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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Eines Toren Waldfahrt

Ich weiß nicht, was du damit meinst I brummte Momme zerknirscht vor sich
hin -- Wald ist auf der Geest! Und das sind lauter Bäume! Na, das ist alles --
mehr weiß ich wahrhaftigen Gott nicht davon!

Franke Hartwich antwortete nicht gleich, sie konnte nicht vor Enttäuschung und
Ärger. Als sie sich im Krug mit den andern verabredet hatte, die Waldfahrt zu
unternehmen, war sie nach Hause gegangen in der sichern Gewißheit, daheim vou
Momme Tetens eine Deutung des geheimnisvollen Wortes "Wald" zu bekommen;
sie selbst hatte eine unbestimmte Vorstellung von etwas Bunten, Grünem, un¬
beschreiblich Schönem -- und dann wieder von etwas Dunkeln, Riesigen, Schrecken¬
bergendem -- und nun wollte Momme Tetens dies alles in die zwei nüchternen
Worte pressen: lauter Bäume! Sie hätte ihm so gern widersprochen, sann und
sann, um ein Wort für ihre unklaren Vorstellungen zu finden, und fand doch nichts.

Schließlich sagte sie trotzig und verächtlich: Lauter Bäume? Das wußte ich
auch! Aber wie stehen die? Dicht an dicht, daß du nicht mit 'nein Wagen durch¬
fahren kannst. Und so hoch! Und oben die Kronen ganz dicht zusammen, daß man
keinen Sonnenstrahl sieht! Und keine gewöhnlichen Apfel- und Birnbäume! Alles
andre! Und dann all die wilden Tiere drin! Und wenn man nicht aufpaßt, findet
man nie wieder raus. Aber ich paß auf . . . ja, ich geh hin . . . die ganze Lieder¬
tafel fährt hin . . . Sonntag in acht Tagen! Und ich hätte nicht gedacht, daß du
so dumm bist, Momme Tetens.

Damit raffte Frauke zierlich ihr Kleid zusammen uno ging, ohne sich umzusehen,
zur Tür hinaus. Der Junge sah ihr regungslos nach. Der Vorwurf, der ihm
gemacht worden war, rührte ihn nicht. Er hatte nnr das eine gehört: Franke Hartwich
würde leibhaftig durch einen Wald wandern, etwas sehen, was er nicht kannte, von
dem er nichts wußte. Wußte er wirklich nichts davon? Er faßte mit beiden großen
Händen an seinen Kopf, als ob er ihn festhalten müßte, daß er nicht zerspränge
von all den Bildern, Träumen und Vorstellungen, die in verwirrender Fülle auf ihn
eindrangen. Herr Gott -- im Walde lebten und webten doch alle seine Geschichten --
da hausten greuliche Drachen, die von tapfern Helden erschlagen wurden, da starb
Siegfried eines schmählichen Todes, da fand der Ritter seine wundersame Prinzessin ...
Momme Tetens stieß mit dem Fuß hastig das Bohnenstroh zur Seite, schob die
Hände in die Taschen und ging rasch und so leise es seine Holzpantoffel nur er¬
laubten, durch den angrenzenden Stall nach seiner Schlafkammer. Achtlos schob er
die Kleidungsstücke, die auf dem kleinen hölzernen Koffer lagen, der unter dem
Fenster stand, hinunter auf die Lehmdiele. Der Deckel klappte zurück, und ein Durch¬
einander von Wäsche und allerlei alten Büchern und Heften wurde sichtbar. Der
Junge warf den ganzen Inhalt der Reihe nach zu den Sachen auf den Fußboden --
immer größer wurde der regellose Haufen. Endlich, fast am Grunde seiner Lade,
entdeckte er das Gesuchte: ein kleines zusammeulegbares Bilderbuch -- vor Jahren
hatte es ihm der Krämer einmal zu Weihnachten geschenkt. Eifrig zog er es aus¬
einander: in schreienden bunten Farben stellten die acht Bildchen das Märchen von
Häusel und Grete dar -- und wahrhaftig! vom zweiten ab hatte jedes als Hinter¬
grund eine Reihe grüner Bäume -- ganz unzweifelhaft ein Wald! Der Wald!
Momme klappte die Lade zu und setzte sich drauf, um seinen Schatz besser in Augen¬
schein nehmen zu können. Seine großen Augen weideten sich noch mehr, seine
Stirn legte sich in grübelnde Falten, und seine Lippen, über die der erste blonde
Bart sproßte, kniffen sich fester zusammen: er muß das Geheimnis des Waldes ent¬
rätseln. Und lange und ernsthaft besieht er Blatt um Blatt: immer dicht an dicht
die starken Bäume, rechts und links und rundherum. Ihre Füße deckt ein weicher
grüner Teppich, hinter ihren grauen Stämmen lauert eine geheimnisvolle, lockende


Eines Toren Waldfahrt

Ich weiß nicht, was du damit meinst I brummte Momme zerknirscht vor sich
hin — Wald ist auf der Geest! Und das sind lauter Bäume! Na, das ist alles —
mehr weiß ich wahrhaftigen Gott nicht davon!

