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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Europäisch - asiatische Kulturbeziehungen in Innerasien

aufwärts bis Jrkeschtam führt. Von hier aus ist Kaschgar bequem in vier
Tagen zu erreichen.

Die Entscheidung über die wirtschaftliche Zukunft Zentralasiens liegt einer¬
seits in Herat, andrerseits in Peking. Das indische Bahnnetz hat Tschaman (etwa
140 Kilometer südöstlich von Kandahar) erreicht, das russische hat Kuschk mit
Maro verknüpft. Diese Seitenlinie ist freilich dem Verkehr nicht geöffnet; der
Besuch von Kuschk ist aufs strengste untersagt; hier liegen russische Befestigungen,
die die Pässe nach Afghanistan beherrschen. Eine afghanische Bahn aber, die
von Merw oder Tschardschui über Bates nach Kunduz führte, würde das reichste
Gebiet Afghanistans, das Gebiet westlich vom Badachschan-Gebirgsland, er¬
schließen, Bates, das alte Baktra, das schon im Awesta als "die schöne Stadt
mit den hohen Bannern" gerühmt wird, kann wieder, wie im Altertum, die
Zentrale der ostiranischen Kultur werden. Die reichen Landschaften des nörd¬
lichen Afghanistan erschließen sich geographisch und wirtschaftlich nach dem
russischen Zentralasien.

Hartmann meint, daß schon unter dem herrschenden Emir die Aussicht
auf den Bau einer Bahn von Tschaman über Herat nach Merw bestehe. Sie
würde eine außerordentliche Kulturbedeutuug haben, da sie eine Landver¬
bindung Europas mit Indien herstellt. Aber die wirtschaftlichen Interessen
des Weltverkehrs und der Weltkultur werden hier von politischen Machtfragen
gestört. Der Anschluß an Kuschk-Merw scheint bei der politischen Lage aus¬
geschlossen. Dagegen wird das russische Bahnnetz seine zentralasiatischen
Linien tiefer in das Innere führen. Heute ist Andidschan erreicht, der An¬
schluß von Osch ist sicher. Aber in dieser Richtung sind dem Vordringen
natürliche Schranken gesetzt. Es scheint, daß die alte, oben geschilderte Straße
aus dem Amutale aufwärts nach Jrkeschtam, die überall durch gut besiedelte
Flußtäler führt, eine Bedeutung für die Zukunft gewinnen kann. Alle diese
Linien würden zwar Kaschgar nicht erreichen, aber ihm sehr nahe kommen, und
zwar an Punkten, von denen aus der Zugang nicht schwer ist.

Die westliche Entwicklung aber wird ihre volle Bedeutung erst gewinnen,
wenn durch den Ausbau der chinesischen Bahnen das große östliche Kultur¬
gebiet wiederum dem Westen entgegenkommt. Bei der tiefgreifenden Um¬
bildung, die sich in China vollzieht, und die bei der Intelligenz und Arbeits¬
fähigkeit des Chinesen zwar langsam, aber sicher und wirksam ihr Ziel erreichen
wird, ist das eine Frage der Zeit. Die bedeutendste Aufgabe ist der Anschluß
der reichen westlichen Provinz Kan-su etwa über Si-ngan-fu. Sobald die
beiden Kulturkreise Asiens, der östliche und der westliche, mit modernen Ver¬
kehrsmitteln einander nähergerückt sind, wird das zentrale Turkestan wieder
die Vermittlung zwischen beiden übernehmen. Ähnliche Gedanken, wie sie
Hartmann hier entwickelt, hat der größte europäische Kenner Chinas, der
russische Sinologe Wasslijew (gestorben 1900), schon im Jahre 1858 in einer
russisch geschriebnen Abhandlung ("Die Erschließung Chinas") ausgesprochen.


Europäisch - asiatische Kulturbeziehungen in Innerasien

aufwärts bis Jrkeschtam führt. Von hier aus ist Kaschgar bequem in vier
Tagen zu erreichen.

Die Entscheidung über die wirtschaftliche Zukunft Zentralasiens liegt einer¬
seits in Herat, andrerseits in Peking. Das indische Bahnnetz hat Tschaman (etwa
140 Kilometer südöstlich von Kandahar) erreicht, das russische hat Kuschk mit
Maro verknüpft. Diese Seitenlinie ist freilich dem Verkehr nicht geöffnet; der
Besuch von Kuschk ist aufs strengste untersagt; hier liegen russische Befestigungen,
die die Pässe nach Afghanistan beherrschen. Eine afghanische Bahn aber, die
von Merw oder Tschardschui über Bates nach Kunduz führte, würde das reichste
Gebiet Afghanistans, das Gebiet westlich vom Badachschan-Gebirgsland, er¬
schließen, Bates, das alte Baktra, das schon im Awesta als „die schöne Stadt
mit den hohen Bannern" gerühmt wird, kann wieder, wie im Altertum, die
Zentrale der ostiranischen Kultur werden. Die reichen Landschaften des nörd¬
lichen Afghanistan erschließen sich geographisch und wirtschaftlich nach dem
russischen Zentralasien.

