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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von ^?3H

Projektierten Provinzialversammlungen bedeutend erweitern. Alles in allem: sie
verzichteten zwar auf verhaßte Vorrechte, nahmen aber den Kampf gegen den
Absolutismus auf der ganzen Linie auf. Dabei muß wiederum besonders be¬
tont werden, daß von einem Gegensatz zwischen dem dritten und den beiden
ersten Ständen damals noch keine Rede war: auch der dritte Stand sah in
der Versammlung der Notabeln seine Vorkämpferin.

Weniger Interesse als die Finanzfrage erweckte die Beratung über die
andern Reformpläne, von denen ein Teil angenommen, ein andrer den künftigen
Provinzialversammlungen zur Entscheidung empfohlen wurde. Ehe man aber
damit zu Ende gekommen war, trat ein folgenschweres Ereignis ein: der Sturz
Calonnes, dem die Notabeln nicht zu glauben vermochten, daß das Defizit in
sechs Jahren eine solche Höhe erreichen konnte; sie verdächtigten ihn unrecht¬
mäßigerweise grober Unterschleife und lehnten ein weiteres Zusammenwirken
mit ihm ab, zumal als der Minister den ungeschickten Versuch gemacht hatte,
in einer über das ganze Land verbreiteten Schrift von der Notabelnversamm-
lung an das Volk zu appellieren. Ungeschickt war dieser Versuch insofern, als
Calonne darin ausdrücklich zugeben mußte, daß die Privilegierten auf ihre
Steuerfreiheit verzichtet hätten, und daß sie nicht in eine "böswillige Opposition"
zur Regierung getreten seien; er übersah auch nicht, daß das ganze Volk
hinter der Notabelnversammlung stand, und daß es diesem lediglich auf die
Freiheitsfrage, nicht auf die Reformfrage ankam. Obwohl nun dem Minister
in keiner Weise die gegen ihn gerichteten Anklagen nachgewiesen werden konnten,
entschied sich der König, anstatt die Notabeln nach Hause zu schicken, am
9. April 1787 doch zu seiner Entlassung "in Gnaden", gewiß ein grober
Fehler, der das Ansehen der Monarchie aufs schwerste schädigen mußte. Denn
die Begehrlichkeit der Notabeln wuchs fortan bedeutend. Sie verlangten aufs
neue die genausten Unterlagen zur Klärung der Finanzlage. Der König gab
wiederum nach, und die einzelnen Bureaus berechneten danach das jährliche
Defizit auf 135 bis 153 Millionen. Als dann der neue Minister (de Brienne)
freiwillig die jährliche Veröffentlichung der Einnahmen und Ausgaben ver¬
sprach, verlangte die Versammlung wiederum mehr, nämlich die Ernennung
eines Finanzrates (Oomir6 "Zö8 ^inanves), dem u. a. auch fünf bis sieben
Nichtbeamte aus den drei Ständen angehören sollten; dieser hätte aller sechs
Monate zusammenzutreten, die Kassen zu prüfen und die Anleihen zu über¬
wachen gehabt. Da erlebten aber die Notabeln eine arge Enttäuschung. Jener
neue Minister, Lomenie de Brienne, Erzbischof von Toulouse, einst ihr Führer,
dem sie unbedingtes Vertrauen geschenkt hatten, stellte sich immer mehr als ein
Mann von brennendem Ehrgeiz und mangelnder Charakterfestigkeit heraus;
auch dem König war er als ungläubiger Priester durchaus unsympathisch, und
er verdankte seine Berufung unzweifelhaft nur der Königin, die unter dem Ein¬
fluß des österreichischen Botschafters Mercy hier zum erstenmal in eine der
wichtigsten Staatsangelegenheiten eingegriffen hatte. Brienne hielt also das


Grenzboten III 1909 27
Vorgeschichte der französischen Revolution von ^?3H

Projektierten Provinzialversammlungen bedeutend erweitern. Alles in allem: sie
verzichteten zwar auf verhaßte Vorrechte, nahmen aber den Kampf gegen den
Absolutismus auf der ganzen Linie auf. Dabei muß wiederum besonders be¬
tont werden, daß von einem Gegensatz zwischen dem dritten und den beiden
ersten Ständen damals noch keine Rede war: auch der dritte Stand sah in
der Versammlung der Notabeln seine Vorkämpferin.

