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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

Provinzialstände hatten, also in den meisten; auf diese Weise sollte die bis¬
herige fast vollständige Zentralisation der Verwaltung vermindert und vor allem
das Interesse am Staat und das Verständnis für seine Aufgaben wieder er¬
weckt werden. Die zweite Denkschrift handelte von der Reform der Grund¬
steuer siruxöt territorial), wonach fortan die Einkünfte aller Ländereien, auch
der Domänen und der Kirchengüter, getroffen werden sollten. Der Minister
hoffte hierbei etwa 100 bis 104 Millionen zu erlangen, denen ein Ausfall
von etwa 54 Millionen dadurch gegenüberstand, daß man die zwei Zwanzigster
(vinAtikmes) nicht weiter erheben wollte. Andre Denkschriften befaßten sich mit
der Herabsetzung der Taille, besonders für die Tagelöhner und die Arbeiter,
mit der Freiheit des Getreidehandels, mit der Abschaffung der Naturalleistungen
für die königliche Wegefron und ihrer Ersetzung durch eine Geldzahlung, ferner
mit der Beseitigung aller Zollschranken im Innern des Königreichs, das nur
von einer einzigen Zollinie an seinen Grenzen umgeben sein sollte, sodann
mit einer Reform der Gabelle, jener furchtbar drückenden Salzsteuer, die jedes
Jahr Hunderte dem Verderben preisgab, endlich mit der bessern Verwaltung
der Domänen und der Forsten. Die Pläne Calonnes gingen also weit über
das hinaus, was einst Turgot erstrebt hatte; ja sie enthielten des Guten viel
zu viel, als daß es in ein bis zwei Dezennien, geschweige denn in einem Jahre
hätte in die Wirklichkeit umgesetzt werden können. Man kann nun nicht ur¬
teilen, wie das bisher so oft geschehen ist, daß die Notabeln diesen Plänen
interesselos gegenübergestanden hätten, das Gegenteil davon ist richtig; aber sie
machten es sich von vornherein zur Hauptaufgabe, den bestehenden Absolutismus
aufs leidenschaftlichste zu bekämpfen. Obwohl sie z. B. das Steuerprivilegium
ohne weiteres preisgaben, nutzten sie doch die Geldverlegenheit der Regierung
sofort aus, um einen Anteil an der Macht des Staates für sich selbst und
das Volk zu erringen.

Die Versammlung der Notabeln bestand aus 144 Mitgliedern; darunter
waren 7 Prinzen von Geblüt, 39 Adlige, 11 Geistliche, 12 Vertreter der schon
vorhandnen Provinzialstände, 25 Bürgermeister und andre städtische Beamte
sowie 50 Vertreter der Parlamente und der übrigen Magistratur. Es ge¬
hörten zu ihnen der populäre junge Marquis von La Fayette, der für die Frei¬
heit Amerikas gekämpft hatte, und als Führer der Versammlung die auf¬
geklärten Erzbischöfe von Narbonne, Aix und Toulouse. In der ersten Sitzung
hielt Calonne nach einer vom Könige verlesenen Ansprache eine glänzende Rede,
in der er zunächst den großen Fehlbetrag der Staatskasse eingestand; er habe
schon 1783 etwa 80 Millionen Defizit vorgefunden, und dieses sei infolge des
Krieges gegen England inzwischen noch gewachsen, aber die Lage sei keineswegs
verzweifelt: "denn in den Mißbräuchen besitze der Staat einen reichen Schatz,
den er nur zu heben brauche." Nachdem er dann seiner Reformpläne Er¬
wähnung getan hatte, wurden die Notabeln auf sieben unter dem Vorsitze je
eines Prinzen von Geblüt stehende Bureaus verteilt, in denen die einzelnen


Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

Provinzialstände hatten, also in den meisten; auf diese Weise sollte die bis¬
herige fast vollständige Zentralisation der Verwaltung vermindert und vor allem
das Interesse am Staat und das Verständnis für seine Aufgaben wieder er¬
weckt werden. Die zweite Denkschrift handelte von der Reform der Grund¬
steuer siruxöt territorial), wonach fortan die Einkünfte aller Ländereien, auch
der Domänen und der Kirchengüter, getroffen werden sollten. Der Minister
hoffte hierbei etwa 100 bis 104 Millionen zu erlangen, denen ein Ausfall
von etwa 54 Millionen dadurch gegenüberstand, daß man die zwei Zwanzigster
(vinAtikmes) nicht weiter erheben wollte. Andre Denkschriften befaßten sich mit
der Herabsetzung der Taille, besonders für die Tagelöhner und die Arbeiter,
mit der Freiheit des Getreidehandels, mit der Abschaffung der Naturalleistungen
für die königliche Wegefron und ihrer Ersetzung durch eine Geldzahlung, ferner
mit der Beseitigung aller Zollschranken im Innern des Königreichs, das nur
von einer einzigen Zollinie an seinen Grenzen umgeben sein sollte, sodann
mit einer Reform der Gabelle, jener furchtbar drückenden Salzsteuer, die jedes
Jahr Hunderte dem Verderben preisgab, endlich mit der bessern Verwaltung
der Domänen und der Forsten. Die Pläne Calonnes gingen also weit über
das hinaus, was einst Turgot erstrebt hatte; ja sie enthielten des Guten viel
zu viel, als daß es in ein bis zwei Dezennien, geschweige denn in einem Jahre
hätte in die Wirklichkeit umgesetzt werden können. Man kann nun nicht ur¬
teilen, wie das bisher so oft geschehen ist, daß die Notabeln diesen Plänen
interesselos gegenübergestanden hätten, das Gegenteil davon ist richtig; aber sie
machten es sich von vornherein zur Hauptaufgabe, den bestehenden Absolutismus
aufs leidenschaftlichste zu bekämpfen. Obwohl sie z. B. das Steuerprivilegium
ohne weiteres preisgaben, nutzten sie doch die Geldverlegenheit der Regierung
sofort aus, um einen Anteil an der Macht des Staates für sich selbst und
das Volk zu erringen.

