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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

marschieren. Scheint er dagegen ein Mann von Gemüt und Verstand zu sein,
so würde ich mich mit Vergnügen anbieten, ihn in die alten Landbezirke
zu begleiten, die, fernab von jeder Eisenbahn, unberührt von der ordinär
modernen Zeitströmung geblieben sind. Dort würde ich ihm zeigen, was nur
in England zu sehen ist: einfache, schöne Bauwerke, ihre geschickte Anpassung
an die Umgebung, Nettigkeit ohne altmodische Steifheit, alles im besten und
saubersten Zustand, anmutige Villengärten und überall friedliche Stille in be¬
glückender Weltabgeschiedenheit. Das muß man sehen, will man einen Begriff
von dem Reichtum und der Macht Englands bekommen! Ein Volk, das sich
solche Heimstätten erbaut und einrichtet, muß sich von jeher durch Ordnungs¬
liebe ausgezeichnet haben. Es hat auch wirklich, wie kein andres Volk, die
Wahrheit des Spruches erkannt: "Ordnung ist des Himmels erstes Gesetz."
An Ordnung reiht sich natürlich die Beständigkeit an. Beide, im häuslichen
Leben wirkend, bringen ein spezifisch englisches, von andern Ländern nur
schattenhaft nachgebildetes Produkt hervor: den Komfort. Es ist eine der
besten Eigenschaften des Engländers, daß ihm Komfort ein unentbehrliches
Lebensbedürfnis ist. Daß er sich in dieser Hinsicht verändern und allmählich
seine Vorliebe für materielles und geistiges Wohlbehagen verringern könnte,
ist die größte Gefahr unsrer Zeit. Denn Komfort bezieht sich -- wohl ge¬
merkt! -- keineswegs auf das Leibliche allein; Schönheit und Ordnung schafft
hauptsächlich der von jeher in einem englischen Heim waltende Geist.

Man wandre von einem Dorfe zu einem adligen Herrensitz. Auch er ist
vollkommen in seiner Art: er ist altehrwürdig von Aussehen, umschlossen von
festen Mauern und umgeben von einem so lieblichen Garten und Park, wie
man es sonst nirgends in der Welt trifft. Ein auch dem einfachsten Landhaus
eigenartiger Geist durchweht das Ganze, nur ist er rühriger und selbstbewußter.
Wird aber der Lord seines Schlosses überdrüssig und vermietet es an irgend¬
einen protzigen Millionär, um nach Hotels oder billigen Villen überzusiedeln,
oder findet der Besitzer eines Landhauses das Leben unter den Bauern un¬
erträglich und quartiert sich lieber in der sechsten Etage einer Mietkaserne in
Shoreditch ein, so ist das ein Zeichen, daß beide allen Sinn für englischen
Komfort verloren haben: beide haben sich selbst als Menschen und als Bürger
degradiert. Es handelt sich dabei nicht etwa um die harmlose Vertauschung
einer Art von Komfort mit einer andern; es bedeutet vielmehr den Untergang
einer Denkweise, die vornehmlich den Engländer zum Engländer gemacht hat.
Vielleicht ist sie bei uns allen im Verschwinden begriffen, entkräftet durch die
modernen sozialen und politischen Verhältnisse. Das muß jeder befürchten,
der einen Blick auf die Dörfer des neusten Stils und auf die Arbeiterviertel
in den Städten wirft und der sieht, wie ordinäre Etagenwohnungen zwischen
vornehme Paläste gebaut werden. Wahrlich! der Tag wird bald kommen,
wo das, was das Wort "Komfort" bezeichnet, unauffindbar sein wird, wenn
anch das Wort selbst fortgesetzt in vielen Sprachen existieren wird.


Englische Eigenart

marschieren. Scheint er dagegen ein Mann von Gemüt und Verstand zu sein,
so würde ich mich mit Vergnügen anbieten, ihn in die alten Landbezirke
zu begleiten, die, fernab von jeder Eisenbahn, unberührt von der ordinär
modernen Zeitströmung geblieben sind. Dort würde ich ihm zeigen, was nur
in England zu sehen ist: einfache, schöne Bauwerke, ihre geschickte Anpassung
an die Umgebung, Nettigkeit ohne altmodische Steifheit, alles im besten und
saubersten Zustand, anmutige Villengärten und überall friedliche Stille in be¬
glückender Weltabgeschiedenheit. Das muß man sehen, will man einen Begriff
von dem Reichtum und der Macht Englands bekommen! Ein Volk, das sich
solche Heimstätten erbaut und einrichtet, muß sich von jeher durch Ordnungs¬
liebe ausgezeichnet haben. Es hat auch wirklich, wie kein andres Volk, die
Wahrheit des Spruches erkannt: „Ordnung ist des Himmels erstes Gesetz."
An Ordnung reiht sich natürlich die Beständigkeit an. Beide, im häuslichen
Leben wirkend, bringen ein spezifisch englisches, von andern Ländern nur
schattenhaft nachgebildetes Produkt hervor: den Komfort. Es ist eine der
besten Eigenschaften des Engländers, daß ihm Komfort ein unentbehrliches
Lebensbedürfnis ist. Daß er sich in dieser Hinsicht verändern und allmählich
seine Vorliebe für materielles und geistiges Wohlbehagen verringern könnte,
ist die größte Gefahr unsrer Zeit. Denn Komfort bezieht sich — wohl ge¬
merkt! — keineswegs auf das Leibliche allein; Schönheit und Ordnung schafft
hauptsächlich der von jeher in einem englischen Heim waltende Geist.

