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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

Widerwillen, ein Verlangen, mich auf mich selbst zurückzuziehen, eine Art hoch¬
mütiger Verachtung -- sind das nicht gerade die Charakterzüge, die die Fremden
dem Engländer bei zufälliger Begegnung zum Vorwurf machen? Mir eigen¬
tümlich ist nur, diese Gefühle, sowie sie auftauchen, gleich wieder zu unterdrücken,
was mir auch meist gelingt. Soweit ich mich kenne, bin ich nicht ohne Gemüt,
und doch bin ich überzeugt, daß viele, die vorübergehend meine Bekanntschaft
gemacht haben, sagen werden, mein Hauptfehler sei Mangel an Gemüt. Man
muß mich eben in günstiger Laune finden, und auch die äußern Umstände
müssen günstige sein -- damit ist einfach gesagt: ich bin ein Engländer durch
und durch.

Der jetzigen Gesinnung der Engländer entspricht es, daß das Oberhaupt
ihres Staates König oder Königin genannt wird; dieser Titel gefällt ihnen;
er befriedigt das nationale Gefühl; wird seine Bedeutung auch nur ganz un¬
bestimmt begriffen, er übt doch eine beständige Wirkung aus in der Form
loyaler Anhänglichkeit und Treue. Da die Mehrzahl des Volkes so denkt, und
das monarchische Prinzip nicht nur erträglich ist, sondern sich auch als heilsam
erweist, wozu das Experiment einer Veränderung im Sinne einer modernen
Staatsauffassung? Die Nation ist mit dem gegenwärtigen Zustande zufrieden
und zahlt bereitwillig, was er kostet; sie kümmert sich um weiter nichts. Wer
könnte auch nur mit einiger Gewißheit behaupten, daß eine Veränderung zu¬
gunsten der üblichen republikanischen Einrichtungen einen Vorteil für die Ge¬
samtheit bringen würde? Sind die Länder, die ein solches Experiment gemacht
haben, in betreff der allgemeinen Wohlfahrt und einer konstanten, ruhig tätigen
Regierung so viel besser daran als wir? Theoretiker verspotten uns wegen
unsrer Förmlichkeiten, die keine Bedeutung mehr haben, wegen der Privilegien,
deren Berechtigung keine Prüfung vertrüge, wegen unsrer politischen Kompromisse,
die sich lächerlich ausnehmen, wegen unsrer Nachgiebigkeit, die verächtlich er¬
scheint. Diese Theoretiker sollen nur einmal in xraxi versuchen, alle Menschen
vernünftig, konsequent und rechtschaffen zu machen. Keine dieser schönen Eigen¬
schaften haben die Engländer -- wie mir vorkommt -- in einem außergewöhn¬
lichen Grade. Ihre Stärke als Politiker beruht auf der Erkenntnis des Er¬
reichbaren und auf dem Respekt vor vollendeten Tatsachen. Besonders klar ist
ihnen, wie sehr ihrer Denkweise, ihren Neigungen und Gewohnheiten ein
Staatssystem entspricht, das durch die bedächtige Tätigkeit von Generationen
auf dem Boden des meerumschlungnen Königreichs aufgebaut worden ist. Sie
wollen nichts wissen von kosmopolitischen Schwärmereien; niemals haben sie
sich über "die allgemeinen Menschenrechte" den Kopf zerbrochen. Aber die
Ohren spitzen sie und hören zu, wenn man über die Gerechtsame eines Krämers
oder Bauern oder selbst eines Katzensleischverkäufers einen Disput anfängt; ist
der Fall nach allen Seiten geprüft, dann werden sie Mittel und Wege finden,
um sich ernstlich damit zu befassen. Das ist ihre charakteristische Art. "Hier
erprobt sich recht unser gesunder Menschenverstand", sagen sie. Der ist nach


Englische Eigenart

Widerwillen, ein Verlangen, mich auf mich selbst zurückzuziehen, eine Art hoch¬
mütiger Verachtung — sind das nicht gerade die Charakterzüge, die die Fremden
dem Engländer bei zufälliger Begegnung zum Vorwurf machen? Mir eigen¬
tümlich ist nur, diese Gefühle, sowie sie auftauchen, gleich wieder zu unterdrücken,
was mir auch meist gelingt. Soweit ich mich kenne, bin ich nicht ohne Gemüt,
und doch bin ich überzeugt, daß viele, die vorübergehend meine Bekanntschaft
gemacht haben, sagen werden, mein Hauptfehler sei Mangel an Gemüt. Man
muß mich eben in günstiger Laune finden, und auch die äußern Umstände
müssen günstige sein — damit ist einfach gesagt: ich bin ein Engländer durch
und durch.