Hartmann meint, daß schon unter dem herrschenden Emir die Aussicht
auf den Bau einer Bahn von Tschaman über Herat nach Merw bestehe. Sie
würde eine außerordentliche Kulturbedeutuug haben, da sie eine Landver¬
bindung Europas mit Indien herstellt. Aber die wirtschaftlichen Interessen
des Weltverkehrs und der Weltkultur werden hier von politischen Machtfragen
gestört. Der Anschluß an Kuschk-Merw scheint bei der politischen Lage aus¬
geschlossen. Dagegen wird das russische Bahnnetz seine zentralasiatischen
Linien tiefer in das Innere führen. Heute ist Andidschan erreicht, der An¬
schluß von Osch ist sicher. Aber in dieser Richtung sind dem Vordringen
natürliche Schranken gesetzt. Es scheint, daß die alte, oben geschilderte Straße
aus dem Amutale aufwärts nach Jrkeschtam, die überall durch gut besiedelte
Flußtäler führt, eine Bedeutung für die Zukunft gewinnen kann. Alle diese
Linien würden zwar Kaschgar nicht erreichen, aber ihm sehr nahe kommen, und
zwar an Punkten, von denen aus der Zugang nicht schwer ist.

Die westliche Entwicklung aber wird ihre volle Bedeutung erst gewinnen,
wenn durch den Ausbau der chinesischen Bahnen das große östliche Kultur¬
gebiet wiederum dem Westen entgegenkommt. Bei der tiefgreifenden Um¬
bildung, die sich in China vollzieht, und die bei der Intelligenz und Arbeits¬
fähigkeit des Chinesen zwar langsam, aber sicher und wirksam ihr Ziel erreichen
wird, ist das eine Frage der Zeit. Die bedeutendste Aufgabe ist der Anschluß
der reichen westlichen Provinz Kan-su etwa über Si-ngan-fu. Sobald die
beiden Kulturkreise Asiens, der östliche und der westliche, mit modernen Ver¬
kehrsmitteln einander nähergerückt sind, wird das zentrale Turkestan wieder
die Vermittlung zwischen beiden übernehmen. Ähnliche Gedanken, wie sie
Hartmann hier entwickelt, hat der größte europäische Kenner Chinas, der
russische Sinologe Wasslijew (gestorben 1900), schon im Jahre 1858 in einer
russisch geschriebnen Abhandlung („Die Erschließung Chinas") ausgesprochen.


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[0176] Europäisch - asiatische Kulturbeziehungen in Innerasien aufwärts bis Jrkeschtam führt. Von hier aus ist Kaschgar bequem in vier Tagen zu erreichen. Die Entscheidung über die wirtschaftliche Zukunft Zentralasiens liegt einer¬ seits in Herat, andrerseits in Peking. Das indische Bahnnetz hat Tschaman (etwa 140 Kilometer südöstlich von Kandahar) erreicht, das russische hat Kuschk mit Maro verknüpft. Diese Seitenlinie ist freilich dem Verkehr nicht geöffnet; der Besuch von Kuschk ist aufs strengste untersagt; hier liegen russische Befestigungen, die die Pässe nach Afghanistan beherrschen. Eine afghanische Bahn aber, die von Merw oder Tschardschui über Bates nach Kunduz führte, würde das reichste Gebiet Afghanistans, das Gebiet westlich vom Badachschan-Gebirgsland, er¬ schließen, Bates, das alte Baktra, das schon im Awesta als „die schöne Stadt mit den hohen Bannern" gerühmt wird, kann wieder, wie im Altertum, die Zentrale der ostiranischen Kultur werden. Die reichen Landschaften des nörd¬ lichen Afghanistan erschließen sich geographisch und wirtschaftlich nach dem russischen Zentralasien. Hartmann meint, daß schon unter dem herrschenden Emir die Aussicht auf den Bau einer Bahn von Tschaman über Herat nach Merw bestehe. Sie würde eine außerordentliche Kulturbedeutuug haben, da sie eine Landver¬ bindung Europas mit Indien herstellt. Aber die wirtschaftlichen Interessen des Weltverkehrs und der Weltkultur werden hier von politischen Machtfragen gestört. Der Anschluß an Kuschk-Merw scheint bei der politischen Lage aus¬ geschlossen. Dagegen wird das russische Bahnnetz seine zentralasiatischen Linien tiefer in das Innere führen. Heute ist Andidschan erreicht, der An¬ schluß von Osch ist sicher. Aber in dieser Richtung sind dem Vordringen natürliche Schranken gesetzt. Es scheint, daß die alte, oben geschilderte Straße aus dem Amutale aufwärts nach Jrkeschtam, die überall durch gut besiedelte Flußtäler führt, eine Bedeutung für die Zukunft gewinnen kann. Alle diese Linien würden zwar Kaschgar nicht erreichen, aber ihm sehr nahe kommen, und zwar an Punkten, von denen aus der Zugang nicht schwer ist. Die westliche Entwicklung aber wird ihre volle Bedeutung erst gewinnen, wenn durch den Ausbau der chinesischen Bahnen das große östliche Kultur¬ gebiet wiederum dem Westen entgegenkommt. Bei der tiefgreifenden Um¬ bildung, die sich in China vollzieht, und die bei der Intelligenz und Arbeits¬ fähigkeit des Chinesen zwar langsam, aber sicher und wirksam ihr Ziel erreichen wird, ist das eine Frage der Zeit. Die bedeutendste Aufgabe ist der Anschluß der reichen westlichen Provinz Kan-su etwa über Si-ngan-fu. Sobald die beiden Kulturkreise Asiens, der östliche und der westliche, mit modernen Ver¬ kehrsmitteln einander nähergerückt sind, wird das zentrale Turkestan wieder die Vermittlung zwischen beiden übernehmen. Ähnliche Gedanken, wie sie Hartmann hier entwickelt, hat der größte europäische Kenner Chinas, der russische Sinologe Wasslijew (gestorben 1900), schon im Jahre 1858 in einer russisch geschriebnen Abhandlung („Die Erschließung Chinas") ausgesprochen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/176>, abgerufen am 23.07.2024.