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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Meine Jugend und die Religion

seiner Wochenschrift Über Land und Meer herausgegeben hat. Unermüdlich
blätterte ich darin, meine Mutter erklärte mir die Bilder. Ihre Deutungen deutete
meine junge Phantasie weiter, und sie versann sich manchmal. So hatte mir meine
Mutter alle Truppen, die auf den Bildern Pickelhauben trugen, als Preußen be¬
zeichnet. Als mein unermüdlich fragender Finger einmal auf einen preußischen
Artilleristen wies, an dessen Helm mir die Aufsatzkugel ausfiel, sagte sie scherzend:
Das ist ein Prussien. Da mein französischer Wortschatz in jener Zeit sehr dürftig
war und sich auf die Worte: toujours er^iUsr beschränkte, die ich als Erinnerung
an die Schanzarbeiten der französischen Kriegsgefangnen oft von Erwachsnen gehört
hatte, und da mir die Aufsatzkugel und die Aufsatzspitze ihre Träger noch schärfer
schieden wie die Namen Preuße und Prussien. sah ich seitdem in den Artilleristen
die Vertreter eines besondern Stammes und unterschied sorgfältig zwischen Preußen
und Prussiens. So vermehrte sich meine Phantasie noch die Rätsel der Welt des
Kriegs, die sich im Bilde vor mir auftat.

Von allem, was mir meine Mutter aus dem ernsten Bilderbuche vorlas, machte
ein Gedicht von Johann Gabriel Seidl auf mich den tiefsten Eindruck. Es hieß
"Der tote Soldat". Ich konnte es nicht oft genug hören, obwohl es mich rührte,
und obwohl ich mich damals schämte, meine Rührung zu zeigen. Das Gedicht war
mit einem Rahmen von Illustrationen eingefaßt. Ein Husar und sein Schimmel
liegen tot, im Hintergründe reiten Generale mit Federhüten vorüber:

[Beginn Spaltensatz] Auf ferner, fremder Ane
Da liegt ein toter Soldat.
Ein ungezählter, vergeszner.
Wie brav er gekttmvst auch hat. [Spaltenumbruch] Es reiten viel Generale
M't Kreuzen an eben vorbe,.'
Denkt keiner, des der da liege,
Auch wert eines Kreuzlems sei. [Ende Spaltensatz]

Der Säbel des Reiters hing noch am Handgelenk, der eine Fuß noch im
Steigbügel, das Roß war schwer zusammengebrochen -- der Tod hatte die starke
Kette von Gliedern und Waffen nicht zerrissen, sondern nur ihre Spannung gelöst.
Der Zeichner hatte die Plötzlich gelähmte, in sich znsammengesunkne Wucht des An¬
griffs gut dargestellt. Das erkenne ich jetzt. Mein Gedächtnis hat mir das Bild
treu aufbewahrt. Daß der Soldat tapfer kämpfend gefallen war, sahen schon meine
jungen Augen. Unter den Kreuzen und unter den Kreuzlein, wovon das Gedicht
spricht, konnte sich mein kindlicher Verstand nur Grabkreuze vorstellen. Ordenskreuze
hatten noch keinen Eindruck auf mich gemacht, und nun grübelte ich immer, wo die
Generale die Kreuze trugen, und warum sie dem toten Soldaten kein Kreuzlein
gaben. Das Gedicht gab mir noch andre Rätsel auf: wie sich der Tote anmelden
konnte, wie der Himmel die Tränen der Eltern aufnahm. Ich sah darin natürlich
Tatsachen und suchte mir ihren Verlauf zu erklären. Daß die Tränen in Form
eines Regens auf den Toten in der Ferne fielen, das leuchtete mir sofort ein, und
ebenso daß dem Armen mit dem Tränenregen eine Wohltat erwiesen wurde.

Oft mußte mir meine Mutter dieses Gedicht vorlesen, und sie wurde nicht
müde, es zu lesen, sie erkannte oder ahnte wohl, daß sich ihre Seele und meine in
der Teilnahme an dem Leide, wovon das Lied erzählt, begegneten, obwohl ich
meine Gefühle, so gut ich es konnte, in mich verschloß und in früherwachten
Knabenstolz auch vor den Augen meiner Mutter nie weinte, außer im Zorne. Den
Rätseln des Gedichts sann ich nur nach, ich fragte ihnen nicht nach, weil ich meine
tiefe Teilnahme an den geschilderten Schicksalen nicht durch Fragen verraten wollte.