Weniger Interesse als die Finanzfrage erweckte die Beratung über die
andern Reformpläne, von denen ein Teil angenommen, ein andrer den künftigen
Provinzialversammlungen zur Entscheidung empfohlen wurde. Ehe man aber
damit zu Ende gekommen war, trat ein folgenschweres Ereignis ein: der Sturz
Calonnes, dem die Notabeln nicht zu glauben vermochten, daß das Defizit in
sechs Jahren eine solche Höhe erreichen konnte; sie verdächtigten ihn unrecht¬
mäßigerweise grober Unterschleife und lehnten ein weiteres Zusammenwirken
mit ihm ab, zumal als der Minister den ungeschickten Versuch gemacht hatte,
in einer über das ganze Land verbreiteten Schrift von der Notabelnversamm-
lung an das Volk zu appellieren. Ungeschickt war dieser Versuch insofern, als
Calonne darin ausdrücklich zugeben mußte, daß die Privilegierten auf ihre
Steuerfreiheit verzichtet hätten, und daß sie nicht in eine „böswillige Opposition"
zur Regierung getreten seien; er übersah auch nicht, daß das ganze Volk
hinter der Notabelnversammlung stand, und daß es diesem lediglich auf die
Freiheitsfrage, nicht auf die Reformfrage ankam. Obwohl nun dem Minister
in keiner Weise die gegen ihn gerichteten Anklagen nachgewiesen werden konnten,
entschied sich der König, anstatt die Notabeln nach Hause zu schicken, am
9. April 1787 doch zu seiner Entlassung „in Gnaden", gewiß ein grober
Fehler, der das Ansehen der Monarchie aufs schwerste schädigen mußte. Denn
die Begehrlichkeit der Notabeln wuchs fortan bedeutend. Sie verlangten aufs
neue die genausten Unterlagen zur Klärung der Finanzlage. Der König gab
wiederum nach, und die einzelnen Bureaus berechneten danach das jährliche
Defizit auf 135 bis 153 Millionen. Als dann der neue Minister (de Brienne)
freiwillig die jährliche Veröffentlichung der Einnahmen und Ausgaben ver¬
sprach, verlangte die Versammlung wiederum mehr, nämlich die Ernennung
eines Finanzrates (Oomir6 «Zö8 ^inanves), dem u. a. auch fünf bis sieben
Nichtbeamte aus den drei Ständen angehören sollten; dieser hätte aller sechs
Monate zusammenzutreten, die Kassen zu prüfen und die Anleihen zu über¬
wachen gehabt. Da erlebten aber die Notabeln eine arge Enttäuschung. Jener
neue Minister, Lomenie de Brienne, Erzbischof von Toulouse, einst ihr Führer,
dem sie unbedingtes Vertrauen geschenkt hatten, stellte sich immer mehr als ein
Mann von brennendem Ehrgeiz und mangelnder Charakterfestigkeit heraus;
auch dem König war er als ungläubiger Priester durchaus unsympathisch, und
er verdankte seine Berufung unzweifelhaft nur der Königin, die unter dem Ein¬
fluß des österreichischen Botschafters Mercy hier zum erstenmal in eine der
wichtigsten Staatsangelegenheiten eingegriffen hatte. Brienne hielt also das


Grenzboten III 1909 27
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[0213] Vorgeschichte der französischen Revolution von ^?3H Projektierten Provinzialversammlungen bedeutend erweitern. Alles in allem: sie verzichteten zwar auf verhaßte Vorrechte, nahmen aber den Kampf gegen den Absolutismus auf der ganzen Linie auf. Dabei muß wiederum besonders be¬ tont werden, daß von einem Gegensatz zwischen dem dritten und den beiden ersten Ständen damals noch keine Rede war: auch der dritte Stand sah in der Versammlung der Notabeln seine Vorkämpferin. Weniger Interesse als die Finanzfrage erweckte die Beratung über die andern Reformpläne, von denen ein Teil angenommen, ein andrer den künftigen Provinzialversammlungen zur Entscheidung empfohlen wurde. Ehe man aber damit zu Ende gekommen war, trat ein folgenschweres Ereignis ein: der Sturz Calonnes, dem die Notabeln nicht zu glauben vermochten, daß das Defizit in sechs Jahren eine solche Höhe erreichen konnte; sie verdächtigten ihn unrecht¬ mäßigerweise grober Unterschleife und lehnten ein weiteres Zusammenwirken mit ihm ab, zumal als der Minister den ungeschickten Versuch gemacht hatte, in einer über das ganze Land verbreiteten Schrift von der Notabelnversamm- lung an das Volk zu appellieren. Ungeschickt war dieser Versuch insofern, als Calonne darin ausdrücklich zugeben mußte, daß die Privilegierten auf ihre Steuerfreiheit verzichtet hätten, und daß sie nicht in eine „böswillige Opposition" zur Regierung getreten seien; er übersah auch nicht, daß das ganze Volk hinter der Notabelnversammlung stand, und daß es diesem lediglich auf die Freiheitsfrage, nicht auf die Reformfrage ankam. Obwohl nun dem Minister in keiner Weise die gegen ihn gerichteten Anklagen nachgewiesen werden konnten, entschied sich der König, anstatt die Notabeln nach Hause zu schicken, am 9. April 1787 doch zu seiner Entlassung „in Gnaden", gewiß ein grober Fehler, der das Ansehen der Monarchie aufs schwerste schädigen mußte. Denn die Begehrlichkeit der Notabeln wuchs fortan bedeutend. Sie verlangten aufs neue die genausten Unterlagen zur Klärung der Finanzlage. Der König gab wiederum nach, und die einzelnen Bureaus berechneten danach das jährliche Defizit auf 135 bis 153 Millionen. Als dann der neue Minister (de Brienne) freiwillig die jährliche Veröffentlichung der Einnahmen und Ausgaben ver¬ sprach, verlangte die Versammlung wiederum mehr, nämlich die Ernennung eines Finanzrates (Oomir6 «Zö8 ^inanves), dem u. a. auch fünf bis sieben Nichtbeamte aus den drei Ständen angehören sollten; dieser hätte aller sechs Monate zusammenzutreten, die Kassen zu prüfen und die Anleihen zu über¬ wachen gehabt. Da erlebten aber die Notabeln eine arge Enttäuschung. Jener neue Minister, Lomenie de Brienne, Erzbischof von Toulouse, einst ihr Führer, dem sie unbedingtes Vertrauen geschenkt hatten, stellte sich immer mehr als ein Mann von brennendem Ehrgeiz und mangelnder Charakterfestigkeit heraus; auch dem König war er als ungläubiger Priester durchaus unsympathisch, und er verdankte seine Berufung unzweifelhaft nur der Königin, die unter dem Ein¬ fluß des österreichischen Botschafters Mercy hier zum erstenmal in eine der wichtigsten Staatsangelegenheiten eingegriffen hatte. Brienne hielt also das Grenzboten III 1909 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/213>, abgerufen am 23.07.2024.