Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Das Moderne in Luther Luthertum, das Vogt unbewußten Katholizismus nennt, sowie der Calvinismus Nun aber die große Frage nach dem Geltungsbereich der Autonomie! Daß Das Moderne in Luther Luthertum, das Vogt unbewußten Katholizismus nennt, sowie der Calvinismus Nun aber die große Frage nach dem Geltungsbereich der Autonomie! Daß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313928"/> <fw type="header" place="top"> Das Moderne in Luther</fw><lb/> <p xml:id="ID_959" prev="#ID_958"> Luthertum, das Vogt unbewußten Katholizismus nennt, sowie der Calvinismus<lb/> mit seiner strengen Gesetzlichkeit gegen „den freien Christenmenschen" Luther<lb/> recht zu haben scheinen. Was zunächst die Unfreiheit des Willens betrifft, so<lb/> hat sich die katholische Kirche, trotz Augustin. immer gesträubt, sie zuzugeben,<lb/> weil es ihr ruchlos schien, zu glauben, daß Gott im Menschen unmittelbar das<lb/> Böse wirke. Macht man den Teufel verantwortlich, so schiebt man, wie auch<lb/> Vogt bemerkt, das Problem nur zurück, denn die Vorstellung, daß Gott — die<lb/> Natur, sagt der Moderne — alles in allen wirke, überhaupt die allein eigent¬<lb/> lich wirkende Kraft sei. muß doch auch den Engelwesen gegenüber gelten, wenn<lb/> es solche gibt. Natürlich hilft der Kirche die Annahme eines freien Willens<lb/> in den Geschöpfen nur scheinbar über die Schwierigkeit hinweg, denn ob Gott<lb/> das Böse unmittelbar wirkt oder nur mittelbar, indem er Wesen schafft, von<lb/> denen er weiß, daß sie Böses tun werden, die eigentliche Ursache bleibt er in<lb/> jedem Falle. Ich sehe die biblischen Lösungen des Problems als Andeutungen<lb/> der unsre diesseitige Fassungskraft übersteigenden wirklichen Lösung an. die uns<lb/> auf das Jenseits vertrösten und vorläufig beruhigen sollen, sodaß wir. auf<lb/> aussichtslose Grübelei verzichtend, unsre Kraft auf praktisches Handeln verwenden.<lb/> Die orthodoxe Fassung des Erbsündedogmas ist selbstverständlich für den ge¬<lb/> sunden Menschenverstand wie für das Gerechtigkeitsgefühl gleich unannehmbar,<lb/> die Idee einer Erbschuld an sich aber und ihre Verknüpfung mit dem Problem<lb/> des Ursprungs der Übel sowohl tatsächlich als auch pädagogisch gerechtfertigt.<lb/> Denn es erben sich ja nicht allein Gesetz' und Rechte wie eine ewge Krankheit<lb/> fort, sondern auch die wirklichen Krankheiten und die verderblichen seelischen<lb/> Anlagen.</p><lb/> <p xml:id="ID_960" next="#ID_961"> Nun aber die große Frage nach dem Geltungsbereich der Autonomie! Daß<lb/> es in der Christenheit Menschen gibt, denen das Gute Natur ist, „schöne<lb/> Seelen", lehrt die Erfahrung. Daß in großen Männern, die weltgeschichtliche<lb/> Wendungen herbeigeführt haben, Gott gewaltet hat, und daß auch ihre bedenk¬<lb/> lichen, aber zur Erreichung des großen Zieles notwendigen Handlungen von<lb/> Gott gewollt waren, bezweifeln wir nicht. Aber soll nun die Autonomie Krethi<lb/> und Plethi zugestanden werden? Sollen wir jeden gewähren lassen, der die<lb/> Nichtachtung anerkannter Sitten- und Staatsgesetze damit rechtfertigt, daß ihn<lb/> Gott oder der Heilige Geist treibe oder, wie es im modemen Sprachgebrauch<lb/> heißt (denn nur der Sprachgebrauch ist neu, die Sache ist alt; Vogt erwähnt<lb/> selbst die libertinischen Sekten des Mittelalters): er könne nicht anders, weil es<lb/> die Natur so wolle? Hatte Luther nicht recht, wenn er sagte, den heiligen<lb/> Geist der Schwarmgeister haue er über die Schnauze? Mag ihm auch dieser-<lb/> halb bis auf den heutigen Tag vorgeworfen werden, er sei seinem Evangelium<lb/> untreu, sei aus einem freien Geiste ein Reaktionär, Absolutist und Hierarch ge¬<lb/> worden. Seine Erwartung, die Predigt des Evangeliums werde genügen, aus<lb/> jedem Hörer einen Gläubigen in seinem Sinne, ein Kind Gottes, wie es Paulus<lb/> beschreibt, einen vollkommnen Idealmenschen zu machen, hatte sich eben als eitel</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0225]
