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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

wird auch das Wort "Heim" nur noch in einer absorbens.chen Bedeutung
existieren; man wird damit das Pfründnerhaus für altersschwache Tagelöhner
bezeichnen.

Es ärgert mich, wenn ich an einem Ladenfenster ausländische Butter aus¬
gestellt sehe. Das stimmt mich traurig, denn ich denke dabei an die Zukunft
Englands. Die Minderwertigkeit der englischen Butter ist eines der schlimmsten
Anzeichen des moralischen'Verfalls unsers Volkstums. Sie verrät den Nieder¬
gang unsrer Landwirtschaft. Denn hört der Bauer auf, stolz auf seine Butter
zu sein, so taugen beide nicht mehr viel. Wird der Bauer nachlässig in seiner
Arbeit, trachtet er nach unehrlichen Gewinn, besorgt er verdrossen und ver¬
ächtlich seine Geschäfte -- an seiner Butter kommen alle diese seine Untugenden
zum Vorschein. Arg müssen seine Untugenden jetzt sein. Denn erträgliche
heimische Butter ist eine Seltenheit geworden. Entsetzlich dünkt mich deshalb
die Tatsache, daß England in bezug auf Molkereiprodukte vollkommen in Ab¬
hängigkeit von Frankreich, Dänemark und Amerika geraten ist. Hätten wir
einen wirklich einsichtigen Staatsmann und treuen Mahner des Volks, die
Ohren der englischen Gutsbesitzer und Farmer müßten gellen von Vorwürfen
zweckwidriger Raffiniertheit und voraussichtsloser Borniertheit.

Das ungünstige Urteil aller Ausländer über uns Engländer finde ich
begreiflich. Man reise nur selbst auf der Eisenbahn im Lande umher, lebe
in Hotels, sehe weiter nichts, als was sich offenkundig auf Straßen und
Plätzen zuträgt, und man wird überall den Eindruck bekommen, daß vornehmlich
egoistische Hartherzigkeit, Schroffheit und Verdrossenheit dem Engländer eigen
sind, kurzum ein Benehmen, das mit dem Muster verfeinerter Umgangsformen
im schärfsten Kontraste steht. Und doch hat keine Nation in so hohem Grade
die Tugenden sozialen Verkehrs und des Bürgersinns.

Der Engländer ungesellig? ein Menschenfeind? Wo steckt er? Wo in
aller Welt gibt es ein so vielfältiges, eifriges, der Allgemeinheit dienendes
Zusammenwirken aller Schichten der Bevölkerung, namentlich unter den Ge¬
bildeten? Selten trifft man einen Mann oder eine Frau, die nicht einem
Verein angehörte, sei es zu wissenschaftlichen Zwecken, sei es zum Be¬
trieb eines Sports oder zur Förderung städtischer oder staatlicher Angelegen¬
heiten. Jeder strebt danach, sich auch außerhalb seines Berufes als ein nütz¬
liches Mitglied der Gesellschaft zu betätigen. Sogar in den als schlafmützig
verschrienen Landstädtchen grassiert das Vereinsfieber heftiger als in jenen
Ländern, die am meisten wegen ihrer Geselligkeit gerühmt werden.

Das Wesen gesitteten Umgangs besteht nicht darin, daß man jederzeit
bereit ist, mit irgendeinem Beliebiger ein längeres Gespräch anzuknüpfen;
Grazie und freundliches Entgegenkommen sind nicht unentbehrliche Ingredienzien;
knappe Zurückhaltung ist durchaus nicht UnHöflichkeit; sogar ungeschliffne Ma¬
nieren, wenn sie nicht gar zu grob sind, lassen sich mit einem weltläufigen Be¬
nehmen vereinbaren. Dem englischen Charakter widerstrebte von jeher oder


Englische Eigenart

wird auch das Wort „Heim" nur noch in einer absorbens.chen Bedeutung
existieren; man wird damit das Pfründnerhaus für altersschwache Tagelöhner
bezeichnen.

Es ärgert mich, wenn ich an einem Ladenfenster ausländische Butter aus¬
gestellt sehe. Das stimmt mich traurig, denn ich denke dabei an die Zukunft
Englands. Die Minderwertigkeit der englischen Butter ist eines der schlimmsten
Anzeichen des moralischen'Verfalls unsers Volkstums. Sie verrät den Nieder¬
gang unsrer Landwirtschaft. Denn hört der Bauer auf, stolz auf seine Butter
zu sein, so taugen beide nicht mehr viel. Wird der Bauer nachlässig in seiner
Arbeit, trachtet er nach unehrlichen Gewinn, besorgt er verdrossen und ver¬
ächtlich seine Geschäfte — an seiner Butter kommen alle diese seine Untugenden
zum Vorschein. Arg müssen seine Untugenden jetzt sein. Denn erträgliche
heimische Butter ist eine Seltenheit geworden. Entsetzlich dünkt mich deshalb
die Tatsache, daß England in bezug auf Molkereiprodukte vollkommen in Ab¬
hängigkeit von Frankreich, Dänemark und Amerika geraten ist. Hätten wir
einen wirklich einsichtigen Staatsmann und treuen Mahner des Volks, die
Ohren der englischen Gutsbesitzer und Farmer müßten gellen von Vorwürfen
zweckwidriger Raffiniertheit und voraussichtsloser Borniertheit.