Franke Hartwich antwortete nicht gleich, sie konnte nicht vor Enttäuschung und
Ärger. Als sie sich im Krug mit den andern verabredet hatte, die Waldfahrt zu
unternehmen, war sie nach Hause gegangen in der sichern Gewißheit, daheim vou
Momme Tetens eine Deutung des geheimnisvollen Wortes „Wald" zu bekommen;
sie selbst hatte eine unbestimmte Vorstellung von etwas Bunten, Grünem, un¬
beschreiblich Schönem — und dann wieder von etwas Dunkeln, Riesigen, Schrecken¬
bergendem — und nun wollte Momme Tetens dies alles in die zwei nüchternen
Worte pressen: lauter Bäume! Sie hätte ihm so gern widersprochen, sann und
sann, um ein Wort für ihre unklaren Vorstellungen zu finden, und fand doch nichts.

Schließlich sagte sie trotzig und verächtlich: Lauter Bäume? Das wußte ich
auch! Aber wie stehen die? Dicht an dicht, daß du nicht mit 'nein Wagen durch¬
fahren kannst. Und so hoch! Und oben die Kronen ganz dicht zusammen, daß man
keinen Sonnenstrahl sieht! Und keine gewöhnlichen Apfel- und Birnbäume! Alles
andre! Und dann all die wilden Tiere drin! Und wenn man nicht aufpaßt, findet
man nie wieder raus. Aber ich paß auf . . . ja, ich geh hin . . . die ganze Lieder¬
tafel fährt hin . . . Sonntag in acht Tagen! Und ich hätte nicht gedacht, daß du
so dumm bist, Momme Tetens.

Damit raffte Frauke zierlich ihr Kleid zusammen uno ging, ohne sich umzusehen,
zur Tür hinaus. Der Junge sah ihr regungslos nach. Der Vorwurf, der ihm
gemacht worden war, rührte ihn nicht. Er hatte nnr das eine gehört: Franke Hartwich
würde leibhaftig durch einen Wald wandern, etwas sehen, was er nicht kannte, von
dem er nichts wußte. Wußte er wirklich nichts davon? Er faßte mit beiden großen
Händen an seinen Kopf, als ob er ihn festhalten müßte, daß er nicht zerspränge
von all den Bildern, Träumen und Vorstellungen, die in verwirrender Fülle auf ihn
eindrangen. Herr Gott — im Walde lebten und webten doch alle seine Geschichten —
da hausten greuliche Drachen, die von tapfern Helden erschlagen wurden, da starb
Siegfried eines schmählichen Todes, da fand der Ritter seine wundersame Prinzessin ...
Momme Tetens stieß mit dem Fuß hastig das Bohnenstroh zur Seite, schob die
Hände in die Taschen und ging rasch und so leise es seine Holzpantoffel nur er¬
laubten, durch den angrenzenden Stall nach seiner Schlafkammer. Achtlos schob er
die Kleidungsstücke, die auf dem kleinen hölzernen Koffer lagen, der unter dem
Fenster stand, hinunter auf die Lehmdiele. Der Deckel klappte zurück, und ein Durch¬
einander von Wäsche und allerlei alten Büchern und Heften wurde sichtbar. Der
Junge warf den ganzen Inhalt der Reihe nach zu den Sachen auf den Fußboden —
immer größer wurde der regellose Haufen. Endlich, fast am Grunde seiner Lade,
entdeckte er das Gesuchte: ein kleines zusammeulegbares Bilderbuch — vor Jahren
hatte es ihm der Krämer einmal zu Weihnachten geschenkt. Eifrig zog er es aus¬
einander: in schreienden bunten Farben stellten die acht Bildchen das Märchen von
Häusel und Grete dar — und wahrhaftig! vom zweiten ab hatte jedes als Hinter¬
grund eine Reihe grüner Bäume — ganz unzweifelhaft ein Wald! Der Wald!
Momme klappte die Lade zu und setzte sich drauf, um seinen Schatz besser in Augen¬
schein nehmen zu können. Seine großen Augen weideten sich noch mehr, seine
Stirn legte sich in grübelnde Falten, und seine Lippen, über die der erste blonde
Bart sproßte, kniffen sich fester zusammen: er muß das Geheimnis des Waldes ent¬
rätseln. Und lange und ernsthaft besieht er Blatt um Blatt: immer dicht an dicht
die starken Bäume, rechts und links und rundherum. Ihre Füße deckt ein weicher
grüner Teppich, hinter ihren grauen Stämmen lauert eine geheimnisvolle, lockende


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[0046] Eines Toren Waldfahrt Ich weiß nicht, was du damit meinst I brummte Momme zerknirscht vor sich hin — Wald ist auf der Geest! Und das sind lauter Bäume! Na, das ist alles — mehr weiß ich wahrhaftigen Gott nicht davon! Franke Hartwich antwortete nicht gleich, sie konnte nicht vor Enttäuschung und Ärger. Als sie sich im Krug mit den andern verabredet hatte, die Waldfahrt zu unternehmen, war sie nach Hause gegangen in der sichern Gewißheit, daheim vou Momme Tetens eine Deutung des geheimnisvollen Wortes „Wald" zu bekommen; sie selbst hatte eine unbestimmte Vorstellung von etwas Bunten, Grünem, un¬ beschreiblich Schönem — und dann wieder von etwas Dunkeln, Riesigen, Schrecken¬ bergendem — und nun wollte Momme Tetens dies alles in die zwei nüchternen Worte pressen: lauter Bäume! Sie hätte ihm so gern widersprochen, sann und sann, um ein Wort für ihre unklaren Vorstellungen zu finden, und fand doch nichts. Schließlich sagte sie trotzig und verächtlich: Lauter Bäume? Das wußte ich auch! Aber wie stehen die? Dicht an dicht, daß du nicht mit 'nein Wagen durch¬ fahren kannst. Und so hoch! Und oben die Kronen ganz dicht zusammen, daß man keinen Sonnenstrahl sieht! Und keine gewöhnlichen Apfel- und Birnbäume! Alles andre! Und dann all die wilden Tiere drin! Und wenn man nicht aufpaßt, findet man nie wieder raus. Aber ich paß auf . . . ja, ich geh hin . . . die ganze Lieder¬ tafel fährt hin . . . Sonntag in acht Tagen! Und ich hätte nicht gedacht, daß du so dumm bist, Momme Tetens. Damit raffte Frauke zierlich ihr Kleid zusammen uno ging, ohne sich umzusehen, zur Tür hinaus. Der Junge sah ihr regungslos nach. Der Vorwurf, der ihm gemacht worden war, rührte ihn nicht. Er hatte nnr das eine gehört: Franke Hartwich würde leibhaftig durch einen Wald wandern, etwas sehen, was er nicht kannte, von dem er nichts wußte. Wußte er wirklich nichts davon? Er faßte mit beiden großen Händen an seinen Kopf, als ob er ihn festhalten müßte, daß er nicht zerspränge von all den Bildern, Träumen und Vorstellungen, die in verwirrender Fülle auf ihn eindrangen. Herr Gott — im Walde lebten und webten doch alle seine Geschichten — da hausten greuliche Drachen, die von tapfern Helden erschlagen wurden, da starb Siegfried eines schmählichen Todes, da fand der Ritter seine wundersame Prinzessin ... Momme Tetens stieß mit dem Fuß hastig das Bohnenstroh zur Seite, schob die Hände in die Taschen und ging rasch und so leise es seine Holzpantoffel nur er¬ laubten, durch den angrenzenden Stall nach seiner Schlafkammer. Achtlos schob er die Kleidungsstücke, die auf dem kleinen hölzernen Koffer lagen, der unter dem Fenster stand, hinunter auf die Lehmdiele. Der Deckel klappte zurück, und ein Durch¬ einander von Wäsche und allerlei alten Büchern und Heften wurde sichtbar. Der Junge warf den ganzen Inhalt der Reihe nach zu den Sachen auf den Fußboden — immer größer wurde der regellose Haufen. Endlich, fast am Grunde seiner Lade, entdeckte er das Gesuchte: ein kleines zusammeulegbares Bilderbuch — vor Jahren hatte es ihm der Krämer einmal zu Weihnachten geschenkt. Eifrig zog er es aus¬ einander: in schreienden bunten Farben stellten die acht Bildchen das Märchen von Häusel und Grete dar — und wahrhaftig! vom zweiten ab hatte jedes als Hinter¬ grund eine Reihe grüner Bäume — ganz unzweifelhaft ein Wald! Der Wald! Momme klappte die Lade zu und setzte sich drauf, um seinen Schatz besser in Augen¬ schein nehmen zu können. Seine großen Augen weideten sich noch mehr, seine Stirn legte sich in grübelnde Falten, und seine Lippen, über die der erste blonde Bart sproßte, kniffen sich fester zusammen: er muß das Geheimnis des Waldes ent¬ rätseln. Und lange und ernsthaft besieht er Blatt um Blatt: immer dicht an dicht die starken Bäume, rechts und links und rundherum. Ihre Füße deckt ein weicher grüner Teppich, hinter ihren grauen Stämmen lauert eine geheimnisvolle, lockende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/46>, abgerufen am 22.12.2024.