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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Gin philosophischer Roman

beide entzückt davon, jeder auf seine Weise. Marius wendet sich von allem
Rohen und Gemeinen ab, das die Erzählung enthält, und wie die Episode
von Amor und Psyche in seiner reinen Seele fortlebt, so erzählt Walter Pater
sie nach. Flavicm fühlt seine" Ehrgeiz zu ähnlichen Leistungen angespornt
und sucht herauszubekommen, wodurch Apulejus wirkt. Er erkennt als das
Wesentliche die Feinheit und Korrektheit des Stils, die "künstliche Kunstlosig-
keit", die Pater, wie mir scheint nicht ganz treffend, mit dem im Zeitalter
der Elisabeth üblich gewordnen Worte Euphuismus bezeichnet. Er beginnt,
von des Lucretius philosophischer Dichtung angeregt, einen mystischen Hymnus
an den Frühling und fährt fort, ihn dem jungen Freunde zu diktieren,
nachdem ihn schon die Pest aufs Krankenlager geworfen hat. Marius pflegt
ihn, sieht ihn sterben und besorgt, tief erschüttert durch die Zerstörung dieses
geliebten Leibes, die Bestattung. Seine Liebe zu schönen Leibern wurde durch
keine niedrige Empfindung oder Vorstellung verunreinigt. "Der menschliche
Körper in seiner Schönheit schien ihm gerade damals, als die höchste
Steigerung aller Schönheit stofflicher Dinge, kein Stoff mehr zu sein, sondern
sich, von himmlischem Feuer erfüllt, als die wahre, wenn auch sichtbare Seele
oder als den Geist in den Dingen darzustellen."

Mit solchen Gedanken hätte er leicht der Mystik verfallen können, die
in jener Zeit der orientalischen Kulte und einer sich in Theosophie wandelnden
Philosophie herrschte. Er blieb davor bewahrt "durch seine freie Männlich¬
keit, die unter anderm als ein Haß gegen alles Theatralische in ihm wirksam
war, und durch die instinktive Erkenntnis, daß das Göttliche wohl am ehesten
eine starke Intelligenz zum Wohnsitz wählen werde". So forschte er denn
in den ältern, strengern Denkern. Zunächst im Heraklit. Dessen Lehre vom
Fluß aller Dinge hatten die Sophisten gemißbraucht, und über dieser mi߬
bräuchlichen Deutung war seine echte Meinung vergessen worden. "Die
negative Lehre, daß sich die Dinge unsrer gewöhnlichen Erfahrung trotz ihres
Scheines der beharrenden Solidität beständig wandeln und bewegen, war nur
die Einleitung zu einem großen positiven System, zu einer fast religiösen
Philosophie gewesen." Im beständigen Wandel sollte man das Walten der
ewigen Vernunft erkennen, die unermüdlich "der Gottheit lebendiges Kleid"
webt, nach festen Gesetzen, die in dem Strom der Veränderung eine schöne
Harmonie unverändert erhalten, und diese Harmonie ist das Beharrende.
Marius würdigte diese Ansicht als eine kühne und schöne Hypothese, die
jedoch vorläufig wenig praktischen Wert für ihn habe, weil er den vergäng¬
lichen Einzeldingen das lebhafteste Interesse entgegenbrachte. Einen andern
Satz, den Pater auf Heraklit zurückzuführen scheint, den Satz das Prota-
goras, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, war Marius zuzugeben
bereit ungefähr in dem Sinne, wie ihn später Rousseaus Vivairc- 8g.vo^a,rei
angenommen hat: daß er sein Suchen auf das zu beschränken habe, was ihn
unmittelbar interessiere, und daß sich ein jeder zu guter Letzt doch nur auf das
sicher verlassen kann, was ihm seine eignen Sinne an Erkenntnis vermitteln.


Gin philosophischer Roman

beide entzückt davon, jeder auf seine Weise. Marius wendet sich von allem
Rohen und Gemeinen ab, das die Erzählung enthält, und wie die Episode
von Amor und Psyche in seiner reinen Seele fortlebt, so erzählt Walter Pater
sie nach. Flavicm fühlt seine« Ehrgeiz zu ähnlichen Leistungen angespornt
und sucht herauszubekommen, wodurch Apulejus wirkt. Er erkennt als das
Wesentliche die Feinheit und Korrektheit des Stils, die „künstliche Kunstlosig-
keit", die Pater, wie mir scheint nicht ganz treffend, mit dem im Zeitalter
der Elisabeth üblich gewordnen Worte Euphuismus bezeichnet. Er beginnt,
von des Lucretius philosophischer Dichtung angeregt, einen mystischen Hymnus
an den Frühling und fährt fort, ihn dem jungen Freunde zu diktieren,
nachdem ihn schon die Pest aufs Krankenlager geworfen hat. Marius pflegt
ihn, sieht ihn sterben und besorgt, tief erschüttert durch die Zerstörung dieses
geliebten Leibes, die Bestattung. Seine Liebe zu schönen Leibern wurde durch
keine niedrige Empfindung oder Vorstellung verunreinigt. „Der menschliche
Körper in seiner Schönheit schien ihm gerade damals, als die höchste
Steigerung aller Schönheit stofflicher Dinge, kein Stoff mehr zu sein, sondern
sich, von himmlischem Feuer erfüllt, als die wahre, wenn auch sichtbare Seele
oder als den Geist in den Dingen darzustellen."