Das ungünstige Urteil aller Ausländer über uns Engländer finde ich
begreiflich. Man reise nur selbst auf der Eisenbahn im Lande umher, lebe
in Hotels, sehe weiter nichts, als was sich offenkundig auf Straßen und
Plätzen zuträgt, und man wird überall den Eindruck bekommen, daß vornehmlich
egoistische Hartherzigkeit, Schroffheit und Verdrossenheit dem Engländer eigen
sind, kurzum ein Benehmen, das mit dem Muster verfeinerter Umgangsformen
im schärfsten Kontraste steht. Und doch hat keine Nation in so hohem Grade
die Tugenden sozialen Verkehrs und des Bürgersinns.

Der Engländer ungesellig? ein Menschenfeind? Wo steckt er? Wo in
aller Welt gibt es ein so vielfältiges, eifriges, der Allgemeinheit dienendes
Zusammenwirken aller Schichten der Bevölkerung, namentlich unter den Ge¬
bildeten? Selten trifft man einen Mann oder eine Frau, die nicht einem
Verein angehörte, sei es zu wissenschaftlichen Zwecken, sei es zum Be¬
trieb eines Sports oder zur Förderung städtischer oder staatlicher Angelegen¬
heiten. Jeder strebt danach, sich auch außerhalb seines Berufes als ein nütz¬
liches Mitglied der Gesellschaft zu betätigen. Sogar in den als schlafmützig
verschrienen Landstädtchen grassiert das Vereinsfieber heftiger als in jenen
Ländern, die am meisten wegen ihrer Geselligkeit gerühmt werden.

Das Wesen gesitteten Umgangs besteht nicht darin, daß man jederzeit
bereit ist, mit irgendeinem Beliebiger ein längeres Gespräch anzuknüpfen;
Grazie und freundliches Entgegenkommen sind nicht unentbehrliche Ingredienzien;
knappe Zurückhaltung ist durchaus nicht UnHöflichkeit; sogar ungeschliffne Ma¬
nieren, wenn sie nicht gar zu grob sind, lassen sich mit einem weltläufigen Be¬
nehmen vereinbaren. Dem englischen Charakter widerstrebte von jeher oder


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[0262] Englische Eigenart wird auch das Wort „Heim" nur noch in einer absorbens.chen Bedeutung existieren; man wird damit das Pfründnerhaus für altersschwache Tagelöhner bezeichnen. Es ärgert mich, wenn ich an einem Ladenfenster ausländische Butter aus¬ gestellt sehe. Das stimmt mich traurig, denn ich denke dabei an die Zukunft Englands. Die Minderwertigkeit der englischen Butter ist eines der schlimmsten Anzeichen des moralischen'Verfalls unsers Volkstums. Sie verrät den Nieder¬ gang unsrer Landwirtschaft. Denn hört der Bauer auf, stolz auf seine Butter zu sein, so taugen beide nicht mehr viel. Wird der Bauer nachlässig in seiner Arbeit, trachtet er nach unehrlichen Gewinn, besorgt er verdrossen und ver¬ ächtlich seine Geschäfte — an seiner Butter kommen alle diese seine Untugenden zum Vorschein. Arg müssen seine Untugenden jetzt sein. Denn erträgliche heimische Butter ist eine Seltenheit geworden. Entsetzlich dünkt mich deshalb die Tatsache, daß England in bezug auf Molkereiprodukte vollkommen in Ab¬ hängigkeit von Frankreich, Dänemark und Amerika geraten ist. Hätten wir einen wirklich einsichtigen Staatsmann und treuen Mahner des Volks, die Ohren der englischen Gutsbesitzer und Farmer müßten gellen von Vorwürfen zweckwidriger Raffiniertheit und voraussichtsloser Borniertheit. Das ungünstige Urteil aller Ausländer über uns Engländer finde ich begreiflich. Man reise nur selbst auf der Eisenbahn im Lande umher, lebe in Hotels, sehe weiter nichts, als was sich offenkundig auf Straßen und Plätzen zuträgt, und man wird überall den Eindruck bekommen, daß vornehmlich egoistische Hartherzigkeit, Schroffheit und Verdrossenheit dem Engländer eigen sind, kurzum ein Benehmen, das mit dem Muster verfeinerter Umgangsformen im schärfsten Kontraste steht. Und doch hat keine Nation in so hohem Grade die Tugenden sozialen Verkehrs und des Bürgersinns. Der Engländer ungesellig? ein Menschenfeind? Wo steckt er? Wo in aller Welt gibt es ein so vielfältiges, eifriges, der Allgemeinheit dienendes Zusammenwirken aller Schichten der Bevölkerung, namentlich unter den Ge¬ bildeten? Selten trifft man einen Mann oder eine Frau, die nicht einem Verein angehörte, sei es zu wissenschaftlichen Zwecken, sei es zum Be¬ trieb eines Sports oder zur Förderung städtischer oder staatlicher Angelegen¬ heiten. Jeder strebt danach, sich auch außerhalb seines Berufes als ein nütz¬ liches Mitglied der Gesellschaft zu betätigen. Sogar in den als schlafmützig verschrienen Landstädtchen grassiert das Vereinsfieber heftiger als in jenen Ländern, die am meisten wegen ihrer Geselligkeit gerühmt werden. Das Wesen gesitteten Umgangs besteht nicht darin, daß man jederzeit bereit ist, mit irgendeinem Beliebiger ein längeres Gespräch anzuknüpfen; Grazie und freundliches Entgegenkommen sind nicht unentbehrliche Ingredienzien; knappe Zurückhaltung ist durchaus nicht UnHöflichkeit; sogar ungeschliffne Ma¬ nieren, wenn sie nicht gar zu grob sind, lassen sich mit einem weltläufigen Be¬ nehmen vereinbaren. Dem englischen Charakter widerstrebte von jeher oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/262>, abgerufen am 22.12.2024.