Man wandre von einem Dorfe zu einem adligen Herrensitz. Auch er ist
vollkommen in seiner Art: er ist altehrwürdig von Aussehen, umschlossen von
festen Mauern und umgeben von einem so lieblichen Garten und Park, wie
man es sonst nirgends in der Welt trifft. Ein auch dem einfachsten Landhaus
eigenartiger Geist durchweht das Ganze, nur ist er rühriger und selbstbewußter.
Wird aber der Lord seines Schlosses überdrüssig und vermietet es an irgend¬
einen protzigen Millionär, um nach Hotels oder billigen Villen überzusiedeln,
oder findet der Besitzer eines Landhauses das Leben unter den Bauern un¬
erträglich und quartiert sich lieber in der sechsten Etage einer Mietkaserne in
Shoreditch ein, so ist das ein Zeichen, daß beide allen Sinn für englischen
Komfort verloren haben: beide haben sich selbst als Menschen und als Bürger
degradiert. Es handelt sich dabei nicht etwa um die harmlose Vertauschung
einer Art von Komfort mit einer andern; es bedeutet vielmehr den Untergang
einer Denkweise, die vornehmlich den Engländer zum Engländer gemacht hat.
Vielleicht ist sie bei uns allen im Verschwinden begriffen, entkräftet durch die
modernen sozialen und politischen Verhältnisse. Das muß jeder befürchten,
der einen Blick auf die Dörfer des neusten Stils und auf die Arbeiterviertel
in den Städten wirft und der sieht, wie ordinäre Etagenwohnungen zwischen
vornehme Paläste gebaut werden. Wahrlich! der Tag wird bald kommen,
wo das, was das Wort „Komfort" bezeichnet, unauffindbar sein wird, wenn
anch das Wort selbst fortgesetzt in vielen Sprachen existieren wird.


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[0164] Englische Eigenart marschieren. Scheint er dagegen ein Mann von Gemüt und Verstand zu sein, so würde ich mich mit Vergnügen anbieten, ihn in die alten Landbezirke zu begleiten, die, fernab von jeder Eisenbahn, unberührt von der ordinär modernen Zeitströmung geblieben sind. Dort würde ich ihm zeigen, was nur in England zu sehen ist: einfache, schöne Bauwerke, ihre geschickte Anpassung an die Umgebung, Nettigkeit ohne altmodische Steifheit, alles im besten und saubersten Zustand, anmutige Villengärten und überall friedliche Stille in be¬ glückender Weltabgeschiedenheit. Das muß man sehen, will man einen Begriff von dem Reichtum und der Macht Englands bekommen! Ein Volk, das sich solche Heimstätten erbaut und einrichtet, muß sich von jeher durch Ordnungs¬ liebe ausgezeichnet haben. Es hat auch wirklich, wie kein andres Volk, die Wahrheit des Spruches erkannt: „Ordnung ist des Himmels erstes Gesetz." An Ordnung reiht sich natürlich die Beständigkeit an. Beide, im häuslichen Leben wirkend, bringen ein spezifisch englisches, von andern Ländern nur schattenhaft nachgebildetes Produkt hervor: den Komfort. Es ist eine der besten Eigenschaften des Engländers, daß ihm Komfort ein unentbehrliches Lebensbedürfnis ist. Daß er sich in dieser Hinsicht verändern und allmählich seine Vorliebe für materielles und geistiges Wohlbehagen verringern könnte, ist die größte Gefahr unsrer Zeit. Denn Komfort bezieht sich — wohl ge¬ merkt! — keineswegs auf das Leibliche allein; Schönheit und Ordnung schafft hauptsächlich der von jeher in einem englischen Heim waltende Geist. Man wandre von einem Dorfe zu einem adligen Herrensitz. Auch er ist vollkommen in seiner Art: er ist altehrwürdig von Aussehen, umschlossen von festen Mauern und umgeben von einem so lieblichen Garten und Park, wie man es sonst nirgends in der Welt trifft. Ein auch dem einfachsten Landhaus eigenartiger Geist durchweht das Ganze, nur ist er rühriger und selbstbewußter. Wird aber der Lord seines Schlosses überdrüssig und vermietet es an irgend¬ einen protzigen Millionär, um nach Hotels oder billigen Villen überzusiedeln, oder findet der Besitzer eines Landhauses das Leben unter den Bauern un¬ erträglich und quartiert sich lieber in der sechsten Etage einer Mietkaserne in Shoreditch ein, so ist das ein Zeichen, daß beide allen Sinn für englischen Komfort verloren haben: beide haben sich selbst als Menschen und als Bürger degradiert. Es handelt sich dabei nicht etwa um die harmlose Vertauschung einer Art von Komfort mit einer andern; es bedeutet vielmehr den Untergang einer Denkweise, die vornehmlich den Engländer zum Engländer gemacht hat. Vielleicht ist sie bei uns allen im Verschwinden begriffen, entkräftet durch die modernen sozialen und politischen Verhältnisse. Das muß jeder befürchten, der einen Blick auf die Dörfer des neusten Stils und auf die Arbeiterviertel in den Städten wirft und der sieht, wie ordinäre Etagenwohnungen zwischen vornehme Paläste gebaut werden. Wahrlich! der Tag wird bald kommen, wo das, was das Wort „Komfort" bezeichnet, unauffindbar sein wird, wenn anch das Wort selbst fortgesetzt in vielen Sprachen existieren wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/164>, abgerufen am 22.12.2024.