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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Das Moderne in Luther

Vogts Darstellung der Lehre vom rechtfertigenden Glauben, aus der ich
ein paar Sätze angeführt habe, bestätigt meine alte Ansicht, daß diese Lehre, ehe
sie von der theologischen Gelehrsamkeit ihr juristisches Gepräge empfing, keine
andre war als die alte katholische. Beide haben nichts andres gemeint als den
Zustand des Erlösten, den Paulus Römer 8 und Galater 3 beschreibt. Durch
Christi Vermittlung wird die Seele des Gläubigen so umgestaltet, daß ihr Wille
dem Willen Gottes konform ist. Demnach steht ihr Gottes Wille nicht mehr als
gebietendes und verbietendes Gesetz gegenüber, sondern sie will das Gute, weil es
ihre eigne Natur ist, und verabscheut das Böse, weil es ihrer Natur widerspricht.
Da gibt es also kein Sollen mehr, sondern nur noch ein Wollen. Ganz richtig
betont Vogt, daß Kants sogenannte Autonomie gar keine Autonomie ist; wer einem
Imperativ gehorcht, sei es auch nur dem seines eignen Gewissens, der ist nicht
autonom; autonomes Sollen ist ein Selbstwiderspruch, nur das Wollen ist autonom.
Die guten Werke gehn demnach aus dem Willen des Erlösten hervor wie die
süßen Früchte aus dem edeln Baume. Der ganze Unterschied zwischen Luther und
der alten Kirche besteht also nur darin, daß bei ihm Glaube heißt, was diese Liebe
oder durch Liebe lebendigen Glauben oder heiligmachende Gnade nennt. In der
Praxis ergeben sich dann freilich noch andre Unterschiede; hier ist nur von der
Theorie die Rede. Und daß auch der Scholastik als Ziel des sittlichen Strebens
und der sittlichen Erziehung die Autonomie vorschwebt, hat am deutlichsten und
schärfsten Dante ausgesprochen, der immer dogmatisch korrekt, in genauer Überein¬
stimmung mit dem Aquinaten, schreibt und sich (Paradiso XXIV, 34 ff.) von
Petrus im Glauben examinieren und das Zeugnis der Rechtgläubigkeit ausstellen
läßt. Er nun wird am Schlüsse des 27. Gesanges des Purgatorio, nach voll-
zogner Läuterung, zu seinem eignen Papst und Kaiser gekrönt; Unrecht wäre es,
sagt ihm Virgil, deinem nunmehr gesunden freien Willen nicht zu folgen.

Vogt ist allerdings sehr weit entfernt davon, die Übereinstimmung Luthers
mit der alten Kirche in diesem Stück hervorheben zu wollen, obwohl er sich
vielfach genötigt sieht, die Befangenheit Luthers in altkirchlichen Anschauungen
und Empfindungen zuzugeben. Vielmehr will er das Revolutionäre, die Über¬
einstimmung mit dem heutigen Individualismus deutlich machen, und Luthers
Lehre vom unfreien Willen ermöglicht es ihm, Luther auch zum Vorläufer des
heutigen naturalistischen Determinismus zu machen. Es gibt keinen freien Willen,
kann gar keinen geben, weil Gott alles in allen wirkt; das Gefühl der Willens¬
freiheit ist notwendigerweise eine Illusion. Luther ist überzeugt, daß er in allem,
was er will und tut, Gottes Willen ausführt, nur Werkzeug Gottes ist, gar
nichts andres kann als Gottes Willen vollführen, und das Ziel der historischen
Entwicklung ist die Erhebung aller Menschen zu demselben Bewußtsein: die voll¬
endete Taatsche -- Vogt gebraucht selbst dieses Wort --, wo jeder nur seinem
eignen Willen folgen wird.