Das Moderne in Luther
Luthertum, das Vogt unbewußten Katholizismus nennt, sowie der Calvinismus
mit seiner strengen Gesetzlichkeit gegen „den freien Christenmenschen" Luther
recht zu haben scheinen. Was zunächst die Unfreiheit des Willens betrifft, so
hat sich die katholische Kirche, trotz Augustin. immer gesträubt, sie zuzugeben,
weil es ihr ruchlos schien, zu glauben, daß Gott im Menschen unmittelbar das
Böse wirke. Macht man den Teufel verantwortlich, so schiebt man, wie auch
Vogt bemerkt, das Problem nur zurück, denn die Vorstellung, daß Gott — die
Natur, sagt der Moderne — alles in allen wirke, überhaupt die allein eigent¬
lich wirkende Kraft sei. muß doch auch den Engelwesen gegenüber gelten, wenn
es solche gibt. Natürlich hilft der Kirche die Annahme eines freien Willens
in den Geschöpfen nur scheinbar über die Schwierigkeit hinweg, denn ob Gott
das Böse unmittelbar wirkt oder nur mittelbar, indem er Wesen schafft, von
denen er weiß, daß sie Böses tun werden, die eigentliche Ursache bleibt er in
jedem Falle. Ich sehe die biblischen Lösungen des Problems als Andeutungen
der unsre diesseitige Fassungskraft übersteigenden wirklichen Lösung an. die uns
auf das Jenseits vertrösten und vorläufig beruhigen sollen, sodaß wir. auf
aussichtslose Grübelei verzichtend, unsre Kraft auf praktisches Handeln verwenden.
Die orthodoxe Fassung des Erbsündedogmas ist selbstverständlich für den ge¬
sunden Menschenverstand wie für das Gerechtigkeitsgefühl gleich unannehmbar,
die Idee einer Erbschuld an sich aber und ihre Verknüpfung mit dem Problem
des Ursprungs der Übel sowohl tatsächlich als auch pädagogisch gerechtfertigt.
Denn es erben sich ja nicht allein Gesetz' und Rechte wie eine ewge Krankheit
fort, sondern auch die wirklichen Krankheiten und die verderblichen seelischen
Anlagen.
Nun aber die große Frage nach dem Geltungsbereich der Autonomie! Daß
es in der Christenheit Menschen gibt, denen das Gute Natur ist, „schöne
Seelen", lehrt die Erfahrung. Daß in großen Männern, die weltgeschichtliche
Wendungen herbeigeführt haben, Gott gewaltet hat, und daß auch ihre bedenk¬
lichen, aber zur Erreichung des großen Zieles notwendigen Handlungen von
Gott gewollt waren, bezweifeln wir nicht. Aber soll nun die Autonomie Krethi
und Plethi zugestanden werden? Sollen wir jeden gewähren lassen, der die
Nichtachtung anerkannter Sitten- und Staatsgesetze damit rechtfertigt, daß ihn
Gott oder der Heilige Geist treibe oder, wie es im modemen Sprachgebrauch
heißt (denn nur der Sprachgebrauch ist neu, die Sache ist alt; Vogt erwähnt
selbst die libertinischen Sekten des Mittelalters): er könne nicht anders, weil es
die Natur so wolle? Hatte Luther nicht recht, wenn er sagte, den heiligen
Geist der Schwarmgeister haue er über die Schnauze? Mag ihm auch dieser-
halb bis auf den heutigen Tag vorgeworfen werden, er sei seinem Evangelium
untreu, sei aus einem freien Geiste ein Reaktionär, Absolutist und Hierarch ge¬
worden. Seine Erwartung, die Predigt des Evangeliums werde genügen, aus
jedem Hörer einen Gläubigen in seinem Sinne, ein Kind Gottes, wie es Paulus
beschreibt, einen vollkommnen Idealmenschen zu machen, hatte sich eben als eitel
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |