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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

In frühem Zeiten machte ich gern spöttische Bemerkungen über die eng¬
lische Sonntagsfeier. Sie erschien mir als eine Mischung altmodischer Einfalt
und moderner Heuchelei, als eine langweilige Pause nach sechstägiger Mühe
und Arbeit. Jetzt preise ich den Sonntag als ein unschätzbares Gut und
verabscheue jede Störung seiner Ruhe und Stille. Will ich ehrlich sein, so
muß ich gestehn, daß ich mich auch schon in London freute, wenn der
Sonntag kam, trotz meiner Verhöhnung der "Sabbatmuckerei". Wenn ich mir
das Geläute der Kirchenglocken von London, die durchaus nicht schmeichelnd
in meinem Ohr erklangen, ins Gedächtnis zurückrufe, so erweckt es in mir
immer die Empfindung von Erholung und Befreiung von der Last der ver¬
gangnen Tage.

Diesen siebenten Tag der Woche widmete ich ganz dem bessern Teil
meines Ichs. Ich legte alle Schreibereien beiseite und vergaß alle Trübsal,
soweit es der Himmel gestattete. Außerhalb Englands vermißte ich immer die
sonntägliche Ruhe, diese Windstille zwischen stürmisch bewegten Tagen. Äußer¬
lichkeiten, wie das Gehen zur Kirche, das Schließen der Läden, das Vermeiden
der Arbeitsplätze, machen den Sonntag nicht aus. Unser "Ruhetag" erzeugt
vielmehr eine besonders gehobne, beinahe allgemein fromme Stimmung, der sich
auch die nicht zu entziehen vermögen, die lieber dem Kricketspiel auf dem Lande
zuschauen oder in die Theater der Stadt gehn möchten. Wahrlich! es ist die
beste Idee, die jemals den armen Sterblichen in den Sinn kam, einmal in
jeder Woche dem Alltagsgetriebe zu entfliehen und über die gewöhnlichen Ver¬
gnügungen und Sorgen hinweg ein höheres Dasein zu führen. Diese Idee
bleibt ein Segen trotz aller Verkehrtheiten, die sie im Gefolge hat. Dem
Volke im allgemeinen hat der Sonntag immer viel Gutes gebracht; den Vor¬
nehmen und Gebildeten -- mögen sie noch so arge Ketzer sein -- verschafft
er wenigstens ein erfrischendes Aufleben der Seele. Verkümmert die uralte
Sitte bei uns -- wehe unserm Lande! Und sie wird zweifellos verkümmern.
Nur hier in der ländlichen Einsamkeit vergißt man, daß der Sonntag bei der
Mehrzahl der Menschen seinen Heiligenschein verloren hat. Hat er ihn einmal
allenthalben verloren, so wird auch die Gewohnheit des gleichmäßig wieder¬
holten Ausruhens verschwinden. Und doch ist das Ausruhen, auch ohne Ver¬
bindung mit einem religiösen Gedanken, das höchste seelische Gut, das dem
Volke geboten werden kann. Friedliche Ruhe ist das am schwersten Erreichbare,
das an: schwersten zu Bewahrende und vor allem der größte Segen für ein edles
Gemüt. Einst zog sie ein über das ganze Land, sobald der letzte Hammer¬
schlag der Woche verklungen war. Mit dem Abend des Samstags begann
die Zeit der Stille und Erholung. Mit der Abnahme des alten Glaubens
fing der Sonntag an, seine Weihe zu verlieren; was wir auch schon von dem
unzählbaren Guten und Schönen der alten Zeit verloren haben und schmerzlich
vermissen, kein Verlust wie der der Sonntagsruhe wird wirksamer die all¬
gemeine Pöbelhaftigkeit beschleunigen. Denn, ist zu hoffen, daß die moralische


Grenzboten III 1909 AI
Englische Eigenart

In frühem Zeiten machte ich gern spöttische Bemerkungen über die eng¬
lische Sonntagsfeier. Sie erschien mir als eine Mischung altmodischer Einfalt
und moderner Heuchelei, als eine langweilige Pause nach sechstägiger Mühe
und Arbeit. Jetzt preise ich den Sonntag als ein unschätzbares Gut und
verabscheue jede Störung seiner Ruhe und Stille. Will ich ehrlich sein, so
muß ich gestehn, daß ich mich auch schon in London freute, wenn der
Sonntag kam, trotz meiner Verhöhnung der „Sabbatmuckerei". Wenn ich mir
das Geläute der Kirchenglocken von London, die durchaus nicht schmeichelnd
in meinem Ohr erklangen, ins Gedächtnis zurückrufe, so erweckt es in mir
immer die Empfindung von Erholung und Befreiung von der Last der ver¬
gangnen Tage.

