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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Ligenart

Wenigstens seit den letzten zwei Jahrhunderten die Art geselligen Verkehrs, in
dem zeremonielle Höflichkeit und leere Galanterie die Hauptrolle spielen. Was
dem englischen Charakter angeboren ist, ist das Interesse für kommunale An¬
gelegenheiten, für sanitäre Einrichtungen und für Steigerung des Komforts.
Das Wichtigste ist ihm, kurz gesagt, tatkräftige Fürsorge für die Erhaltung
körperlichen und geistigen Wohlbefindens innerhalb seines Wirkungskreises.

Es wird mir schwer, die beiden Gegensätze im englischen Charakter, seinen
Gemeinsinn und seinen unleugbaren Mangel an Gemüt, miteinander in Ein¬
klang zu bringen. In jener Beziehung lobe und bewundre ich meine Lands¬
leute; in dieser verabscheue ich sie und gehe ihnen, wo ich nur kann, aus
dem Wege.

In frühern Zeiten bestand die Ansicht, die Engländer hätten Gemüt.
Haben sie es heute nicht mehr? Hat etwa das Jahrhundert der Wissenschaft
und der nimmersatten Habgier ihren Charakter verdorben? Es scheint beinah
so, wenigstens nach meinen Erfahrungen, die ich in englischen Gasthäusern ge¬
macht, wo man fast allenthalben mürrischer Gleichgiltigkeit oder gar brutaler
Gesinnung begegnet, wo die Mahlzeiten hastig verschlungen, Bier und Schnaps
nach der Väter Brauch in sinnloser Menge getrunken werden, wo eine freund¬
liche Ansprache so selten ist, daß sie auffällt. Zweierlei muß man jedoch be¬
rücksichtigen: erstens den außerordentlichen Unterschied zwischen einem gebildeten
und einem ungebildeten Engländer; zweitens die angeborne Unfähigkeit aller
Engländer, ihr wahres Ich, sogar unter den günstigsten Umständen, zu offen¬
baren. Der Abstand im Benehmen eines Gentleman und eines Mannes aus
dem Volke ist so groß, daß ein flüchtiger Beobachter mit Recht auf den Ge¬
danken kommen kann, der Unterschied im Geist und Charakter sei ein radikaler.
Kein Land in Europa (mit Ausnahme vielleicht von Rußland) weist eine so
tiefe Kluft innerhalb der Bevölkerung auf wie England. Das gemeine Volk
bildet natürlich die Mehrheit, und sein Anblick drängt sich dem Reisenden auf.
Nur wenn er den allzunahen Verkehr mit jener vermeidet, kann er gerecht über
das Volk selbst urteilen. Er erkennt dann, daß das gemeine Volk dieselben
vortrefflichen Eigenschaften, wenn auch urwüchsiger und weniger zielbewußt, zum
großen Teil hat, wie der Gentleman, und daß es mit zu der ganzen Nation
gehört, von der es einst als Teil abgesondert wurde. Um diese Menge von
Grund aus zu verstehn, muß man durch ihre unerträgliche Außenseite hindurch¬
dringen, dann wird man erfahren, daß edle, staatsbürgerliche Eigenschaften sehr
wohl mit einem beinah abstoßenden persönlichen Gebaren vereinbar sind. Was
das zurückhaltende und zugeknöpfte Wesen des gebildeten Engländers betrifft, so
brauche ich nur bei mir selbst Einkehr zu halten. Ich bin, um die Wahrheit zu
sagen, nicht gerade das Muster eines Engländers; ich bin zu eingebildet und zu
sehr mit meinen eignen Ideen beschäftigt, als daß Nationalgefühl und Sinn für
soziale Bestrebungen bei mir sehr kräftig entwickelt wären. Komme ich mit ein paar
Leuten aus dem großen Haufen zusammen, so fühle ich sofort einen instinktiven


Englische Ligenart

Wenigstens seit den letzten zwei Jahrhunderten die Art geselligen Verkehrs, in
dem zeremonielle Höflichkeit und leere Galanterie die Hauptrolle spielen. Was
dem englischen Charakter angeboren ist, ist das Interesse für kommunale An¬
gelegenheiten, für sanitäre Einrichtungen und für Steigerung des Komforts.
Das Wichtigste ist ihm, kurz gesagt, tatkräftige Fürsorge für die Erhaltung
körperlichen und geistigen Wohlbefindens innerhalb seines Wirkungskreises.

Es wird mir schwer, die beiden Gegensätze im englischen Charakter, seinen
Gemeinsinn und seinen unleugbaren Mangel an Gemüt, miteinander in Ein¬
klang zu bringen. In jener Beziehung lobe und bewundre ich meine Lands¬
leute; in dieser verabscheue ich sie und gehe ihnen, wo ich nur kann, aus
dem Wege.