Der jetzigen Gesinnung der Engländer entspricht es, daß das Oberhaupt
ihres Staates König oder Königin genannt wird; dieser Titel gefällt ihnen;
er befriedigt das nationale Gefühl; wird seine Bedeutung auch nur ganz un¬
bestimmt begriffen, er übt doch eine beständige Wirkung aus in der Form
loyaler Anhänglichkeit und Treue. Da die Mehrzahl des Volkes so denkt, und
das monarchische Prinzip nicht nur erträglich ist, sondern sich auch als heilsam
erweist, wozu das Experiment einer Veränderung im Sinne einer modernen
Staatsauffassung? Die Nation ist mit dem gegenwärtigen Zustande zufrieden
und zahlt bereitwillig, was er kostet; sie kümmert sich um weiter nichts. Wer
könnte auch nur mit einiger Gewißheit behaupten, daß eine Veränderung zu¬
gunsten der üblichen republikanischen Einrichtungen einen Vorteil für die Ge¬
samtheit bringen würde? Sind die Länder, die ein solches Experiment gemacht
haben, in betreff der allgemeinen Wohlfahrt und einer konstanten, ruhig tätigen
Regierung so viel besser daran als wir? Theoretiker verspotten uns wegen
unsrer Förmlichkeiten, die keine Bedeutung mehr haben, wegen der Privilegien,
deren Berechtigung keine Prüfung vertrüge, wegen unsrer politischen Kompromisse,
die sich lächerlich ausnehmen, wegen unsrer Nachgiebigkeit, die verächtlich er¬
scheint. Diese Theoretiker sollen nur einmal in xraxi versuchen, alle Menschen
vernünftig, konsequent und rechtschaffen zu machen. Keine dieser schönen Eigen¬
schaften haben die Engländer — wie mir vorkommt — in einem außergewöhn¬
lichen Grade. Ihre Stärke als Politiker beruht auf der Erkenntnis des Er¬
reichbaren und auf dem Respekt vor vollendeten Tatsachen. Besonders klar ist
ihnen, wie sehr ihrer Denkweise, ihren Neigungen und Gewohnheiten ein
Staatssystem entspricht, das durch die bedächtige Tätigkeit von Generationen
auf dem Boden des meerumschlungnen Königreichs aufgebaut worden ist. Sie
wollen nichts wissen von kosmopolitischen Schwärmereien; niemals haben sie
sich über „die allgemeinen Menschenrechte" den Kopf zerbrochen. Aber die
Ohren spitzen sie und hören zu, wenn man über die Gerechtsame eines Krämers
oder Bauern oder selbst eines Katzensleischverkäufers einen Disput anfängt; ist
der Fall nach allen Seiten geprüft, dann werden sie Mittel und Wege finden,
um sich ernstlich damit zu befassen. Das ist ihre charakteristische Art. „Hier
erprobt sich recht unser gesunder Menschenverstand", sagen sie. Der ist nach


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[0264] Englische Eigenart Widerwillen, ein Verlangen, mich auf mich selbst zurückzuziehen, eine Art hoch¬ mütiger Verachtung — sind das nicht gerade die Charakterzüge, die die Fremden dem Engländer bei zufälliger Begegnung zum Vorwurf machen? Mir eigen¬ tümlich ist nur, diese Gefühle, sowie sie auftauchen, gleich wieder zu unterdrücken, was mir auch meist gelingt. Soweit ich mich kenne, bin ich nicht ohne Gemüt, und doch bin ich überzeugt, daß viele, die vorübergehend meine Bekanntschaft gemacht haben, sagen werden, mein Hauptfehler sei Mangel an Gemüt. Man muß mich eben in günstiger Laune finden, und auch die äußern Umstände müssen günstige sein — damit ist einfach gesagt: ich bin ein Engländer durch und durch. Der jetzigen Gesinnung der Engländer entspricht es, daß das Oberhaupt ihres Staates König oder Königin genannt wird; dieser Titel gefällt ihnen; er befriedigt das nationale Gefühl; wird seine Bedeutung auch nur ganz un¬ bestimmt begriffen, er übt doch eine beständige Wirkung aus in der Form loyaler Anhänglichkeit und Treue. Da die Mehrzahl des Volkes so denkt, und das monarchische Prinzip nicht nur erträglich ist, sondern sich auch als heilsam erweist, wozu das Experiment einer Veränderung im Sinne einer modernen Staatsauffassung? Die Nation ist mit dem gegenwärtigen Zustande zufrieden und zahlt bereitwillig, was er kostet; sie kümmert sich um weiter nichts. Wer könnte auch nur mit einiger Gewißheit behaupten, daß eine Veränderung zu¬ gunsten der üblichen republikanischen Einrichtungen einen Vorteil für die Ge¬ samtheit bringen würde? Sind die Länder, die ein solches Experiment gemacht haben, in betreff der allgemeinen Wohlfahrt und einer konstanten, ruhig tätigen Regierung so viel besser daran als wir? Theoretiker verspotten uns wegen unsrer Förmlichkeiten, die keine Bedeutung mehr haben, wegen der Privilegien, deren Berechtigung keine Prüfung vertrüge, wegen unsrer politischen Kompromisse, die sich lächerlich ausnehmen, wegen unsrer Nachgiebigkeit, die verächtlich er¬ scheint. Diese Theoretiker sollen nur einmal in xraxi versuchen, alle Menschen vernünftig, konsequent und rechtschaffen zu machen. Keine dieser schönen Eigen¬ schaften haben die Engländer — wie mir vorkommt — in einem außergewöhn¬ lichen Grade. Ihre Stärke als Politiker beruht auf der Erkenntnis des Er¬ reichbaren und auf dem Respekt vor vollendeten Tatsachen. Besonders klar ist ihnen, wie sehr ihrer Denkweise, ihren Neigungen und Gewohnheiten ein Staatssystem entspricht, das durch die bedächtige Tätigkeit von Generationen auf dem Boden des meerumschlungnen Königreichs aufgebaut worden ist. Sie wollen nichts wissen von kosmopolitischen Schwärmereien; niemals haben sie sich über „die allgemeinen Menschenrechte" den Kopf zerbrochen. Aber die Ohren spitzen sie und hören zu, wenn man über die Gerechtsame eines Krämers oder Bauern oder selbst eines Katzensleischverkäufers einen Disput anfängt; ist der Fall nach allen Seiten geprüft, dann werden sie Mittel und Wege finden, um sich ernstlich damit zu befassen. Das ist ihre charakteristische Art. „Hier erprobt sich recht unser gesunder Menschenverstand", sagen sie. Der ist nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/264>, abgerufen am 22.07.2024.