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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

Schönheit des Tages auch dann noch geachtet wird, wenn die Autorität, die
ihn eingesetzt hat, nicht mehr anerkannt wird? Nur ein Bankfeiertag einmal
in der Woche -- welche Aussichten für die Zukunft!

In den letzten zehn Jahren habe ich einen guten Teil englischer Land¬
gasthäuser kennen gelernt und war erstaunt, wie schlecht sie waren. Nur ein-
oder zweimal habe ich etwas wie Komfort angetroffen. Auch die Betten be¬
friedigten mich nicht; entweder waren sie unsinnig groß und mit Kissen voll¬
gepfropft oder hart und dürftig. Überall waren die Möbel scheußlich; keine
einfache Anmut, nur dümmste Geschmacklosigkeit. Das Essen miserabel, die
Bedienung schlampig. Ich habe gehört, die Radfahrer hätten neues Leben in
die Wirtshäuser an der Landstraße gebracht. Ist dem so, dann sind die Rad¬
fahrer sehr genügsame Leute.

Ehemals waren diese Gasthäuser, wenn uns die alten Schriftsteller nichts
vorgelogen haben, das reinste Vergnügen, behaglich in jeder Beziehung. Man
konnte sicher sein, vortrefflich zu speisen, höflich, ja sehr freundlich bedient zu
werden. Heutzutage sind sie elende Schenken; die Wirte hauptsächlich auf den
Verdienst am Schnaps erpicht. Man bekommt zwar etwas zu essen und er¬
hält auch ein Bett, aber man gilt nichts, wenn man nicht gehörig trinkt.
Dabei hat die Trinkstube gar nichts Verlockendes; sie ist muffig und schmutzig.
Einige schmierige Stühle stehn darin, auf denen sich höchstens ein gemeiner
Schnapstrinker behaglich fühlen kann. Will man einen Brief schreiben, so
wird man in das für Handlungsreisende reservierte, sogenannte "Herrenzimmer"
verwiesen, wo nur eine verdorbne Feder und die denkbar schlechteste Tinte zur
Verfügung stehn. Die Wirte haben für ihr Geschüft blutwenig Verständnis;
Lackel sind sie und Lümmel. Man gerät förmlich in Wut über sie, um so
mehr, wenn das alte, hübsch bemalte Haus vorher versprochen hat, es werde,
wie vor Jahren, eine freundliche und komfortable Einkehr bieten. Am meisten
erstaunte ich über den geringen Grad von Manierlichkeit der Inwohner. Der
Wirt und die Wirtin waren entweder protzig oder zudringlich familiär; die
Kellner und Kellnerinnen bedienten mit der größten Nachlässigkeit; sie wurden
erst höflich beim Abschiede, schimpften aber einem nach, wenn ihnen das Trink¬
geld zu gering vorkam.

Einmal fand ich den Eingang eines Wirtshauses, in das ich vormittags
mehrmals hineinging, immer durch die dickleibige Wirtin und durch die Kellnerin
versperrt; beide schwatzten gemütlich miteinander und guckten auf die Straße
hinaus. Bat ich um Durchlaß, so machten sie mir unwillig und erst nach
langem Zögern Platz, und dann ohne ein Wort der Entschuldigung. Das
geschah -- wohlgemerkt! -- in dem besten Hotel eines Marktfleckens in Sussex.

Das Essen hat sich zweifellos in neuerer Zeit sehr verschlechtert. Daß
mit einem solchen Fressen -- ich weiß kein milderes Wort -- die vornehmen
Gäste früherer Jahre, die in eleganten Kutschen durch das Land fuhren, vorlieb¬
genommen haben sollten, kann man sich nicht vorstellen. Fleisch und Gemüse
sind von weniger als mittelmäßiger Qualität. Es ist eine wahre Schande,


Englische Eigenart

Schönheit des Tages auch dann noch geachtet wird, wenn die Autorität, die
ihn eingesetzt hat, nicht mehr anerkannt wird? Nur ein Bankfeiertag einmal
in der Woche — welche Aussichten für die Zukunft!

In den letzten zehn Jahren habe ich einen guten Teil englischer Land¬
gasthäuser kennen gelernt und war erstaunt, wie schlecht sie waren. Nur ein-
oder zweimal habe ich etwas wie Komfort angetroffen. Auch die Betten be¬
friedigten mich nicht; entweder waren sie unsinnig groß und mit Kissen voll¬
gepfropft oder hart und dürftig. Überall waren die Möbel scheußlich; keine
einfache Anmut, nur dümmste Geschmacklosigkeit. Das Essen miserabel, die
Bedienung schlampig. Ich habe gehört, die Radfahrer hätten neues Leben in
die Wirtshäuser an der Landstraße gebracht. Ist dem so, dann sind die Rad¬
fahrer sehr genügsame Leute.

Ehemals waren diese Gasthäuser, wenn uns die alten Schriftsteller nichts
vorgelogen haben, das reinste Vergnügen, behaglich in jeder Beziehung. Man
konnte sicher sein, vortrefflich zu speisen, höflich, ja sehr freundlich bedient zu
werden. Heutzutage sind sie elende Schenken; die Wirte hauptsächlich auf den
Verdienst am Schnaps erpicht. Man bekommt zwar etwas zu essen und er¬
hält auch ein Bett, aber man gilt nichts, wenn man nicht gehörig trinkt.
Dabei hat die Trinkstube gar nichts Verlockendes; sie ist muffig und schmutzig.
Einige schmierige Stühle stehn darin, auf denen sich höchstens ein gemeiner
Schnapstrinker behaglich fühlen kann. Will man einen Brief schreiben, so
wird man in das für Handlungsreisende reservierte, sogenannte „Herrenzimmer"
verwiesen, wo nur eine verdorbne Feder und die denkbar schlechteste Tinte zur
Verfügung stehn. Die Wirte haben für ihr Geschüft blutwenig Verständnis;
Lackel sind sie und Lümmel. Man gerät förmlich in Wut über sie, um so
mehr, wenn das alte, hübsch bemalte Haus vorher versprochen hat, es werde,
wie vor Jahren, eine freundliche und komfortable Einkehr bieten. Am meisten
erstaunte ich über den geringen Grad von Manierlichkeit der Inwohner. Der
Wirt und die Wirtin waren entweder protzig oder zudringlich familiär; die
Kellner und Kellnerinnen bedienten mit der größten Nachlässigkeit; sie wurden
erst höflich beim Abschiede, schimpften aber einem nach, wenn ihnen das Trink¬
geld zu gering vorkam.

Einmal fand ich den Eingang eines Wirtshauses, in das ich vormittags
mehrmals hineinging, immer durch die dickleibige Wirtin und durch die Kellnerin
versperrt; beide schwatzten gemütlich miteinander und guckten auf die Straße
hinaus. Bat ich um Durchlaß, so machten sie mir unwillig und erst nach
langem Zögern Platz, und dann ohne ein Wort der Entschuldigung. Das
geschah — wohlgemerkt! — in dem besten Hotel eines Marktfleckens in Sussex.

Das Essen hat sich zweifellos in neuerer Zeit sehr verschlechtert. Daß
mit einem solchen Fressen — ich weiß kein milderes Wort — die vornehmen
Gäste früherer Jahre, die in eleganten Kutschen durch das Land fuhren, vorlieb¬
genommen haben sollten, kann man sich nicht vorstellen. Fleisch und Gemüse
sind von weniger als mittelmäßiger Qualität. Es ist eine wahre Schande,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/166>, abgerufen am 29.06.2024.