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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

Wert ist, daß Wahl die revolutionäre Bewegung, besonders von der Mitte des
Jahres 1788 an, mehr als bisher im Sinne des größten Historikers der Periode,
Tocqueville, behandelt; eine Tatsache, die sich teils aus dem gleichmäßigen
Quellenstudium, teils aus dem Bestreben beider Geschichtschreiber erklärt, die
Dinge so zu sehen, wie sie wirklich gewesen sind, und nicht durch rationalistische
Konstruktionen festzustellen. Mit Recht sagt er in einem dem Werke beigegebnen
Exkurse, daß er es bei aller fast unbegrenzten Verehrung für Ranke für unzu¬
lässig halte, ihn als kanonische Autorität zu betrachten, daß aber seine Schrift
bei allen Abweichungen im einzelnen in der Art der Auffassung gegenüber der
Mehrzahl der französischen Historiker ein Zurück zu Ranke bedeute. Seine
Darstellung ist überaus frisch und anschaulich und nimmt in gewissen Partien
geradezu aktuellen Charakter an.

Eine Notabelnversammlung war eine Art von Staatsrat, den der König
hin und wieder aus vornehmen Herren vom Klerus und Adel und aus höhern
Beamten einberufen hatte, um mit ihnen über wichtige Staatsangelegenheiten
zu verhandeln. Das letzte Mal war dies 1626, also zwölf Jahre nach dem
letzten Zusammentritt der Generalstaaten, geschehen: aber der monarchische Ab¬
solutismus Frankreichs nahm bald darauf eine solche Festigkeit an, daß Richelieu
und seine Nachfolger selbst von der Berufung eines solchen Staatsrath absehen
konnten, um so mehr, als sie ja verfassungsmäßig keine Notwendigkeit war.
Wenn also Calonne jetzt, nach über hundertundsechzig Jahren, die alte historische
Einrichtung zu neuem Leben erweckte, so schien dies manchem Politiker von
vornherein bedenklich: man sah darin eine Schwächung der königlichen Gewalt
und glaubte nicht recht daran, daß es dem Minister mit seinen Reformen ernst
sei, vermutete vielmehr, daß er lediglich, um die verfahrnen Finanzen in Ord¬
nung zu bringen, eine Steuererhöhung durchsetzen wolle, mit der er bei dem
Parlament auf den heftigsten Widerstand gestoßen wäre. Calonne teilte jedoch
keinerlei Bedenken. Er legte dem König eine ausführliche Denkschrift vor, in
der Vorschläge zur Abstellung des Defizits und zu einer Reihe der aller-
wichtigsten Reformen gemacht wurden. Der König gab seine volle Einwilligung
hierzu und konnte in der folgenden Nacht vor freudiger Aufregung nicht
schlafen. Am 29. Dezember 1786 erging daraufhin die Einberufung der
Notabeln zum 29. Januar 1787. Im ganzen wurden ihnen achtzehn Reform¬
pläne vorgelegt. Der erste und wichtigste schlug die Errichtung von Provinzial-,
Distrikts- und Gemeindeversammlungen in allen Provinzen vor, die noch keine


20. Februar 1909 (Ur. 8) finde ich die Besprechung eines Buches von Hans Glagau,
Reformversuche und Sturz des Absolutismus in Frankreich (1774 bis 1788), München, 1908,
Oldenbourg, in der es heißt: "Glagau hat ein sehr hübsches, sicher zuverlässiges, äußerst gut
stilisiertes Buch geschrieben, dessen Gesamtauffassung aber durchaus diejenige Wahls ist, und das
als Ganzes nach Wahls Wer! geradezu als überflüssig erscheinen muß." "Das Schlußergebnis
ist ,.. bei beiden dasselbe: Sturz des Absolutismus, also Sieg der Freiheit, Stillstand der
Reforni von oben, Bahn frei für den Kampf des dritten Standes um die Gleichheit!"
Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739

