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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

Das Schlimmste an den Bauern unsrer Tage ist nicht ihre Unwissenheit
oder Dickköpfigkeit, sondern ihre rebellische Unzufriedenheit. Man muß dies
-- wie so viele andre Übel -- als eine unabwendbare Wirkung der modernen
Verhältnisse hinnehmen. Der Bauer verlangt seine Lage zu bessern; ihm
wird es zuwider, sich immer nur für Kühe und Ochsen zu plagen. Er bildet
sich ein, auf dem Pflaster von London ein menschenwürdigeres Dasein führen
zu können. O wie vergeblich all dieses Trachten nach einem glückseligen Ar¬
kadien! Ehemals fanden die Bauern das Leben ganz erträglich, sie waren
noch dazu intelligenter als die jetzigen dreckigen Dorflümmel. Sie sangen die
alten Volkslieder, erzählten sich Märchen, hielten an ehrwürdigen Gebräuchen
fest, an denen ihre Nachkommen wahrscheinlich so wenig Geschmack finden
dürften wie an einem Idyll von Theokrit, und hatten vor allem ein eignes
Heim. Welch ein Zauber lag für sie in dem Wort! Solange unser Bauer
das Feld liebt, das ihm Brot gibt, fällt ihm nicht ein, die Arbeit schwer zu
finden; er vergleicht sein Geschick nicht mit dem seines Viehs. Er richtet seine
Blicke nach aufwärts, und eilt Lichtschimmer aus einer andern Welt als der
sichtbaren fällt auf ihn.

Torinsk ists, über die Härten und die Monotonie des bäuerlichen Lebens
einen Schleier zu werfen; viel besser ists, man weist nachdrücklich auf sie hin,
damit die Lords, die Eigentümer des Bodens sind und ihre Renten daraus
beziehen, beständig in humaner Weise für jene Wesen Sorge tragen, die den
Boden zu einem fruchtbringenden machen. Ihre wohlwollende Sorgfalt ist
vielleicht imstande, einigermaßen der Rastlosigkeit unsrer Zeit entgegenzuwirken.
Denn der Bewohner eines gemütlichen Bauernhauses hat weniger Lust zum
Herumziehen als der Bewohner einer elenden Hütte. Wohlmeinende Leute
reden davon, man müßte durch verständige Belehrung die Liebe zum Aufent¬
halt auf dem Lande neu beleben. Kann man davon irgendeinen Nutzen er¬
warten? Glaubt man, die gute alte Zeit werde zurückkehren, wenn der Bauer
erfährt, wie auf Altenglisch die Blumen seiner Felder heißen, und wer
ihnen die Namen gegeben hat? Leider sind ja die alten volkstümlichen Be¬
nennungen von Blumen und Vögeln fast ganz in Vergessenheit geraten, ebenso
wie die alten Lieder und Feenmärchen; aber dies beweist nur, welche entsetz¬
lichen Fortschritte die Verlotterung unter dem Landvolke gemacht hat. Auf
eine Wiedererweckung der abgestorbnen Liebe für die alten Sitten und Gebräuche
kann schwerlich irgendein Verstündiger hoffen. Der Bauer der Zukunft wird
zweifellos nichts weiter sein als ein gut bezahlter, im Maschinenbetriebe be¬
wanderter Techniker; geht er zur Arbeit, wird er die Refrains der neusten
Tingeltangelcouplets vor sich hinträllern; seine häufigen Feiertage wird er in
der nächstgelegnen Großstadt zubringen; Gespräche, auch die geistreichsten, über
das Gemeinwohl werden ihn -- wie ich fürchte -- wenig anlocken. Alle
Blumen, wenigstens die auf den Feldern, werden wegen der lukrativern Ver¬
wendung von Grund und Boden allmählich verschwinden. Wahrscheinlich


Englische Eigenart

Das Schlimmste an den Bauern unsrer Tage ist nicht ihre Unwissenheit
oder Dickköpfigkeit, sondern ihre rebellische Unzufriedenheit. Man muß dies
— wie so viele andre Übel — als eine unabwendbare Wirkung der modernen
Verhältnisse hinnehmen. Der Bauer verlangt seine Lage zu bessern; ihm
wird es zuwider, sich immer nur für Kühe und Ochsen zu plagen. Er bildet
sich ein, auf dem Pflaster von London ein menschenwürdigeres Dasein führen
zu können. O wie vergeblich all dieses Trachten nach einem glückseligen Ar¬
kadien! Ehemals fanden die Bauern das Leben ganz erträglich, sie waren
noch dazu intelligenter als die jetzigen dreckigen Dorflümmel. Sie sangen die
alten Volkslieder, erzählten sich Märchen, hielten an ehrwürdigen Gebräuchen
fest, an denen ihre Nachkommen wahrscheinlich so wenig Geschmack finden
dürften wie an einem Idyll von Theokrit, und hatten vor allem ein eignes
Heim. Welch ein Zauber lag für sie in dem Wort! Solange unser Bauer
das Feld liebt, das ihm Brot gibt, fällt ihm nicht ein, die Arbeit schwer zu
finden; er vergleicht sein Geschick nicht mit dem seines Viehs. Er richtet seine
Blicke nach aufwärts, und eilt Lichtschimmer aus einer andern Welt als der
sichtbaren fällt auf ihn.

