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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Ein philosophischer Roman

er auch sein Inneres zu sammeln und zur Ruhe zu bringen. Nur eins störte
ihn bei den Prozessionen: "ein Mitleid im Grunde seines Herzens, das
beinahe auf seine Lippen drang, ein Mitleid mit den heiligen Opfern und
ihren Blicken der Angst; und es erhob sich fast bis zum Abscheu, wenn die
große Handlung des Opferns selbst vor sich ging; sie war wie ein Stück all¬
täglicher Schlächterei, die wir schicklicherweise zu verbergen pflegen; einige
freilich der Anwesenden verrieten offen ihre Neugier auf das Schauspiel, das
ihnen so unter religiösem Vorwande geboten wurde."

An den Lustbarkeiten, die sich der Feier anschlössen, und die dem Haus¬
gesinde natürlich das liebste Ware", nahm er so wenig wie möglich teil. Die
edle Mutter, die den Vater so aufrichtig betrauerte, und der er gern bei ihrer
Nadelarbeit oder wenn sie musizierte behilflich war, verfeinerte noch seine
Empfindung. Und seine Religiosität wurde vertieft, zugleich aber ihr Übergang
in die Philosophie vorbereitet durch eine Wallfahrt zu einem Heiligtum des
Äskulap, worin er Heilung von einer Unpäßlichkeit erlangte. Der Tempel war
mit geschmackvoller Pracht ausgestattet, die Priester und ihre Zöglinge machten
den würdigsten Eindruck, die Umgebung erschloß dem Auge bezaubernde Land¬
schaftsbilder, und in der ersten Nacht hatte er ein Erlebnis, das ihm wie einer
jener heilenden Träume erschien, die in der priesterlichen Heilkunst eine wichtige
Rolle spielten. Ein junger Priester setzte sich an sein Bett und hielt ihm einen
Vortrag, worin er gemahnt wurde: "Sei müßig in deinen religiösen Meinungen,
in der Liebe, im Genusse des Weines, in allen Dingen, und sei friedlichen
Herzens mit deinen Mitmenschen." Er gehöre zu denen, die vollkommen werden
durch die Liebe zu sichtbarer Schönheit -- die Theorie der priesterlichen Rat¬
schläge fand Marius später in Platons Phädrus --, darum solle er alles um
sich herum sauber und seine Augen klar erhalten, viel über schöne Gegenstände
nachsinnen, besonders über solche, die an die Jugend erinnern, über Kinder
beim Spiel, über die Blüten im Frühling, solle auf seinem Wege durch die Welt
alles meiden, was dem Auge widerstrebt, und Verhältnisse, die ihn mit solchen
Gegenständen in Berührung brächten, um jeden Preis lösen.

Aber gerade das viele Nachdenken, das ohnehin zu seinen Gewohnheiten
gehörte, erweckte ihm Zweifel an der Volks- und Priesterreligion, von der
er sich sehr rasch lossagte, nachdem er eine Zeit lang in Pisa studiert hatte.
Er schloß dort fast vom ersten Tage an Freundschaft mit dem drei Jahre
ältern Flavian, einem glänzenden Jüngling, Sohn eines Freigelassenen zwar
nur, dem aber sein Patron die Mittel zu einem luxuriösen Leben gewährte.
Flavian hatte alle Religion über Bord geworfen und glaubte an nichts als
an sich selbst. Er hatte in Rom schon, was man so nennt, das Leben ge¬
nossen, und Marius staunte über seine Verderbtheit, die ihn nicht ansteckte,
jedoch auch nicht abhielt, sich in leidenschaftlicher Freundschaft und aus Lern¬
begier an den leiblich und geistig Reichbegabten zu hängen. Sie lasen mit¬
einander unter andern den Roman der Saison: des Apulejus Goldner Esel
^- sie nennen diese "Metamorphosen" lieber das goldne Buch -- und sind


Ein philosophischer Roman

er auch sein Inneres zu sammeln und zur Ruhe zu bringen. Nur eins störte
ihn bei den Prozessionen: „ein Mitleid im Grunde seines Herzens, das
beinahe auf seine Lippen drang, ein Mitleid mit den heiligen Opfern und
ihren Blicken der Angst; und es erhob sich fast bis zum Abscheu, wenn die
große Handlung des Opferns selbst vor sich ging; sie war wie ein Stück all¬
täglicher Schlächterei, die wir schicklicherweise zu verbergen pflegen; einige
freilich der Anwesenden verrieten offen ihre Neugier auf das Schauspiel, das
ihnen so unter religiösem Vorwande geboten wurde."

An den Lustbarkeiten, die sich der Feier anschlössen, und die dem Haus¬
gesinde natürlich das liebste Ware», nahm er so wenig wie möglich teil. Die
edle Mutter, die den Vater so aufrichtig betrauerte, und der er gern bei ihrer
Nadelarbeit oder wenn sie musizierte behilflich war, verfeinerte noch seine
Empfindung. Und seine Religiosität wurde vertieft, zugleich aber ihr Übergang
in die Philosophie vorbereitet durch eine Wallfahrt zu einem Heiligtum des
Äskulap, worin er Heilung von einer Unpäßlichkeit erlangte. Der Tempel war
mit geschmackvoller Pracht ausgestattet, die Priester und ihre Zöglinge machten
den würdigsten Eindruck, die Umgebung erschloß dem Auge bezaubernde Land¬
schaftsbilder, und in der ersten Nacht hatte er ein Erlebnis, das ihm wie einer
jener heilenden Träume erschien, die in der priesterlichen Heilkunst eine wichtige
Rolle spielten. Ein junger Priester setzte sich an sein Bett und hielt ihm einen
Vortrag, worin er gemahnt wurde: „Sei müßig in deinen religiösen Meinungen,
in der Liebe, im Genusse des Weines, in allen Dingen, und sei friedlichen
Herzens mit deinen Mitmenschen." Er gehöre zu denen, die vollkommen werden
durch die Liebe zu sichtbarer Schönheit — die Theorie der priesterlichen Rat¬
schläge fand Marius später in Platons Phädrus —, darum solle er alles um
sich herum sauber und seine Augen klar erhalten, viel über schöne Gegenstände
nachsinnen, besonders über solche, die an die Jugend erinnern, über Kinder
beim Spiel, über die Blüten im Frühling, solle auf seinem Wege durch die Welt
alles meiden, was dem Auge widerstrebt, und Verhältnisse, die ihn mit solchen
Gegenständen in Berührung brächten, um jeden Preis lösen.