Wert ist, daß Wahl die revolutionäre Bewegung, besonders von der Mitte des
Jahres 1788 an, mehr als bisher im Sinne des größten Historikers der Periode,
Tocqueville, behandelt; eine Tatsache, die sich teils aus dem gleichmäßigen
Quellenstudium, teils aus dem Bestreben beider Geschichtschreiber erklärt, die
Dinge so zu sehen, wie sie wirklich gewesen sind, und nicht durch rationalistische
Konstruktionen festzustellen. Mit Recht sagt er in einem dem Werke beigegebnen
Exkurse, daß er es bei aller fast unbegrenzten Verehrung für Ranke für unzu¬
lässig halte, ihn als kanonische Autorität zu betrachten, daß aber seine Schrift
bei allen Abweichungen im einzelnen in der Art der Auffassung gegenüber der
Mehrzahl der französischen Historiker ein Zurück zu Ranke bedeute. Seine
Darstellung ist überaus frisch und anschaulich und nimmt in gewissen Partien
geradezu aktuellen Charakter an.

Eine Notabelnversammlung war eine Art von Staatsrat, den der König
hin und wieder aus vornehmen Herren vom Klerus und Adel und aus höhern
Beamten einberufen hatte, um mit ihnen über wichtige Staatsangelegenheiten
zu verhandeln. Das letzte Mal war dies 1626, also zwölf Jahre nach dem
letzten Zusammentritt der Generalstaaten, geschehen: aber der monarchische Ab¬
solutismus Frankreichs nahm bald darauf eine solche Festigkeit an, daß Richelieu
und seine Nachfolger selbst von der Berufung eines solchen Staatsrath absehen
konnten, um so mehr, als sie ja verfassungsmäßig keine Notwendigkeit war.
Wenn also Calonne jetzt, nach über hundertundsechzig Jahren, die alte historische
Einrichtung zu neuem Leben erweckte, so schien dies manchem Politiker von
vornherein bedenklich: man sah darin eine Schwächung der königlichen Gewalt
und glaubte nicht recht daran, daß es dem Minister mit seinen Reformen ernst
sei, vermutete vielmehr, daß er lediglich, um die verfahrnen Finanzen in Ord¬
nung zu bringen, eine Steuererhöhung durchsetzen wolle, mit der er bei dem
Parlament auf den heftigsten Widerstand gestoßen wäre. Calonne teilte jedoch
keinerlei Bedenken. Er legte dem König eine ausführliche Denkschrift vor, in
der Vorschläge zur Abstellung des Defizits und zu einer Reihe der aller-
wichtigsten Reformen gemacht wurden. Der König gab seine volle Einwilligung
hierzu und konnte in der folgenden Nacht vor freudiger Aufregung nicht
schlafen. Am 29. Dezember 1786 erging daraufhin die Einberufung der
Notabeln zum 29. Januar 1787. Im ganzen wurden ihnen achtzehn Reform¬
pläne vorgelegt. Der erste und wichtigste schlug die Errichtung von Provinzial-,
Distrikts- und Gemeindeversammlungen in allen Provinzen vor, die noch keine