In frühern Zeiten bestand die Ansicht, die Engländer hätten Gemüt.
Haben sie es heute nicht mehr? Hat etwa das Jahrhundert der Wissenschaft
und der nimmersatten Habgier ihren Charakter verdorben? Es scheint beinah
so, wenigstens nach meinen Erfahrungen, die ich in englischen Gasthäusern ge¬
macht, wo man fast allenthalben mürrischer Gleichgiltigkeit oder gar brutaler
Gesinnung begegnet, wo die Mahlzeiten hastig verschlungen, Bier und Schnaps
nach der Väter Brauch in sinnloser Menge getrunken werden, wo eine freund¬
liche Ansprache so selten ist, daß sie auffällt. Zweierlei muß man jedoch be¬
rücksichtigen: erstens den außerordentlichen Unterschied zwischen einem gebildeten
und einem ungebildeten Engländer; zweitens die angeborne Unfähigkeit aller
Engländer, ihr wahres Ich, sogar unter den günstigsten Umständen, zu offen¬
baren. Der Abstand im Benehmen eines Gentleman und eines Mannes aus
dem Volke ist so groß, daß ein flüchtiger Beobachter mit Recht auf den Ge¬
danken kommen kann, der Unterschied im Geist und Charakter sei ein radikaler.
Kein Land in Europa (mit Ausnahme vielleicht von Rußland) weist eine so
tiefe Kluft innerhalb der Bevölkerung auf wie England. Das gemeine Volk
bildet natürlich die Mehrheit, und sein Anblick drängt sich dem Reisenden auf.
Nur wenn er den allzunahen Verkehr mit jener vermeidet, kann er gerecht über
das Volk selbst urteilen. Er erkennt dann, daß das gemeine Volk dieselben
vortrefflichen Eigenschaften, wenn auch urwüchsiger und weniger zielbewußt, zum
großen Teil hat, wie der Gentleman, und daß es mit zu der ganzen Nation
gehört, von der es einst als Teil abgesondert wurde. Um diese Menge von
Grund aus zu verstehn, muß man durch ihre unerträgliche Außenseite hindurch¬
dringen, dann wird man erfahren, daß edle, staatsbürgerliche Eigenschaften sehr
wohl mit einem beinah abstoßenden persönlichen Gebaren vereinbar sind. Was
das zurückhaltende und zugeknöpfte Wesen des gebildeten Engländers betrifft, so
brauche ich nur bei mir selbst Einkehr zu halten. Ich bin, um die Wahrheit zu
sagen, nicht gerade das Muster eines Engländers; ich bin zu eingebildet und zu
sehr mit meinen eignen Ideen beschäftigt, als daß Nationalgefühl und Sinn für
soziale Bestrebungen bei mir sehr kräftig entwickelt wären. Komme ich mit ein paar
Leuten aus dem großen Haufen zusammen, so fühle ich sofort einen instinktiven


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[0263] Englische Ligenart Wenigstens seit den letzten zwei Jahrhunderten die Art geselligen Verkehrs, in dem zeremonielle Höflichkeit und leere Galanterie die Hauptrolle spielen. Was dem englischen Charakter angeboren ist, ist das Interesse für kommunale An¬ gelegenheiten, für sanitäre Einrichtungen und für Steigerung des Komforts. Das Wichtigste ist ihm, kurz gesagt, tatkräftige Fürsorge für die Erhaltung körperlichen und geistigen Wohlbefindens innerhalb seines Wirkungskreises. Es wird mir schwer, die beiden Gegensätze im englischen Charakter, seinen Gemeinsinn und seinen unleugbaren Mangel an Gemüt, miteinander in Ein¬ klang zu bringen. In jener Beziehung lobe und bewundre ich meine Lands¬ leute; in dieser verabscheue ich sie und gehe ihnen, wo ich nur kann, aus dem Wege. In frühern Zeiten bestand die Ansicht, die Engländer hätten Gemüt. Haben sie es heute nicht mehr? Hat etwa das Jahrhundert der Wissenschaft und der nimmersatten Habgier ihren Charakter verdorben? Es scheint beinah so, wenigstens nach meinen Erfahrungen, die ich in englischen Gasthäusern ge¬ macht, wo man fast allenthalben mürrischer Gleichgiltigkeit oder gar brutaler Gesinnung begegnet, wo die Mahlzeiten hastig verschlungen, Bier und Schnaps nach der Väter Brauch in sinnloser Menge getrunken werden, wo eine freund¬ liche Ansprache so selten ist, daß sie auffällt. Zweierlei muß man jedoch be¬ rücksichtigen: erstens den außerordentlichen Unterschied zwischen einem gebildeten und einem ungebildeten Engländer; zweitens die angeborne Unfähigkeit aller Engländer, ihr wahres Ich, sogar unter den günstigsten Umständen, zu offen¬ baren. Der Abstand im Benehmen eines Gentleman und eines Mannes aus dem Volke ist so groß, daß ein flüchtiger Beobachter mit Recht auf den Ge¬ danken kommen kann, der Unterschied im Geist und Charakter sei ein radikaler. Kein Land in Europa (mit Ausnahme vielleicht von Rußland) weist eine so tiefe Kluft innerhalb der Bevölkerung auf wie England. Das gemeine Volk bildet natürlich die Mehrheit, und sein Anblick drängt sich dem Reisenden auf. Nur wenn er den allzunahen Verkehr mit jener vermeidet, kann er gerecht über das Volk selbst urteilen. Er erkennt dann, daß das gemeine Volk dieselben vortrefflichen Eigenschaften, wenn auch urwüchsiger und weniger zielbewußt, zum großen Teil hat, wie der Gentleman, und daß es mit zu der ganzen Nation gehört, von der es einst als Teil abgesondert wurde. Um diese Menge von Grund aus zu verstehn, muß man durch ihre unerträgliche Außenseite hindurch¬ dringen, dann wird man erfahren, daß edle, staatsbürgerliche Eigenschaften sehr wohl mit einem beinah abstoßenden persönlichen Gebaren vereinbar sind. Was das zurückhaltende und zugeknöpfte Wesen des gebildeten Engländers betrifft, so brauche ich nur bei mir selbst Einkehr zu halten. Ich bin, um die Wahrheit zu sagen, nicht gerade das Muster eines Engländers; ich bin zu eingebildet und zu sehr mit meinen eignen Ideen beschäftigt, als daß Nationalgefühl und Sinn für soziale Bestrebungen bei mir sehr kräftig entwickelt wären. Komme ich mit ein paar Leuten aus dem großen Haufen zusammen, so fühle ich sofort einen instinktiven

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/263>, abgerufen am 23.07.2024.