismus (später heißen sie Stoizismus und Epikureismus) in ihrer
praktischen Wirkung auf gleichgeartete Seelen. "Wenn die kyrenaische Theorie
von Betrachtungen ausgeht, die der religiösen Anlage widersprechen, und die
der religiös Gesinnte zu unterdrücken für Pflicht hält, so ist sie nichtsdesto¬
weniger ihr gleich und jeder niedrigen Gesinnung sehr unähnlich in ihrem
nachdrücklichen Ernst, ihrer strengen Hingabe an einen sehr urweltlichen
Typus der Vollkommenheit. Der Heilige und der kyrenaische Liebhaber der
Schönheit, könnte man denken, würden einander besser verstehn als jeder von
ihnen den flachen Weltmenschen. Vielleicht haben alle Theorien der Praxis,
so wie sie von ihren würdigsten Vertretern verstanden werden, die Neigung,
ineinander überzugehn. Denn der Unterschied zwischen den Erfahrungen ver-
schiedner Menschen und zwischen ihren Reflexionen über die Erfahrung ist
nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint; und wie die höchsten
Formeln der Selbstlosigkeit im gemeinen Leben auf das gleiche armselige Niveau
des gemeinen Egoismus hinabsinken, so dürfen wir annehmen, daß die edeln
Geister, von so entgegengesetzten Punkten theoretischer Betrachtung sie ausgehn
mögen, doch im gleichen moralischen Bewußtsein zusammentreffen."*)

Also von dem, was man gewöhnlich unter Hedonismus oder Epikureismus
versteht, blieb Marius so weit entfernt wie Epikur selbst; trotzdem wurde er
von aufgeblähten Stoikern -- daß es bei den meisten wirklich bloß Wind
war, was ihren Busen schwellte, soweit sie nicht geradezu grobe Heuchler
waren, versichern die Satiriker -- als ein unreines Tier aus Epikurs Stall
verdächtigt. Aufrichtigen Stoizismus kennen zu lernen, bekam er bald Ge¬
legenheit. Marc Aurel erwählte ihn zum Amanuensis. Gleich in der ersten
Audienz oder vielmehr, weil das Wort Audienz auf den Verkehr in den



*> Philosophische Schriftsteller wie Pater bieten natürlich dem Übersetzer manche Schwierig¬
keiten! aber wir müssen gestehn, daß dieser seine Aufgabe recht gut gelöst hat. In der wissen¬
schaftlichen Zeitschrift ^.nZIig, ist ihm denn auch volle Anerkennung zuteil geworden. Ein
Rezensent freilich hat die Übersetzung als "eine sklavische Kopie" verurteilt, die man nicht mit
Genuß lesen könne. Das ist stark übertrieben und ungerecht, Da sich aber dieser Rezensent
selbst als ein unzuverlässiger Kenner des Englischen und des Deutschen herausgestellt hat, so
muß sein Urteil dementsprechend korrigiert werden. Wir können das Buch den Freunden kultur¬
geschichtlicher Romane nur empfehlen.
Ein philosophischer Roman

Äußerstes herzugeben." Gewiß kann man mit dieser Auffassung in den
tiefsten Schlamm sinnloser und gemeiner Schwelgerei geraten, aber auch zu
energischer praktischer Tätigkeit.

Die Wirkungen jeder Lehre hängen von der Natur der Persönlichkeit ab,
die sie aufnimmt. Marius nahm sie auf, nicht als eine Theorie für abge¬
lebte Greise, sondern als die Rechtfertigung der jugendlichen Lust am Leben
und als Antrieb zur höchsten Kraftentfaltung in jedem Augenblick. Und wie
eine und dieselbe Theorie in verschiednen Persönlichkeiten verschieden wirkt,
so nähern sich die entgegengesetztesten Theorien, so im Altertum der Zynismus
und Kyrenaismus (später heißen sie Stoizismus und Epikureismus) in ihrer
praktischen Wirkung auf gleichgeartete Seelen. „Wenn die kyrenaische Theorie
von Betrachtungen ausgeht, die der religiösen Anlage widersprechen, und die
der religiös Gesinnte zu unterdrücken für Pflicht hält, so ist sie nichtsdesto¬
weniger ihr gleich und jeder niedrigen Gesinnung sehr unähnlich in ihrem
nachdrücklichen Ernst, ihrer strengen Hingabe an einen sehr urweltlichen
Typus der Vollkommenheit. Der Heilige und der kyrenaische Liebhaber der
Schönheit, könnte man denken, würden einander besser verstehn als jeder von
ihnen den flachen Weltmenschen. Vielleicht haben alle Theorien der Praxis,
so wie sie von ihren würdigsten Vertretern verstanden werden, die Neigung,
ineinander überzugehn. Denn der Unterschied zwischen den Erfahrungen ver-
schiedner Menschen und zwischen ihren Reflexionen über die Erfahrung ist
nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint; und wie die höchsten
Formeln der Selbstlosigkeit im gemeinen Leben auf das gleiche armselige Niveau
des gemeinen Egoismus hinabsinken, so dürfen wir annehmen, daß die edeln
Geister, von so entgegengesetzten Punkten theoretischer Betrachtung sie ausgehn
mögen, doch im gleichen moralischen Bewußtsein zusammentreffen."*)