Dieses Gedicht war das Gedicht meiner Kindheit. Es gab mir nicht nur
Rätsel auf, es gab mir auch Lehren, goldne Lehren, wie sie mir niemand gab.
weil niemand fähig war. sie mir zu geben, oder mich für sähig hielt, sie aufzu¬
nehmen. Es war neben den verwehten Klängen der Signale der tiefste, mächtigste


Grenzbote" III 1909 ü
Meine Jugend und die Religion

seiner Wochenschrift Über Land und Meer herausgegeben hat. Unermüdlich
blätterte ich darin, meine Mutter erklärte mir die Bilder. Ihre Deutungen deutete
meine junge Phantasie weiter, und sie versann sich manchmal. So hatte mir meine
Mutter alle Truppen, die auf den Bildern Pickelhauben trugen, als Preußen be¬
zeichnet. Als mein unermüdlich fragender Finger einmal auf einen preußischen
Artilleristen wies, an dessen Helm mir die Aufsatzkugel ausfiel, sagte sie scherzend:
Das ist ein Prussien. Da mein französischer Wortschatz in jener Zeit sehr dürftig
war und sich auf die Worte: toujours er^iUsr beschränkte, die ich als Erinnerung
an die Schanzarbeiten der französischen Kriegsgefangnen oft von Erwachsnen gehört
hatte, und da mir die Aufsatzkugel und die Aufsatzspitze ihre Träger noch schärfer
schieden wie die Namen Preuße und Prussien. sah ich seitdem in den Artilleristen
die Vertreter eines besondern Stammes und unterschied sorgfältig zwischen Preußen
und Prussiens. So vermehrte sich meine Phantasie noch die Rätsel der Welt des
Kriegs, die sich im Bilde vor mir auftat.

Von allem, was mir meine Mutter aus dem ernsten Bilderbuche vorlas, machte
ein Gedicht von Johann Gabriel Seidl auf mich den tiefsten Eindruck. Es hieß
„Der tote Soldat". Ich konnte es nicht oft genug hören, obwohl es mich rührte,
und obwohl ich mich damals schämte, meine Rührung zu zeigen. Das Gedicht war
mit einem Rahmen von Illustrationen eingefaßt. Ein Husar und sein Schimmel
liegen tot, im Hintergründe reiten Generale mit Federhüten vorüber:

[Beginn Spaltensatz] Auf ferner, fremder Ane
Da liegt ein toter Soldat.
Ein ungezählter, vergeszner.
Wie brav er gekttmvst auch hat. [Spaltenumbruch] Es reiten viel Generale
M't Kreuzen an eben vorbe,.'
Denkt keiner, des der da liege,
Auch wert eines Kreuzlems sei. [Ende Spaltensatz]

Der Säbel des Reiters hing noch am Handgelenk, der eine Fuß noch im
Steigbügel, das Roß war schwer zusammengebrochen — der Tod hatte die starke
Kette von Gliedern und Waffen nicht zerrissen, sondern nur ihre Spannung gelöst.
Der Zeichner hatte die Plötzlich gelähmte, in sich znsammengesunkne Wucht des An¬
griffs gut dargestellt. Das erkenne ich jetzt. Mein Gedächtnis hat mir das Bild
treu aufbewahrt. Daß der Soldat tapfer kämpfend gefallen war, sahen schon meine
jungen Augen. Unter den Kreuzen und unter den Kreuzlein, wovon das Gedicht
spricht, konnte sich mein kindlicher Verstand nur Grabkreuze vorstellen. Ordenskreuze
hatten noch keinen Eindruck auf mich gemacht, und nun grübelte ich immer, wo die
Generale die Kreuze trugen, und warum sie dem toten Soldaten kein Kreuzlein
gaben. Das Gedicht gab mir noch andre Rätsel auf: wie sich der Tote anmelden
konnte, wie der Himmel die Tränen der Eltern aufnahm. Ich sah darin natürlich
Tatsachen und suchte mir ihren Verlauf zu erklären. Daß die Tränen in Form
eines Regens auf den Toten in der Ferne fielen, das leuchtete mir sofort ein, und
ebenso daß dem Armen mit dem Tränenregen eine Wohltat erwiesen wurde.

Oft mußte mir meine Mutter dieses Gedicht vorlesen, und sie wurde nicht
müde, es zu lesen, sie erkannte oder ahnte wohl, daß sich ihre Seele und meine in
der Teilnahme an dem Leide, wovon das Lied erzählt, begegneten, obwohl ich
meine Gefühle, so gut ich es konnte, in mich verschloß und in früherwachten
Knabenstolz auch vor den Augen meiner Mutter nie weinte, außer im Zorne. Den
Rätseln des Gedichts sann ich nur nach, ich fragte ihnen nicht nach, weil ich meine
tiefe Teilnahme an den geschilderten Schicksalen nicht durch Fragen verraten wollte.

