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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der rote Hahn

jungen Menschen an sich fesseln, und sie seufzte tief, wenn sie in den "Hof" gingen,
um auszuschweifen, wie es in der kleinen Stadt Sitte war.

Muhme Rilke hatte aus Gründen der Moral, sagten die Damen der Stadt,
ein Dienstmädchen, das Sörine hieß und in unerlaubter Weise drüsenkrank war.
Sörines Gesicht war, um die Wahrheit zu sagen, eine einzige Narbe, über der ein
paar wasserblaue Dorschaugen hilflos hinter geschwollnen roten Augenlidern hervor¬
lugten. Aber Sörine lachte immer und war ungeheuer willig, dazu ganz ungefährlich
für die jungen Menschen. Daran hatte Muhme Rilke gar nicht gedacht, sie hatte
Sörine genommen, weil das Mädchen, ein elternloses Kind, so häßlich aussah, daß
sie kein andrer haben wollte. Daß sie ihrem Dienstmädchen nachstellten, eine solche
Schlechtigkeit hätte Muhme Rilke den beiden jungen Leuten gar nicht zugetraut.
Und hätte sie es getan, dann hätte sie sich gewiß eine schöne Kaukasierin verschrieben,
um sie zu erfreuen.

Aber die Stadt hielt Sörines Aussehn in diesem Falle für ein Glück, nament¬
lich wegen Seydewitz. Imsen war vertrauenswürdiger.

In der Stadt wohnte man nicht zur Miete. Jeder hatte sein Haus mit Garten,
und Muhme Rilke hatte das ihre. Es lag schräg gegenüber dem Amtsgericht, nur
ein paar Häuser von der Kirche entfernt. Klein war es, aber blendend weiß, so
recht reingewaschen, mit blankgeputzten Scheiben und rotwangigem Dach. Wei߬
gescheuert waren alle Fußböden, und zierlich gehäkelte alte Jungferngardinen bildeten
Rahmen um gutgehaltne Pelargonien und Kakteen in Töpfen mit gezackten Papier
wie Meßhemden um rundliche Verkündiger des göttlichen Wortes. Die Möbel waren
alt, aber gut gehalten mit einem Predigerhausgepräge, das die ehrwürdigen Traditionen
noch ungebornen Geschlechtern überlieferte, sie wußten, was sie wußten, hatten aber
nur wenig böses gesehen. Die geblümten schwarzen Damastbezüge hielten mit der
Ausdauer der Sparsamkeit zusammen, und ab und zu zog sich in dem Stoff der
Sofas und Lehnstühle ein schmerzlicher Streifen zusammen, wenn Kaj Seydewitz,
an Unmäßigkeit und Schweineleder gewöhnt, mit dem würdigen Hausrat achtlos
umging.

Von der Wand starrten Priester in Lithographie und Krinolinentanten in
Daguerrotypie streng und verwundert auf Seydewitz und seine französischen Romane
herab, während sich Bezüge und Gardinen im Rauch seiner Zigarren brannten und
die große, rotgeblümte Decke auf dem runden Mahagonitisch des Zimmers vor der
Asche zurückschauderte, die von ihnen herabfiel.

Seydewitz lächelte, wenn er in dieser Altjungfernstube saß, während die Er¬
innerungen an die Fensterscheiben donnerten.

Aber er saß da wie in Abrahams Schoß, und dann kam Muhme Rilke sogar
noch darauf, ihm abends Tee und Schnaps zu servieren -- ohne Mietaufschlag --, um
ihn vom "Hofe" und der Gesellschaft dort fernzuhalten. Und damit er nicht allein
sei, nahm Muhme Rilke ihr Strickzeug und setzte sich zu ihm, um mit ihm zu
Plaudern und ihn in seiner Einsamkeit aufzumuntern. All dies mag sich sehr schön
lesen, aber Kaj Seydewitz verbrachte trotzdem sehr selten einen Abend in Abrahams
Schoß. Und Muhme Rilke schüttelte den Kopf und wollte mit Assessor Imsen
darüber reden, wie traurig das sei, aber da war dieser tugendhafte Mensch mit
Seydewitz in den "Hof" gegangen.

Also mußte sich Muhme Rilke mit Sörine begnügen, und ihr gegenüber ver¬
breitete sie sich in belehrenden Vorträgen über Sünde und Versuchungen, während
sich die arme Sörine die Nase schnaubte und wünschte, daß sie doch nur ein bißchen
hübscher im Gesicht gewesen wäre -- der Figur fehlte nämlich gar nichts, das
hatte Seydewitz eines Abends gesagt, als sie ihn einließ, da es so dunkel war, daß
er ihr Gesicht nicht sehen konnte.