20. Februar 1909 (Ur. 8) finde ich die Besprechung eines Buches von Hans Glagau,
Reformversuche und Sturz des Absolutismus in Frankreich (1774 bis 1788), München, 1908,
Oldenbourg, in der es heißt: „Glagau hat ein sehr hübsches, sicher zuverlässiges, äußerst gut
stilisiertes Buch geschrieben, dessen Gesamtauffassung aber durchaus diejenige Wahls ist, und das
als Ganzes nach Wahls Wer! geradezu als überflüssig erscheinen muß." „Das Schlußergebnis
ist ,.. bei beiden dasselbe: Sturz des Absolutismus, also Sieg der Freiheit, Stillstand der
Reforni von oben, Bahn frei für den Kampf des dritten Standes um die Gleichheit!"
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[0210] Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.739 Wert ist, daß Wahl die revolutionäre Bewegung, besonders von der Mitte des Jahres 1788 an, mehr als bisher im Sinne des größten Historikers der Periode, Tocqueville, behandelt; eine Tatsache, die sich teils aus dem gleichmäßigen Quellenstudium, teils aus dem Bestreben beider Geschichtschreiber erklärt, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich gewesen sind, und nicht durch rationalistische Konstruktionen festzustellen. Mit Recht sagt er in einem dem Werke beigegebnen Exkurse, daß er es bei aller fast unbegrenzten Verehrung für Ranke für unzu¬ lässig halte, ihn als kanonische Autorität zu betrachten, daß aber seine Schrift bei allen Abweichungen im einzelnen in der Art der Auffassung gegenüber der Mehrzahl der französischen Historiker ein Zurück zu Ranke bedeute. Seine Darstellung ist überaus frisch und anschaulich und nimmt in gewissen Partien geradezu aktuellen Charakter an. Eine Notabelnversammlung war eine Art von Staatsrat, den der König hin und wieder aus vornehmen Herren vom Klerus und Adel und aus höhern Beamten einberufen hatte, um mit ihnen über wichtige Staatsangelegenheiten zu verhandeln. Das letzte Mal war dies 1626, also zwölf Jahre nach dem letzten Zusammentritt der Generalstaaten, geschehen: aber der monarchische Ab¬ solutismus Frankreichs nahm bald darauf eine solche Festigkeit an, daß Richelieu und seine Nachfolger selbst von der Berufung eines solchen Staatsrath absehen konnten, um so mehr, als sie ja verfassungsmäßig keine Notwendigkeit war. Wenn also Calonne jetzt, nach über hundertundsechzig Jahren, die alte historische Einrichtung zu neuem Leben erweckte, so schien dies manchem Politiker von vornherein bedenklich: man sah darin eine Schwächung der königlichen Gewalt und glaubte nicht recht daran, daß es dem Minister mit seinen Reformen ernst sei, vermutete vielmehr, daß er lediglich, um die verfahrnen Finanzen in Ord¬ nung zu bringen, eine Steuererhöhung durchsetzen wolle, mit der er bei dem Parlament auf den heftigsten Widerstand gestoßen wäre. Calonne teilte jedoch keinerlei Bedenken. Er legte dem König eine ausführliche Denkschrift vor, in der Vorschläge zur Abstellung des Defizits und zu einer Reihe der aller- wichtigsten Reformen gemacht wurden. Der König gab seine volle Einwilligung hierzu und konnte in der folgenden Nacht vor freudiger Aufregung nicht schlafen. Am 29. Dezember 1786 erging daraufhin die Einberufung der Notabeln zum 29. Januar 1787. Im ganzen wurden ihnen achtzehn Reform¬ pläne vorgelegt. Der erste und wichtigste schlug die Errichtung von Provinzial-, Distrikts- und Gemeindeversammlungen in allen Provinzen vor, die noch keine 20. Februar 1909 (Ur. 8) finde ich die Besprechung eines Buches von Hans Glagau, Reformversuche und Sturz des Absolutismus in Frankreich (1774 bis 1788), München, 1908, Oldenbourg, in der es heißt: „Glagau hat ein sehr hübsches, sicher zuverlässiges, äußerst gut stilisiertes Buch geschrieben, dessen Gesamtauffassung aber durchaus diejenige Wahls ist, und das als Ganzes nach Wahls Wer! geradezu als überflüssig erscheinen muß." „Das Schlußergebnis ist ,.. bei beiden dasselbe: Sturz des Absolutismus, also Sieg der Freiheit, Stillstand der Reforni von oben, Bahn frei für den Kampf des dritten Standes um die Gleichheit!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/210>, abgerufen am 22.07.2024.