Dieses Gedicht war das Gedicht meiner Kindheit. Es gab mir nicht nur
Rätsel auf, es gab mir auch Lehren, goldne Lehren, wie sie mir niemand gab.
weil niemand fähig war. sie mir zu geben, oder mich für sähig hielt, sie aufzu¬
nehmen. Es war neben den verwehten Klängen der Signale der tiefste, mächtigste


Grenzbote» III 1909 ü
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[0041] Meine Jugend und die Religion seiner Wochenschrift Über Land und Meer herausgegeben hat. Unermüdlich blätterte ich darin, meine Mutter erklärte mir die Bilder. Ihre Deutungen deutete meine junge Phantasie weiter, und sie versann sich manchmal. So hatte mir meine Mutter alle Truppen, die auf den Bildern Pickelhauben trugen, als Preußen be¬ zeichnet. Als mein unermüdlich fragender Finger einmal auf einen preußischen Artilleristen wies, an dessen Helm mir die Aufsatzkugel ausfiel, sagte sie scherzend: Das ist ein Prussien. Da mein französischer Wortschatz in jener Zeit sehr dürftig war und sich auf die Worte: toujours er^iUsr beschränkte, die ich als Erinnerung an die Schanzarbeiten der französischen Kriegsgefangnen oft von Erwachsnen gehört hatte, und da mir die Aufsatzkugel und die Aufsatzspitze ihre Träger noch schärfer schieden wie die Namen Preuße und Prussien. sah ich seitdem in den Artilleristen die Vertreter eines besondern Stammes und unterschied sorgfältig zwischen Preußen und Prussiens. So vermehrte sich meine Phantasie noch die Rätsel der Welt des Kriegs, die sich im Bilde vor mir auftat. Von allem, was mir meine Mutter aus dem ernsten Bilderbuche vorlas, machte ein Gedicht von Johann Gabriel Seidl auf mich den tiefsten Eindruck. Es hieß „Der tote Soldat". Ich konnte es nicht oft genug hören, obwohl es mich rührte, und obwohl ich mich damals schämte, meine Rührung zu zeigen. Das Gedicht war mit einem Rahmen von Illustrationen eingefaßt. Ein Husar und sein Schimmel liegen tot, im Hintergründe reiten Generale mit Federhüten vorüber: Auf ferner, fremder Ane Da liegt ein toter Soldat. Ein ungezählter, vergeszner. Wie brav er gekttmvst auch hat. Es reiten viel Generale M't Kreuzen an eben vorbe,.' Denkt keiner, des der da liege, Auch wert eines Kreuzlems sei. Der Säbel des Reiters hing noch am Handgelenk, der eine Fuß noch im Steigbügel, das Roß war schwer zusammengebrochen — der Tod hatte die starke Kette von Gliedern und Waffen nicht zerrissen, sondern nur ihre Spannung gelöst. Der Zeichner hatte die Plötzlich gelähmte, in sich znsammengesunkne Wucht des An¬ griffs gut dargestellt. Das erkenne ich jetzt. Mein Gedächtnis hat mir das Bild treu aufbewahrt. Daß der Soldat tapfer kämpfend gefallen war, sahen schon meine jungen Augen. Unter den Kreuzen und unter den Kreuzlein, wovon das Gedicht spricht, konnte sich mein kindlicher Verstand nur Grabkreuze vorstellen. Ordenskreuze hatten noch keinen Eindruck auf mich gemacht, und nun grübelte ich immer, wo die Generale die Kreuze trugen, und warum sie dem toten Soldaten kein Kreuzlein gaben. Das Gedicht gab mir noch andre Rätsel auf: wie sich der Tote anmelden konnte, wie der Himmel die Tränen der Eltern aufnahm. Ich sah darin natürlich Tatsachen und suchte mir ihren Verlauf zu erklären. Daß die Tränen in Form eines Regens auf den Toten in der Ferne fielen, das leuchtete mir sofort ein, und ebenso daß dem Armen mit dem Tränenregen eine Wohltat erwiesen wurde. Oft mußte mir meine Mutter dieses Gedicht vorlesen, und sie wurde nicht müde, es zu lesen, sie erkannte oder ahnte wohl, daß sich ihre Seele und meine in der Teilnahme an dem Leide, wovon das Lied erzählt, begegneten, obwohl ich meine Gefühle, so gut ich es konnte, in mich verschloß und in früherwachten Knabenstolz auch vor den Augen meiner Mutter nie weinte, außer im Zorne. Den Rätseln des Gedichts sann ich nur nach, ich fragte ihnen nicht nach, weil ich meine tiefe Teilnahme an den geschilderten Schicksalen nicht durch Fragen verraten wollte. Dieses Gedicht war das Gedicht meiner Kindheit. Es gab mir nicht nur Rätsel auf, es gab mir auch Lehren, goldne Lehren, wie sie mir niemand gab. weil niemand fähig war. sie mir zu geben, oder mich für sähig hielt, sie aufzu¬ nehmen. Es war neben den verwehten Klängen der Signale der tiefste, mächtigste Grenzbote» III 1909 ü

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/41>, abgerufen am 22.07.2024.