Der rote Hahn

jungen Menschen an sich fesseln, und sie seufzte tief, wenn sie in den „Hof" gingen,
um auszuschweifen, wie es in der kleinen Stadt Sitte war.

Muhme Rilke hatte aus Gründen der Moral, sagten die Damen der Stadt,
ein Dienstmädchen, das Sörine hieß und in unerlaubter Weise drüsenkrank war.
Sörines Gesicht war, um die Wahrheit zu sagen, eine einzige Narbe, über der ein
paar wasserblaue Dorschaugen hilflos hinter geschwollnen roten Augenlidern hervor¬
lugten. Aber Sörine lachte immer und war ungeheuer willig, dazu ganz ungefährlich
für die jungen Menschen. Daran hatte Muhme Rilke gar nicht gedacht, sie hatte
Sörine genommen, weil das Mädchen, ein elternloses Kind, so häßlich aussah, daß
sie kein andrer haben wollte. Daß sie ihrem Dienstmädchen nachstellten, eine solche
Schlechtigkeit hätte Muhme Rilke den beiden jungen Leuten gar nicht zugetraut.
Und hätte sie es getan, dann hätte sie sich gewiß eine schöne Kaukasierin verschrieben,
um sie zu erfreuen.

Aber die Stadt hielt Sörines Aussehn in diesem Falle für ein Glück, nament¬
lich wegen Seydewitz. Imsen war vertrauenswürdiger.

In der Stadt wohnte man nicht zur Miete. Jeder hatte sein Haus mit Garten,
und Muhme Rilke hatte das ihre. Es lag schräg gegenüber dem Amtsgericht, nur
ein paar Häuser von der Kirche entfernt. Klein war es, aber blendend weiß, so
recht reingewaschen, mit blankgeputzten Scheiben und rotwangigem Dach. Wei߬
gescheuert waren alle Fußböden, und zierlich gehäkelte alte Jungferngardinen bildeten
Rahmen um gutgehaltne Pelargonien und Kakteen in Töpfen mit gezackten Papier
wie Meßhemden um rundliche Verkündiger des göttlichen Wortes. Die Möbel waren
alt, aber gut gehalten mit einem Predigerhausgepräge, das die ehrwürdigen Traditionen
noch ungebornen Geschlechtern überlieferte, sie wußten, was sie wußten, hatten aber
nur wenig böses gesehen. Die geblümten schwarzen Damastbezüge hielten mit der
Ausdauer der Sparsamkeit zusammen, und ab und zu zog sich in dem Stoff der
Sofas und Lehnstühle ein schmerzlicher Streifen zusammen, wenn Kaj Seydewitz,
an Unmäßigkeit und Schweineleder gewöhnt, mit dem würdigen Hausrat achtlos
umging.

Von der Wand starrten Priester in Lithographie und Krinolinentanten in
Daguerrotypie streng und verwundert auf Seydewitz und seine französischen Romane
herab, während sich Bezüge und Gardinen im Rauch seiner Zigarren brannten und
die große, rotgeblümte Decke auf dem runden Mahagonitisch des Zimmers vor der
Asche zurückschauderte, die von ihnen herabfiel.

Seydewitz lächelte, wenn er in dieser Altjungfernstube saß, während die Er¬
innerungen an die Fensterscheiben donnerten.

Aber er saß da wie in Abrahams Schoß, und dann kam Muhme Rilke sogar
noch darauf, ihm abends Tee und Schnaps zu servieren — ohne Mietaufschlag —, um
ihn vom „Hofe" und der Gesellschaft dort fernzuhalten. Und damit er nicht allein
sei, nahm Muhme Rilke ihr Strickzeug und setzte sich zu ihm, um mit ihm zu
Plaudern und ihn in seiner Einsamkeit aufzumuntern. All dies mag sich sehr schön
lesen, aber Kaj Seydewitz verbrachte trotzdem sehr selten einen Abend in Abrahams
Schoß. Und Muhme Rilke schüttelte den Kopf und wollte mit Assessor Imsen
darüber reden, wie traurig das sei, aber da war dieser tugendhafte Mensch mit
Seydewitz in den „Hof" gegangen.

Also mußte sich Muhme Rilke mit Sörine begnügen, und ihr gegenüber ver¬
breitete sie sich in belehrenden Vorträgen über Sünde und Versuchungen, während
sich die arme Sörine die Nase schnaubte und wünschte, daß sie doch nur ein bißchen
hübscher im Gesicht gewesen wäre — der Figur fehlte nämlich gar nichts, das
hatte Seydewitz eines Abends gesagt, als sie ihn einließ, da es so dunkel war, daß
er ihr Gesicht nicht sehen konnte.