Mit solchen Gedanken hätte er leicht der Mystik verfallen können, die
in jener Zeit der orientalischen Kulte und einer sich in Theosophie wandelnden
Philosophie herrschte. Er blieb davor bewahrt „durch seine freie Männlich¬
keit, die unter anderm als ein Haß gegen alles Theatralische in ihm wirksam
war, und durch die instinktive Erkenntnis, daß das Göttliche wohl am ehesten
eine starke Intelligenz zum Wohnsitz wählen werde". So forschte er denn
in den ältern, strengern Denkern. Zunächst im Heraklit. Dessen Lehre vom
Fluß aller Dinge hatten die Sophisten gemißbraucht, und über dieser mi߬
bräuchlichen Deutung war seine echte Meinung vergessen worden. „Die
negative Lehre, daß sich die Dinge unsrer gewöhnlichen Erfahrung trotz ihres
Scheines der beharrenden Solidität beständig wandeln und bewegen, war nur
die Einleitung zu einem großen positiven System, zu einer fast religiösen
Philosophie gewesen." Im beständigen Wandel sollte man das Walten der
ewigen Vernunft erkennen, die unermüdlich „der Gottheit lebendiges Kleid"
webt, nach festen Gesetzen, die in dem Strom der Veränderung eine schöne
Harmonie unverändert erhalten, und diese Harmonie ist das Beharrende.
Marius würdigte diese Ansicht als eine kühne und schöne Hypothese, die
jedoch vorläufig wenig praktischen Wert für ihn habe, weil er den vergäng¬
lichen Einzeldingen das lebhafteste Interesse entgegenbrachte. Einen andern
Satz, den Pater auf Heraklit zurückzuführen scheint, den Satz das Prota-
goras, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, war Marius zuzugeben
bereit ungefähr in dem Sinne, wie ihn später Rousseaus Vivairc- 8g.vo^a,rei
angenommen hat: daß er sein Suchen auf das zu beschränken habe, was ihn
unmittelbar interessiere, und daß sich ein jeder zu guter Letzt doch nur auf das
sicher verlassen kann, was ihm seine eignen Sinne an Erkenntnis vermitteln.


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[0462] Gin philosophischer Roman beide entzückt davon, jeder auf seine Weise. Marius wendet sich von allem Rohen und Gemeinen ab, das die Erzählung enthält, und wie die Episode von Amor und Psyche in seiner reinen Seele fortlebt, so erzählt Walter Pater sie nach. Flavicm fühlt seine« Ehrgeiz zu ähnlichen Leistungen angespornt und sucht herauszubekommen, wodurch Apulejus wirkt. Er erkennt als das Wesentliche die Feinheit und Korrektheit des Stils, die „künstliche Kunstlosig- keit", die Pater, wie mir scheint nicht ganz treffend, mit dem im Zeitalter der Elisabeth üblich gewordnen Worte Euphuismus bezeichnet. Er beginnt, von des Lucretius philosophischer Dichtung angeregt, einen mystischen Hymnus an den Frühling und fährt fort, ihn dem jungen Freunde zu diktieren, nachdem ihn schon die Pest aufs Krankenlager geworfen hat. Marius pflegt ihn, sieht ihn sterben und besorgt, tief erschüttert durch die Zerstörung dieses geliebten Leibes, die Bestattung. Seine Liebe zu schönen Leibern wurde durch keine niedrige Empfindung oder Vorstellung verunreinigt. „Der menschliche Körper in seiner Schönheit schien ihm gerade damals, als die höchste Steigerung aller Schönheit stofflicher Dinge, kein Stoff mehr zu sein, sondern sich, von himmlischem Feuer erfüllt, als die wahre, wenn auch sichtbare Seele oder als den Geist in den Dingen darzustellen." Mit solchen Gedanken hätte er leicht der Mystik verfallen können, die in jener Zeit der orientalischen Kulte und einer sich in Theosophie wandelnden Philosophie herrschte. Er blieb davor bewahrt „durch seine freie Männlich¬ keit, die unter anderm als ein Haß gegen alles Theatralische in ihm wirksam war, und durch die instinktive Erkenntnis, daß das Göttliche wohl am ehesten eine starke Intelligenz zum Wohnsitz wählen werde". So forschte er denn in den ältern, strengern Denkern. Zunächst im Heraklit. Dessen Lehre vom Fluß aller Dinge hatten die Sophisten gemißbraucht, und über dieser mi߬ bräuchlichen Deutung war seine echte Meinung vergessen worden. „Die negative Lehre, daß sich die Dinge unsrer gewöhnlichen Erfahrung trotz ihres Scheines der beharrenden Solidität beständig wandeln und bewegen, war nur die Einleitung zu einem großen positiven System, zu einer fast religiösen Philosophie gewesen." Im beständigen Wandel sollte man das Walten der ewigen Vernunft erkennen, die unermüdlich „der Gottheit lebendiges Kleid" webt, nach festen Gesetzen, die in dem Strom der Veränderung eine schöne Harmonie unverändert erhalten, und diese Harmonie ist das Beharrende. Marius würdigte diese Ansicht als eine kühne und schöne Hypothese, die jedoch vorläufig wenig praktischen Wert für ihn habe, weil er den vergäng¬ lichen Einzeldingen das lebhafteste Interesse entgegenbrachte. Einen andern Satz, den Pater auf Heraklit zurückzuführen scheint, den Satz das Prota- goras, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, war Marius zuzugeben bereit ungefähr in dem Sinne, wie ihn später Rousseaus Vivairc- 8g.vo^a,rei angenommen hat: daß er sein Suchen auf das zu beschränken habe, was ihn unmittelbar interessiere, und daß sich ein jeder zu guter Letzt doch nur auf das sicher verlassen kann, was ihm seine eignen Sinne an Erkenntnis vermitteln.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/462>, abgerufen am 26.06.2024.