Damit sind wir bei der großen Schwierigkeit der Autonomielehre ange¬
langt und bei dem Punkte, worin die katholische Kirche und das orthodoxe


Das Moderne in Luther

Vogts Darstellung der Lehre vom rechtfertigenden Glauben, aus der ich
ein paar Sätze angeführt habe, bestätigt meine alte Ansicht, daß diese Lehre, ehe
sie von der theologischen Gelehrsamkeit ihr juristisches Gepräge empfing, keine
andre war als die alte katholische. Beide haben nichts andres gemeint als den
Zustand des Erlösten, den Paulus Römer 8 und Galater 3 beschreibt. Durch
Christi Vermittlung wird die Seele des Gläubigen so umgestaltet, daß ihr Wille
dem Willen Gottes konform ist. Demnach steht ihr Gottes Wille nicht mehr als
gebietendes und verbietendes Gesetz gegenüber, sondern sie will das Gute, weil es
ihre eigne Natur ist, und verabscheut das Böse, weil es ihrer Natur widerspricht.
Da gibt es also kein Sollen mehr, sondern nur noch ein Wollen. Ganz richtig
betont Vogt, daß Kants sogenannte Autonomie gar keine Autonomie ist; wer einem
Imperativ gehorcht, sei es auch nur dem seines eignen Gewissens, der ist nicht
autonom; autonomes Sollen ist ein Selbstwiderspruch, nur das Wollen ist autonom.
Die guten Werke gehn demnach aus dem Willen des Erlösten hervor wie die
süßen Früchte aus dem edeln Baume. Der ganze Unterschied zwischen Luther und
der alten Kirche besteht also nur darin, daß bei ihm Glaube heißt, was diese Liebe
oder durch Liebe lebendigen Glauben oder heiligmachende Gnade nennt. In der
Praxis ergeben sich dann freilich noch andre Unterschiede; hier ist nur von der
Theorie die Rede. Und daß auch der Scholastik als Ziel des sittlichen Strebens
und der sittlichen Erziehung die Autonomie vorschwebt, hat am deutlichsten und
schärfsten Dante ausgesprochen, der immer dogmatisch korrekt, in genauer Überein¬
stimmung mit dem Aquinaten, schreibt und sich (Paradiso XXIV, 34 ff.) von
Petrus im Glauben examinieren und das Zeugnis der Rechtgläubigkeit ausstellen
läßt. Er nun wird am Schlüsse des 27. Gesanges des Purgatorio, nach voll-
zogner Läuterung, zu seinem eignen Papst und Kaiser gekrönt; Unrecht wäre es,
sagt ihm Virgil, deinem nunmehr gesunden freien Willen nicht zu folgen.

Vogt ist allerdings sehr weit entfernt davon, die Übereinstimmung Luthers
mit der alten Kirche in diesem Stück hervorheben zu wollen, obwohl er sich
vielfach genötigt sieht, die Befangenheit Luthers in altkirchlichen Anschauungen
und Empfindungen zuzugeben. Vielmehr will er das Revolutionäre, die Über¬
einstimmung mit dem heutigen Individualismus deutlich machen, und Luthers
Lehre vom unfreien Willen ermöglicht es ihm, Luther auch zum Vorläufer des
heutigen naturalistischen Determinismus zu machen. Es gibt keinen freien Willen,
kann gar keinen geben, weil Gott alles in allen wirkt; das Gefühl der Willens¬
freiheit ist notwendigerweise eine Illusion. Luther ist überzeugt, daß er in allem,
was er will und tut, Gottes Willen ausführt, nur Werkzeug Gottes ist, gar
nichts andres kann als Gottes Willen vollführen, und das Ziel der historischen
Entwicklung ist die Erhebung aller Menschen zu demselben Bewußtsein: die voll¬
endete Taatsche — Vogt gebraucht selbst dieses Wort —, wo jeder nur seinem
eignen Willen folgen wird.