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[0247] Der rote Hahn jungen Menschen an sich fesseln, und sie seufzte tief, wenn sie in den „Hof" gingen, um auszuschweifen, wie es in der kleinen Stadt Sitte war. Muhme Rilke hatte aus Gründen der Moral, sagten die Damen der Stadt, ein Dienstmädchen, das Sörine hieß und in unerlaubter Weise drüsenkrank war. Sörines Gesicht war, um die Wahrheit zu sagen, eine einzige Narbe, über der ein paar wasserblaue Dorschaugen hilflos hinter geschwollnen roten Augenlidern hervor¬ lugten. Aber Sörine lachte immer und war ungeheuer willig, dazu ganz ungefährlich für die jungen Menschen. Daran hatte Muhme Rilke gar nicht gedacht, sie hatte Sörine genommen, weil das Mädchen, ein elternloses Kind, so häßlich aussah, daß sie kein andrer haben wollte. Daß sie ihrem Dienstmädchen nachstellten, eine solche Schlechtigkeit hätte Muhme Rilke den beiden jungen Leuten gar nicht zugetraut. Und hätte sie es getan, dann hätte sie sich gewiß eine schöne Kaukasierin verschrieben, um sie zu erfreuen. Aber die Stadt hielt Sörines Aussehn in diesem Falle für ein Glück, nament¬ lich wegen Seydewitz. Imsen war vertrauenswürdiger. In der Stadt wohnte man nicht zur Miete. Jeder hatte sein Haus mit Garten, und Muhme Rilke hatte das ihre. Es lag schräg gegenüber dem Amtsgericht, nur ein paar Häuser von der Kirche entfernt. Klein war es, aber blendend weiß, so recht reingewaschen, mit blankgeputzten Scheiben und rotwangigem Dach. Wei߬ gescheuert waren alle Fußböden, und zierlich gehäkelte alte Jungferngardinen bildeten Rahmen um gutgehaltne Pelargonien und Kakteen in Töpfen mit gezackten Papier wie Meßhemden um rundliche Verkündiger des göttlichen Wortes. Die Möbel waren alt, aber gut gehalten mit einem Predigerhausgepräge, das die ehrwürdigen Traditionen noch ungebornen Geschlechtern überlieferte, sie wußten, was sie wußten, hatten aber nur wenig böses gesehen. Die geblümten schwarzen Damastbezüge hielten mit der Ausdauer der Sparsamkeit zusammen, und ab und zu zog sich in dem Stoff der Sofas und Lehnstühle ein schmerzlicher Streifen zusammen, wenn Kaj Seydewitz, an Unmäßigkeit und Schweineleder gewöhnt, mit dem würdigen Hausrat achtlos umging. Von der Wand starrten Priester in Lithographie und Krinolinentanten in Daguerrotypie streng und verwundert auf Seydewitz und seine französischen Romane herab, während sich Bezüge und Gardinen im Rauch seiner Zigarren brannten und die große, rotgeblümte Decke auf dem runden Mahagonitisch des Zimmers vor der Asche zurückschauderte, die von ihnen herabfiel. Seydewitz lächelte, wenn er in dieser Altjungfernstube saß, während die Er¬ innerungen an die Fensterscheiben donnerten. Aber er saß da wie in Abrahams Schoß, und dann kam Muhme Rilke sogar noch darauf, ihm abends Tee und Schnaps zu servieren — ohne Mietaufschlag —, um ihn vom „Hofe" und der Gesellschaft dort fernzuhalten. Und damit er nicht allein sei, nahm Muhme Rilke ihr Strickzeug und setzte sich zu ihm, um mit ihm zu Plaudern und ihn in seiner Einsamkeit aufzumuntern. All dies mag sich sehr schön lesen, aber Kaj Seydewitz verbrachte trotzdem sehr selten einen Abend in Abrahams Schoß. Und Muhme Rilke schüttelte den Kopf und wollte mit Assessor Imsen darüber reden, wie traurig das sei, aber da war dieser tugendhafte Mensch mit Seydewitz in den „Hof" gegangen. Also mußte sich Muhme Rilke mit Sörine begnügen, und ihr gegenüber ver¬ breitete sie sich in belehrenden Vorträgen über Sünde und Versuchungen, während sich die arme Sörine die Nase schnaubte und wünschte, daß sie doch nur ein bißchen hübscher im Gesicht gewesen wäre — der Figur fehlte nämlich gar nichts, das hatte Seydewitz eines Abends gesagt, als sie ihn einließ, da es so dunkel war, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/247>, abgerufen am 22.12.2024.