Aber gerade das viele Nachdenken, das ohnehin zu seinen Gewohnheiten
gehörte, erweckte ihm Zweifel an der Volks- und Priesterreligion, von der
er sich sehr rasch lossagte, nachdem er eine Zeit lang in Pisa studiert hatte.
Er schloß dort fast vom ersten Tage an Freundschaft mit dem drei Jahre
ältern Flavian, einem glänzenden Jüngling, Sohn eines Freigelassenen zwar
nur, dem aber sein Patron die Mittel zu einem luxuriösen Leben gewährte.
Flavian hatte alle Religion über Bord geworfen und glaubte an nichts als
an sich selbst. Er hatte in Rom schon, was man so nennt, das Leben ge¬
nossen, und Marius staunte über seine Verderbtheit, die ihn nicht ansteckte,
jedoch auch nicht abhielt, sich in leidenschaftlicher Freundschaft und aus Lern¬
begier an den leiblich und geistig Reichbegabten zu hängen. Sie lasen mit¬
einander unter andern den Roman der Saison: des Apulejus Goldner Esel
^- sie nennen diese „Metamorphosen" lieber das goldne Buch — und sind


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[0461] Ein philosophischer Roman er auch sein Inneres zu sammeln und zur Ruhe zu bringen. Nur eins störte ihn bei den Prozessionen: „ein Mitleid im Grunde seines Herzens, das beinahe auf seine Lippen drang, ein Mitleid mit den heiligen Opfern und ihren Blicken der Angst; und es erhob sich fast bis zum Abscheu, wenn die große Handlung des Opferns selbst vor sich ging; sie war wie ein Stück all¬ täglicher Schlächterei, die wir schicklicherweise zu verbergen pflegen; einige freilich der Anwesenden verrieten offen ihre Neugier auf das Schauspiel, das ihnen so unter religiösem Vorwande geboten wurde." An den Lustbarkeiten, die sich der Feier anschlössen, und die dem Haus¬ gesinde natürlich das liebste Ware», nahm er so wenig wie möglich teil. Die edle Mutter, die den Vater so aufrichtig betrauerte, und der er gern bei ihrer Nadelarbeit oder wenn sie musizierte behilflich war, verfeinerte noch seine Empfindung. Und seine Religiosität wurde vertieft, zugleich aber ihr Übergang in die Philosophie vorbereitet durch eine Wallfahrt zu einem Heiligtum des Äskulap, worin er Heilung von einer Unpäßlichkeit erlangte. Der Tempel war mit geschmackvoller Pracht ausgestattet, die Priester und ihre Zöglinge machten den würdigsten Eindruck, die Umgebung erschloß dem Auge bezaubernde Land¬ schaftsbilder, und in der ersten Nacht hatte er ein Erlebnis, das ihm wie einer jener heilenden Träume erschien, die in der priesterlichen Heilkunst eine wichtige Rolle spielten. Ein junger Priester setzte sich an sein Bett und hielt ihm einen Vortrag, worin er gemahnt wurde: „Sei müßig in deinen religiösen Meinungen, in der Liebe, im Genusse des Weines, in allen Dingen, und sei friedlichen Herzens mit deinen Mitmenschen." Er gehöre zu denen, die vollkommen werden durch die Liebe zu sichtbarer Schönheit — die Theorie der priesterlichen Rat¬ schläge fand Marius später in Platons Phädrus —, darum solle er alles um sich herum sauber und seine Augen klar erhalten, viel über schöne Gegenstände nachsinnen, besonders über solche, die an die Jugend erinnern, über Kinder beim Spiel, über die Blüten im Frühling, solle auf seinem Wege durch die Welt alles meiden, was dem Auge widerstrebt, und Verhältnisse, die ihn mit solchen Gegenständen in Berührung brächten, um jeden Preis lösen. Aber gerade das viele Nachdenken, das ohnehin zu seinen Gewohnheiten gehörte, erweckte ihm Zweifel an der Volks- und Priesterreligion, von der er sich sehr rasch lossagte, nachdem er eine Zeit lang in Pisa studiert hatte. Er schloß dort fast vom ersten Tage an Freundschaft mit dem drei Jahre ältern Flavian, einem glänzenden Jüngling, Sohn eines Freigelassenen zwar nur, dem aber sein Patron die Mittel zu einem luxuriösen Leben gewährte. Flavian hatte alle Religion über Bord geworfen und glaubte an nichts als an sich selbst. Er hatte in Rom schon, was man so nennt, das Leben ge¬ nossen, und Marius staunte über seine Verderbtheit, die ihn nicht ansteckte, jedoch auch nicht abhielt, sich in leidenschaftlicher Freundschaft und aus Lern¬ begier an den leiblich und geistig Reichbegabten zu hängen. Sie lasen mit¬ einander unter andern den Roman der Saison: des Apulejus Goldner Esel ^- sie nennen diese „Metamorphosen" lieber das goldne Buch — und sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/461>, abgerufen am 22.12.2024.