Torinsk ists, über die Härten und die Monotonie des bäuerlichen Lebens
einen Schleier zu werfen; viel besser ists, man weist nachdrücklich auf sie hin,
damit die Lords, die Eigentümer des Bodens sind und ihre Renten daraus
beziehen, beständig in humaner Weise für jene Wesen Sorge tragen, die den
Boden zu einem fruchtbringenden machen. Ihre wohlwollende Sorgfalt ist
vielleicht imstande, einigermaßen der Rastlosigkeit unsrer Zeit entgegenzuwirken.
Denn der Bewohner eines gemütlichen Bauernhauses hat weniger Lust zum
Herumziehen als der Bewohner einer elenden Hütte. Wohlmeinende Leute
reden davon, man müßte durch verständige Belehrung die Liebe zum Aufent¬
halt auf dem Lande neu beleben. Kann man davon irgendeinen Nutzen er¬
warten? Glaubt man, die gute alte Zeit werde zurückkehren, wenn der Bauer
erfährt, wie auf Altenglisch die Blumen seiner Felder heißen, und wer
ihnen die Namen gegeben hat? Leider sind ja die alten volkstümlichen Be¬
nennungen von Blumen und Vögeln fast ganz in Vergessenheit geraten, ebenso
wie die alten Lieder und Feenmärchen; aber dies beweist nur, welche entsetz¬
lichen Fortschritte die Verlotterung unter dem Landvolke gemacht hat. Auf
eine Wiedererweckung der abgestorbnen Liebe für die alten Sitten und Gebräuche
kann schwerlich irgendein Verstündiger hoffen. Der Bauer der Zukunft wird
zweifellos nichts weiter sein als ein gut bezahlter, im Maschinenbetriebe be¬
wanderter Techniker; geht er zur Arbeit, wird er die Refrains der neusten
Tingeltangelcouplets vor sich hinträllern; seine häufigen Feiertage wird er in
der nächstgelegnen Großstadt zubringen; Gespräche, auch die geistreichsten, über
das Gemeinwohl werden ihn — wie ich fürchte — wenig anlocken. Alle
Blumen, wenigstens die auf den Feldern, werden wegen der lukrativern Ver¬
wendung von Grund und Boden allmählich verschwinden. Wahrscheinlich


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[0261] Englische Eigenart Das Schlimmste an den Bauern unsrer Tage ist nicht ihre Unwissenheit oder Dickköpfigkeit, sondern ihre rebellische Unzufriedenheit. Man muß dies — wie so viele andre Übel — als eine unabwendbare Wirkung der modernen Verhältnisse hinnehmen. Der Bauer verlangt seine Lage zu bessern; ihm wird es zuwider, sich immer nur für Kühe und Ochsen zu plagen. Er bildet sich ein, auf dem Pflaster von London ein menschenwürdigeres Dasein führen zu können. O wie vergeblich all dieses Trachten nach einem glückseligen Ar¬ kadien! Ehemals fanden die Bauern das Leben ganz erträglich, sie waren noch dazu intelligenter als die jetzigen dreckigen Dorflümmel. Sie sangen die alten Volkslieder, erzählten sich Märchen, hielten an ehrwürdigen Gebräuchen fest, an denen ihre Nachkommen wahrscheinlich so wenig Geschmack finden dürften wie an einem Idyll von Theokrit, und hatten vor allem ein eignes Heim. Welch ein Zauber lag für sie in dem Wort! Solange unser Bauer das Feld liebt, das ihm Brot gibt, fällt ihm nicht ein, die Arbeit schwer zu finden; er vergleicht sein Geschick nicht mit dem seines Viehs. Er richtet seine Blicke nach aufwärts, und eilt Lichtschimmer aus einer andern Welt als der sichtbaren fällt auf ihn. Torinsk ists, über die Härten und die Monotonie des bäuerlichen Lebens einen Schleier zu werfen; viel besser ists, man weist nachdrücklich auf sie hin, damit die Lords, die Eigentümer des Bodens sind und ihre Renten daraus beziehen, beständig in humaner Weise für jene Wesen Sorge tragen, die den Boden zu einem fruchtbringenden machen. Ihre wohlwollende Sorgfalt ist vielleicht imstande, einigermaßen der Rastlosigkeit unsrer Zeit entgegenzuwirken. Denn der Bewohner eines gemütlichen Bauernhauses hat weniger Lust zum Herumziehen als der Bewohner einer elenden Hütte. Wohlmeinende Leute reden davon, man müßte durch verständige Belehrung die Liebe zum Aufent¬ halt auf dem Lande neu beleben. Kann man davon irgendeinen Nutzen er¬ warten? Glaubt man, die gute alte Zeit werde zurückkehren, wenn der Bauer erfährt, wie auf Altenglisch die Blumen seiner Felder heißen, und wer ihnen die Namen gegeben hat? Leider sind ja die alten volkstümlichen Be¬ nennungen von Blumen und Vögeln fast ganz in Vergessenheit geraten, ebenso wie die alten Lieder und Feenmärchen; aber dies beweist nur, welche entsetz¬ lichen Fortschritte die Verlotterung unter dem Landvolke gemacht hat. Auf eine Wiedererweckung der abgestorbnen Liebe für die alten Sitten und Gebräuche kann schwerlich irgendein Verstündiger hoffen. Der Bauer der Zukunft wird zweifellos nichts weiter sein als ein gut bezahlter, im Maschinenbetriebe be¬ wanderter Techniker; geht er zur Arbeit, wird er die Refrains der neusten Tingeltangelcouplets vor sich hinträllern; seine häufigen Feiertage wird er in der nächstgelegnen Großstadt zubringen; Gespräche, auch die geistreichsten, über das Gemeinwohl werden ihn — wie ich fürchte — wenig anlocken. Alle Blumen, wenigstens die auf den Feldern, werden wegen der lukrativern Ver¬ wendung von Grund und Boden allmählich verschwinden. Wahrscheinlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/261>, abgerufen am 25.08.2024.