Diesen siebenten Tag der Woche widmete ich ganz dem bessern Teil
meines Ichs. Ich legte alle Schreibereien beiseite und vergaß alle Trübsal,
soweit es der Himmel gestattete. Außerhalb Englands vermißte ich immer die
sonntägliche Ruhe, diese Windstille zwischen stürmisch bewegten Tagen. Äußer¬
lichkeiten, wie das Gehen zur Kirche, das Schließen der Läden, das Vermeiden
der Arbeitsplätze, machen den Sonntag nicht aus. Unser „Ruhetag" erzeugt
vielmehr eine besonders gehobne, beinahe allgemein fromme Stimmung, der sich
auch die nicht zu entziehen vermögen, die lieber dem Kricketspiel auf dem Lande
zuschauen oder in die Theater der Stadt gehn möchten. Wahrlich! es ist die
beste Idee, die jemals den armen Sterblichen in den Sinn kam, einmal in
jeder Woche dem Alltagsgetriebe zu entfliehen und über die gewöhnlichen Ver¬
gnügungen und Sorgen hinweg ein höheres Dasein zu führen. Diese Idee
bleibt ein Segen trotz aller Verkehrtheiten, die sie im Gefolge hat. Dem
Volke im allgemeinen hat der Sonntag immer viel Gutes gebracht; den Vor¬
nehmen und Gebildeten — mögen sie noch so arge Ketzer sein — verschafft
er wenigstens ein erfrischendes Aufleben der Seele. Verkümmert die uralte
Sitte bei uns — wehe unserm Lande! Und sie wird zweifellos verkümmern.
Nur hier in der ländlichen Einsamkeit vergißt man, daß der Sonntag bei der
Mehrzahl der Menschen seinen Heiligenschein verloren hat. Hat er ihn einmal
allenthalben verloren, so wird auch die Gewohnheit des gleichmäßig wieder¬
holten Ausruhens verschwinden. Und doch ist das Ausruhen, auch ohne Ver¬
bindung mit einem religiösen Gedanken, das höchste seelische Gut, das dem
Volke geboten werden kann. Friedliche Ruhe ist das am schwersten Erreichbare,
das an: schwersten zu Bewahrende und vor allem der größte Segen für ein edles
Gemüt. Einst zog sie ein über das ganze Land, sobald der letzte Hammer¬
schlag der Woche verklungen war. Mit dem Abend des Samstags begann
die Zeit der Stille und Erholung. Mit der Abnahme des alten Glaubens
fing der Sonntag an, seine Weihe zu verlieren; was wir auch schon von dem
unzählbaren Guten und Schönen der alten Zeit verloren haben und schmerzlich
vermissen, kein Verlust wie der der Sonntagsruhe wird wirksamer die all¬
gemeine Pöbelhaftigkeit beschleunigen. Denn, ist zu hoffen, daß die moralische


Grenzboten III 1909 AI
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[0165] Englische Eigenart In frühem Zeiten machte ich gern spöttische Bemerkungen über die eng¬ lische Sonntagsfeier. Sie erschien mir als eine Mischung altmodischer Einfalt und moderner Heuchelei, als eine langweilige Pause nach sechstägiger Mühe und Arbeit. Jetzt preise ich den Sonntag als ein unschätzbares Gut und verabscheue jede Störung seiner Ruhe und Stille. Will ich ehrlich sein, so muß ich gestehn, daß ich mich auch schon in London freute, wenn der Sonntag kam, trotz meiner Verhöhnung der „Sabbatmuckerei". Wenn ich mir das Geläute der Kirchenglocken von London, die durchaus nicht schmeichelnd in meinem Ohr erklangen, ins Gedächtnis zurückrufe, so erweckt es in mir immer die Empfindung von Erholung und Befreiung von der Last der ver¬ gangnen Tage. Diesen siebenten Tag der Woche widmete ich ganz dem bessern Teil meines Ichs. Ich legte alle Schreibereien beiseite und vergaß alle Trübsal, soweit es der Himmel gestattete. Außerhalb Englands vermißte ich immer die sonntägliche Ruhe, diese Windstille zwischen stürmisch bewegten Tagen. Äußer¬ lichkeiten, wie das Gehen zur Kirche, das Schließen der Läden, das Vermeiden der Arbeitsplätze, machen den Sonntag nicht aus. Unser „Ruhetag" erzeugt vielmehr eine besonders gehobne, beinahe allgemein fromme Stimmung, der sich auch die nicht zu entziehen vermögen, die lieber dem Kricketspiel auf dem Lande zuschauen oder in die Theater der Stadt gehn möchten. Wahrlich! es ist die beste Idee, die jemals den armen Sterblichen in den Sinn kam, einmal in jeder Woche dem Alltagsgetriebe zu entfliehen und über die gewöhnlichen Ver¬ gnügungen und Sorgen hinweg ein höheres Dasein zu führen. Diese Idee bleibt ein Segen trotz aller Verkehrtheiten, die sie im Gefolge hat. Dem Volke im allgemeinen hat der Sonntag immer viel Gutes gebracht; den Vor¬ nehmen und Gebildeten — mögen sie noch so arge Ketzer sein — verschafft er wenigstens ein erfrischendes Aufleben der Seele. Verkümmert die uralte Sitte bei uns — wehe unserm Lande! Und sie wird zweifellos verkümmern. Nur hier in der ländlichen Einsamkeit vergißt man, daß der Sonntag bei der Mehrzahl der Menschen seinen Heiligenschein verloren hat. Hat er ihn einmal allenthalben verloren, so wird auch die Gewohnheit des gleichmäßig wieder¬ holten Ausruhens verschwinden. Und doch ist das Ausruhen, auch ohne Ver¬ bindung mit einem religiösen Gedanken, das höchste seelische Gut, das dem Volke geboten werden kann. Friedliche Ruhe ist das am schwersten Erreichbare, das an: schwersten zu Bewahrende und vor allem der größte Segen für ein edles Gemüt. Einst zog sie ein über das ganze Land, sobald der letzte Hammer¬ schlag der Woche verklungen war. Mit dem Abend des Samstags begann die Zeit der Stille und Erholung. Mit der Abnahme des alten Glaubens fing der Sonntag an, seine Weihe zu verlieren; was wir auch schon von dem unzählbaren Guten und Schönen der alten Zeit verloren haben und schmerzlich vermissen, kein Verlust wie der der Sonntagsruhe wird wirksamer die all¬ gemeine Pöbelhaftigkeit beschleunigen. Denn, ist zu hoffen, daß die moralische Grenzboten III 1909 AI

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/165>, abgerufen am 01.07.2024.