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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Europäisch-asiatische Uultnrbeziehungen in Innerasien

Vieles, was dieser Gelehrte vor fünfzig Jahren gesagt hat, ist in den letzten
Jahren eingetreten, zum Beispiel die Besitzergreifung Koreas durch Japan.
Es ist ein billiger Spott, Ausblicke in die wirtschaftliche Zukunft der großen
asiatischen Gebiete für Phantasie zu erklären. Aber was heute in West- und
Ostasien als Tatsache vor unsern Augen liegt, das wäre vor zwanzig Jahren
derselben Kritik verfallen. Es wird immer klarer, daß alle wirtschaftlich wert¬
vollen Gebiete Asiens, alle wichtigen Verkehrsbahnen von einer immer schneller
vordringenden Bewegung wieder der Weltkultur eingefügt werden. Der Ausbau
der westasiatischen und der ostchinesischen Bahnen wird die innern Landschaften
nicht nur wirtschaftlich fördern, sondern sie auch durch moderne Verkehrsmittel
an die großen Kulturländer des Ostens und Westens anschließen.

Zwischen Europa und Asien besteht ein breiter und in den Verhältnissen
des Bodenbaus tief begründeter Zusammenhang, wie er nur diese beiden Erd¬
teile verbindet. Man hat seit dem Erwachen des geographischen Denkens bei
den griechischen Geographen deshalb beide Erdteile oft als Einheit betrachtet.
Zuletzt hat der Wiener Geolog Ed. Süß dieser Auffassung durch die Be¬
nennung "Eurasien" einen treffenden Ausdruck verliehen. Hartmann selbst
hat diesem geographischen Begriff eine Studie gewidmet. (Orient. Literatur-
Zeitung 1904, 15. August.) Dieser Zusammenhang des Raumes wird im neuen
Jahrhundert auch wirtschaftsgeschichtlich wirksam werden; die ersten Schritte
dazu sehen wir heute. Welche Formen der Kulturzusammenhang von Asien und
Europa annehmen wird, ist schwer zu sagen. Die Geschichte zeigt bald Asien, bald
Europa als die vordringende Macht. Die Völker des Orients aber, zumal
Chinas, erwachen heute zu verstärktem, ja oft leidenschaftlich erregtem Be¬
wußtsein ihres geschichtlichen Lebens. Das Streben nach selbständiger Be-
tätigung, nach selbstbestimmter Gestaltung ihres Daseins regt sich im Orient
überall. Deshalb ist wohl nur eine gegenseitige Annäherung zwischen
Asien und Europa, vielleicht ein Zusammenstoßen, als die Form künftiger
geschichtlicher Berührungen denkbar. Aber niemand kann sagen, was ge¬
schichtlich wirklich werden wird; nur die lebendigen Kräfte am sausenden
Webstuhl der Zeit möchten wir belauschen können.

Viele werden solchen Ausblicken skeptisch gegenüberstehn. Das ist aus
den Zustünden begreiflich, von denen das politische Denken Europas über¬
haupt bestimmt wird. Europa ist ein stark gegliederter Raum, der einem viel¬
gestaltigen geschichtlichen Leben alle Voraussetzungen gewährt. Der nationale
Individualismus ist damit auch die Form des politischen Denkens. Die
Idee einer europäischen Kulturgemeinschaft ist mit der Auflösung der geistigen
Einheit des Mittelalters verloren gegangen. Sie kann aber wieder er¬
wachen in der Auseinandersetzung mit geschlossenen, großen Mächten wie der
islamischen Welt oder der ostasiatischen Völkermasse. Es ist mit einem Worte
der Orient, der geistig, religiös, wirtschaftlich und politisch die großen
Probleme der Zukunft stellen wird. Die Auseinanandersetzungen zwischen


Europäisch-asiatische Uultnrbeziehungen in Innerasien

Vieles, was dieser Gelehrte vor fünfzig Jahren gesagt hat, ist in den letzten
Jahren eingetreten, zum Beispiel die Besitzergreifung Koreas durch Japan.
Es ist ein billiger Spott, Ausblicke in die wirtschaftliche Zukunft der großen
asiatischen Gebiete für Phantasie zu erklären. Aber was heute in West- und
Ostasien als Tatsache vor unsern Augen liegt, das wäre vor zwanzig Jahren
derselben Kritik verfallen. Es wird immer klarer, daß alle wirtschaftlich wert¬
vollen Gebiete Asiens, alle wichtigen Verkehrsbahnen von einer immer schneller
vordringenden Bewegung wieder der Weltkultur eingefügt werden. Der Ausbau
der westasiatischen und der ostchinesischen Bahnen wird die innern Landschaften
nicht nur wirtschaftlich fördern, sondern sie auch durch moderne Verkehrsmittel
an die großen Kulturländer des Ostens und Westens anschließen.