Die Versammlung der Notabeln bestand aus 144 Mitgliedern; darunter
waren 7 Prinzen von Geblüt, 39 Adlige, 11 Geistliche, 12 Vertreter der schon
vorhandnen Provinzialstände, 25 Bürgermeister und andre städtische Beamte
sowie 50 Vertreter der Parlamente und der übrigen Magistratur. Es ge¬
hörten zu ihnen der populäre junge Marquis von La Fayette, der für die Frei¬
heit Amerikas gekämpft hatte, und als Führer der Versammlung die auf¬
geklärten Erzbischöfe von Narbonne, Aix und Toulouse. In der ersten Sitzung
hielt Calonne nach einer vom Könige verlesenen Ansprache eine glänzende Rede,
in der er zunächst den großen Fehlbetrag der Staatskasse eingestand; er habe
schon 1783 etwa 80 Millionen Defizit vorgefunden, und dieses sei infolge des
Krieges gegen England inzwischen noch gewachsen, aber die Lage sei keineswegs
verzweifelt: „denn in den Mißbräuchen besitze der Staat einen reichen Schatz,
den er nur zu heben brauche." Nachdem er dann seiner Reformpläne Er¬
wähnung getan hatte, wurden die Notabeln auf sieben unter dem Vorsitze je
eines Prinzen von Geblüt stehende Bureaus verteilt, in denen die einzelnen


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[0211] Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739 Provinzialstände hatten, also in den meisten; auf diese Weise sollte die bis¬ herige fast vollständige Zentralisation der Verwaltung vermindert und vor allem das Interesse am Staat und das Verständnis für seine Aufgaben wieder er¬ weckt werden. Die zweite Denkschrift handelte von der Reform der Grund¬ steuer siruxöt territorial), wonach fortan die Einkünfte aller Ländereien, auch der Domänen und der Kirchengüter, getroffen werden sollten. Der Minister hoffte hierbei etwa 100 bis 104 Millionen zu erlangen, denen ein Ausfall von etwa 54 Millionen dadurch gegenüberstand, daß man die zwei Zwanzigster (vinAtikmes) nicht weiter erheben wollte. Andre Denkschriften befaßten sich mit der Herabsetzung der Taille, besonders für die Tagelöhner und die Arbeiter, mit der Freiheit des Getreidehandels, mit der Abschaffung der Naturalleistungen für die königliche Wegefron und ihrer Ersetzung durch eine Geldzahlung, ferner mit der Beseitigung aller Zollschranken im Innern des Königreichs, das nur von einer einzigen Zollinie an seinen Grenzen umgeben sein sollte, sodann mit einer Reform der Gabelle, jener furchtbar drückenden Salzsteuer, die jedes Jahr Hunderte dem Verderben preisgab, endlich mit der bessern Verwaltung der Domänen und der Forsten. Die Pläne Calonnes gingen also weit über das hinaus, was einst Turgot erstrebt hatte; ja sie enthielten des Guten viel zu viel, als daß es in ein bis zwei Dezennien, geschweige denn in einem Jahre hätte in die Wirklichkeit umgesetzt werden können. Man kann nun nicht ur¬ teilen, wie das bisher so oft geschehen ist, daß die Notabeln diesen Plänen interesselos gegenübergestanden hätten, das Gegenteil davon ist richtig; aber sie machten es sich von vornherein zur Hauptaufgabe, den bestehenden Absolutismus aufs leidenschaftlichste zu bekämpfen. Obwohl sie z. B. das Steuerprivilegium ohne weiteres preisgaben, nutzten sie doch die Geldverlegenheit der Regierung sofort aus, um einen Anteil an der Macht des Staates für sich selbst und das Volk zu erringen. Die Versammlung der Notabeln bestand aus 144 Mitgliedern; darunter waren 7 Prinzen von Geblüt, 39 Adlige, 11 Geistliche, 12 Vertreter der schon vorhandnen Provinzialstände, 25 Bürgermeister und andre städtische Beamte sowie 50 Vertreter der Parlamente und der übrigen Magistratur. Es ge¬ hörten zu ihnen der populäre junge Marquis von La Fayette, der für die Frei¬ heit Amerikas gekämpft hatte, und als Führer der Versammlung die auf¬ geklärten Erzbischöfe von Narbonne, Aix und Toulouse. In der ersten Sitzung hielt Calonne nach einer vom Könige verlesenen Ansprache eine glänzende Rede, in der er zunächst den großen Fehlbetrag der Staatskasse eingestand; er habe schon 1783 etwa 80 Millionen Defizit vorgefunden, und dieses sei infolge des Krieges gegen England inzwischen noch gewachsen, aber die Lage sei keineswegs verzweifelt: „denn in den Mißbräuchen besitze der Staat einen reichen Schatz, den er nur zu heben brauche." Nachdem er dann seiner Reformpläne Er¬ wähnung getan hatte, wurden die Notabeln auf sieben unter dem Vorsitze je eines Prinzen von Geblüt stehende Bureaus verteilt, in denen die einzelnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/211>, abgerufen am 25.08.2024.