Also von dem, was man gewöhnlich unter Hedonismus oder Epikureismus
versteht, blieb Marius so weit entfernt wie Epikur selbst; trotzdem wurde er
von aufgeblähten Stoikern — daß es bei den meisten wirklich bloß Wind
war, was ihren Busen schwellte, soweit sie nicht geradezu grobe Heuchler
waren, versichern die Satiriker — als ein unreines Tier aus Epikurs Stall
verdächtigt. Aufrichtigen Stoizismus kennen zu lernen, bekam er bald Ge¬
legenheit. Marc Aurel erwählte ihn zum Amanuensis. Gleich in der ersten
Audienz oder vielmehr, weil das Wort Audienz auf den Verkehr in den



*> Philosophische Schriftsteller wie Pater bieten natürlich dem Übersetzer manche Schwierig¬
keiten! aber wir müssen gestehn, daß dieser seine Aufgabe recht gut gelöst hat. In der wissen¬
schaftlichen Zeitschrift ^.nZIig, ist ihm denn auch volle Anerkennung zuteil geworden. Ein
Rezensent freilich hat die Übersetzung als „eine sklavische Kopie" verurteilt, die man nicht mit
Genuß lesen könne. Das ist stark übertrieben und ungerecht, Da sich aber dieser Rezensent
selbst als ein unzuverlässiger Kenner des Englischen und des Deutschen herausgestellt hat, so
muß sein Urteil dementsprechend korrigiert werden. Wir können das Buch den Freunden kultur¬
geschichtlicher Romane nur empfehlen.
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[0464] Ein philosophischer Roman Äußerstes herzugeben." Gewiß kann man mit dieser Auffassung in den tiefsten Schlamm sinnloser und gemeiner Schwelgerei geraten, aber auch zu energischer praktischer Tätigkeit. Die Wirkungen jeder Lehre hängen von der Natur der Persönlichkeit ab, die sie aufnimmt. Marius nahm sie auf, nicht als eine Theorie für abge¬ lebte Greise, sondern als die Rechtfertigung der jugendlichen Lust am Leben und als Antrieb zur höchsten Kraftentfaltung in jedem Augenblick. Und wie eine und dieselbe Theorie in verschiednen Persönlichkeiten verschieden wirkt, so nähern sich die entgegengesetztesten Theorien, so im Altertum der Zynismus und Kyrenaismus (später heißen sie Stoizismus und Epikureismus) in ihrer praktischen Wirkung auf gleichgeartete Seelen. „Wenn die kyrenaische Theorie von Betrachtungen ausgeht, die der religiösen Anlage widersprechen, und die der religiös Gesinnte zu unterdrücken für Pflicht hält, so ist sie nichtsdesto¬ weniger ihr gleich und jeder niedrigen Gesinnung sehr unähnlich in ihrem nachdrücklichen Ernst, ihrer strengen Hingabe an einen sehr urweltlichen Typus der Vollkommenheit. Der Heilige und der kyrenaische Liebhaber der Schönheit, könnte man denken, würden einander besser verstehn als jeder von ihnen den flachen Weltmenschen. Vielleicht haben alle Theorien der Praxis, so wie sie von ihren würdigsten Vertretern verstanden werden, die Neigung, ineinander überzugehn. Denn der Unterschied zwischen den Erfahrungen ver- schiedner Menschen und zwischen ihren Reflexionen über die Erfahrung ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint; und wie die höchsten Formeln der Selbstlosigkeit im gemeinen Leben auf das gleiche armselige Niveau des gemeinen Egoismus hinabsinken, so dürfen wir annehmen, daß die edeln Geister, von so entgegengesetzten Punkten theoretischer Betrachtung sie ausgehn mögen, doch im gleichen moralischen Bewußtsein zusammentreffen."*) Also von dem, was man gewöhnlich unter Hedonismus oder Epikureismus versteht, blieb Marius so weit entfernt wie Epikur selbst; trotzdem wurde er von aufgeblähten Stoikern — daß es bei den meisten wirklich bloß Wind war, was ihren Busen schwellte, soweit sie nicht geradezu grobe Heuchler waren, versichern die Satiriker — als ein unreines Tier aus Epikurs Stall verdächtigt. Aufrichtigen Stoizismus kennen zu lernen, bekam er bald Ge¬ legenheit. Marc Aurel erwählte ihn zum Amanuensis. Gleich in der ersten Audienz oder vielmehr, weil das Wort Audienz auf den Verkehr in den *> Philosophische Schriftsteller wie Pater bieten natürlich dem Übersetzer manche Schwierig¬ keiten! aber wir müssen gestehn, daß dieser seine Aufgabe recht gut gelöst hat. In der wissen¬ schaftlichen Zeitschrift ^.nZIig, ist ihm denn auch volle Anerkennung zuteil geworden. Ein Rezensent freilich hat die Übersetzung als „eine sklavische Kopie" verurteilt, die man nicht mit Genuß lesen könne. Das ist stark übertrieben und ungerecht, Da sich aber dieser Rezensent selbst als ein unzuverlässiger Kenner des Englischen und des Deutschen herausgestellt hat, so muß sein Urteil dementsprechend korrigiert werden. Wir können das Buch den Freunden kultur¬ geschichtlicher Romane nur empfehlen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/464>, abgerufen am 22.12.2024.