Zwischen Europa und Asien besteht ein breiter und in den Verhältnissen
des Bodenbaus tief begründeter Zusammenhang, wie er nur diese beiden Erd¬
teile verbindet. Man hat seit dem Erwachen des geographischen Denkens bei
den griechischen Geographen deshalb beide Erdteile oft als Einheit betrachtet.
Zuletzt hat der Wiener Geolog Ed. Süß dieser Auffassung durch die Be¬
nennung „Eurasien" einen treffenden Ausdruck verliehen. Hartmann selbst
hat diesem geographischen Begriff eine Studie gewidmet. (Orient. Literatur-
Zeitung 1904, 15. August.) Dieser Zusammenhang des Raumes wird im neuen
Jahrhundert auch wirtschaftsgeschichtlich wirksam werden; die ersten Schritte
dazu sehen wir heute. Welche Formen der Kulturzusammenhang von Asien und
Europa annehmen wird, ist schwer zu sagen. Die Geschichte zeigt bald Asien, bald
Europa als die vordringende Macht. Die Völker des Orients aber, zumal
Chinas, erwachen heute zu verstärktem, ja oft leidenschaftlich erregtem Be¬
wußtsein ihres geschichtlichen Lebens. Das Streben nach selbständiger Be-
tätigung, nach selbstbestimmter Gestaltung ihres Daseins regt sich im Orient
überall. Deshalb ist wohl nur eine gegenseitige Annäherung zwischen
Asien und Europa, vielleicht ein Zusammenstoßen, als die Form künftiger
geschichtlicher Berührungen denkbar. Aber niemand kann sagen, was ge¬
schichtlich wirklich werden wird; nur die lebendigen Kräfte am sausenden
Webstuhl der Zeit möchten wir belauschen können.

Viele werden solchen Ausblicken skeptisch gegenüberstehn. Das ist aus
den Zustünden begreiflich, von denen das politische Denken Europas über¬
haupt bestimmt wird. Europa ist ein stark gegliederter Raum, der einem viel¬
gestaltigen geschichtlichen Leben alle Voraussetzungen gewährt. Der nationale
Individualismus ist damit auch die Form des politischen Denkens. Die
Idee einer europäischen Kulturgemeinschaft ist mit der Auflösung der geistigen
Einheit des Mittelalters verloren gegangen. Sie kann aber wieder er¬
wachen in der Auseinandersetzung mit geschlossenen, großen Mächten wie der
islamischen Welt oder der ostasiatischen Völkermasse. Es ist mit einem Worte
der Orient, der geistig, religiös, wirtschaftlich und politisch die großen
Probleme der Zukunft stellen wird. Die Auseinanandersetzungen zwischen


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[0177] Europäisch-asiatische Uultnrbeziehungen in Innerasien Vieles, was dieser Gelehrte vor fünfzig Jahren gesagt hat, ist in den letzten Jahren eingetreten, zum Beispiel die Besitzergreifung Koreas durch Japan. Es ist ein billiger Spott, Ausblicke in die wirtschaftliche Zukunft der großen asiatischen Gebiete für Phantasie zu erklären. Aber was heute in West- und Ostasien als Tatsache vor unsern Augen liegt, das wäre vor zwanzig Jahren derselben Kritik verfallen. Es wird immer klarer, daß alle wirtschaftlich wert¬ vollen Gebiete Asiens, alle wichtigen Verkehrsbahnen von einer immer schneller vordringenden Bewegung wieder der Weltkultur eingefügt werden. Der Ausbau der westasiatischen und der ostchinesischen Bahnen wird die innern Landschaften nicht nur wirtschaftlich fördern, sondern sie auch durch moderne Verkehrsmittel an die großen Kulturländer des Ostens und Westens anschließen. Zwischen Europa und Asien besteht ein breiter und in den Verhältnissen des Bodenbaus tief begründeter Zusammenhang, wie er nur diese beiden Erd¬ teile verbindet. Man hat seit dem Erwachen des geographischen Denkens bei den griechischen Geographen deshalb beide Erdteile oft als Einheit betrachtet. Zuletzt hat der Wiener Geolog Ed. Süß dieser Auffassung durch die Be¬ nennung „Eurasien" einen treffenden Ausdruck verliehen. Hartmann selbst hat diesem geographischen Begriff eine Studie gewidmet. (Orient. Literatur- Zeitung 1904, 15. August.) Dieser Zusammenhang des Raumes wird im neuen Jahrhundert auch wirtschaftsgeschichtlich wirksam werden; die ersten Schritte dazu sehen wir heute. Welche Formen der Kulturzusammenhang von Asien und Europa annehmen wird, ist schwer zu sagen. Die Geschichte zeigt bald Asien, bald Europa als die vordringende Macht. Die Völker des Orients aber, zumal Chinas, erwachen heute zu verstärktem, ja oft leidenschaftlich erregtem Be¬ wußtsein ihres geschichtlichen Lebens. Das Streben nach selbständiger Be- tätigung, nach selbstbestimmter Gestaltung ihres Daseins regt sich im Orient überall. Deshalb ist wohl nur eine gegenseitige Annäherung zwischen Asien und Europa, vielleicht ein Zusammenstoßen, als die Form künftiger geschichtlicher Berührungen denkbar. Aber niemand kann sagen, was ge¬ schichtlich wirklich werden wird; nur die lebendigen Kräfte am sausenden Webstuhl der Zeit möchten wir belauschen können. Viele werden solchen Ausblicken skeptisch gegenüberstehn. Das ist aus den Zustünden begreiflich, von denen das politische Denken Europas über¬ haupt bestimmt wird. Europa ist ein stark gegliederter Raum, der einem viel¬ gestaltigen geschichtlichen Leben alle Voraussetzungen gewährt. Der nationale Individualismus ist damit auch die Form des politischen Denkens. Die Idee einer europäischen Kulturgemeinschaft ist mit der Auflösung der geistigen Einheit des Mittelalters verloren gegangen. Sie kann aber wieder er¬ wachen in der Auseinandersetzung mit geschlossenen, großen Mächten wie der islamischen Welt oder der ostasiatischen Völkermasse. Es ist mit einem Worte der Orient, der geistig, religiös, wirtschaftlich und politisch die großen Probleme der Zukunft stellen wird. Die Auseinanandersetzungen zwischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/177>, abgerufen am 22.12.2024.