Damit sind wir bei der großen Schwierigkeit der Autonomielehre ange¬
langt und bei dem Punkte, worin die katholische Kirche und das orthodoxe


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[0224] Das Moderne in Luther Vogts Darstellung der Lehre vom rechtfertigenden Glauben, aus der ich ein paar Sätze angeführt habe, bestätigt meine alte Ansicht, daß diese Lehre, ehe sie von der theologischen Gelehrsamkeit ihr juristisches Gepräge empfing, keine andre war als die alte katholische. Beide haben nichts andres gemeint als den Zustand des Erlösten, den Paulus Römer 8 und Galater 3 beschreibt. Durch Christi Vermittlung wird die Seele des Gläubigen so umgestaltet, daß ihr Wille dem Willen Gottes konform ist. Demnach steht ihr Gottes Wille nicht mehr als gebietendes und verbietendes Gesetz gegenüber, sondern sie will das Gute, weil es ihre eigne Natur ist, und verabscheut das Böse, weil es ihrer Natur widerspricht. Da gibt es also kein Sollen mehr, sondern nur noch ein Wollen. Ganz richtig betont Vogt, daß Kants sogenannte Autonomie gar keine Autonomie ist; wer einem Imperativ gehorcht, sei es auch nur dem seines eignen Gewissens, der ist nicht autonom; autonomes Sollen ist ein Selbstwiderspruch, nur das Wollen ist autonom. Die guten Werke gehn demnach aus dem Willen des Erlösten hervor wie die süßen Früchte aus dem edeln Baume. Der ganze Unterschied zwischen Luther und der alten Kirche besteht also nur darin, daß bei ihm Glaube heißt, was diese Liebe oder durch Liebe lebendigen Glauben oder heiligmachende Gnade nennt. In der Praxis ergeben sich dann freilich noch andre Unterschiede; hier ist nur von der Theorie die Rede. Und daß auch der Scholastik als Ziel des sittlichen Strebens und der sittlichen Erziehung die Autonomie vorschwebt, hat am deutlichsten und schärfsten Dante ausgesprochen, der immer dogmatisch korrekt, in genauer Überein¬ stimmung mit dem Aquinaten, schreibt und sich (Paradiso XXIV, 34 ff.) von Petrus im Glauben examinieren und das Zeugnis der Rechtgläubigkeit ausstellen läßt. Er nun wird am Schlüsse des 27. Gesanges des Purgatorio, nach voll- zogner Läuterung, zu seinem eignen Papst und Kaiser gekrönt; Unrecht wäre es, sagt ihm Virgil, deinem nunmehr gesunden freien Willen nicht zu folgen. Vogt ist allerdings sehr weit entfernt davon, die Übereinstimmung Luthers mit der alten Kirche in diesem Stück hervorheben zu wollen, obwohl er sich vielfach genötigt sieht, die Befangenheit Luthers in altkirchlichen Anschauungen und Empfindungen zuzugeben. Vielmehr will er das Revolutionäre, die Über¬ einstimmung mit dem heutigen Individualismus deutlich machen, und Luthers Lehre vom unfreien Willen ermöglicht es ihm, Luther auch zum Vorläufer des heutigen naturalistischen Determinismus zu machen. Es gibt keinen freien Willen, kann gar keinen geben, weil Gott alles in allen wirkt; das Gefühl der Willens¬ freiheit ist notwendigerweise eine Illusion. Luther ist überzeugt, daß er in allem, was er will und tut, Gottes Willen ausführt, nur Werkzeug Gottes ist, gar nichts andres kann als Gottes Willen vollführen, und das Ziel der historischen Entwicklung ist die Erhebung aller Menschen zu demselben Bewußtsein: die voll¬ endete Taatsche — Vogt gebraucht selbst dieses Wort —, wo jeder nur seinem eignen Willen folgen wird. Damit sind wir bei der großen Schwierigkeit der Autonomielehre ange¬ langt und bei dem Punkte, worin die katholische Kirche und das orthodoxe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/224>, abgerufen am 22.12.2024.