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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

das aber ebenso wenig berechtigt war wie heute die Phrase vom Umfallen. In
jedem einer Entscheidung bedürfenden Falle hat der Bundesrat, wie alle ver¬
nünftigen Leute, zum Wohle des Reichs das kleinste Übel zu wählen.

Bundesrat und Reichstag stehn sich als Körperschaften gegenüber oder neben¬
einander, je nachdem man das auslegen will. Der Staatssekretär des Innern hat
das Korporationsgefühl des Bundesrath in seiner Erklärung am Sonnabend ganz
besonders unterstreichen zu müssen für nötig gehalten und betonte ausdrücklich den
einstimmigen Beschluß. Diese Betonung ist nicht üblich und mich nicht vorge¬
schrieben, sie erfolgte aber unstreitig in bestimmter Absicht und erfüllt den Zweck,
keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß sämtliche preußische Vuudesrats-
stimmen -- wie sich eigentlich von selbst versteht -- dafür abgegeben worden sind.
Damit sind auch allerlei Redereien in den Blättern erledigt, und Fürst Bülow hat
damit den Auftrag des Kaisers, die Finanzreform noch zu Ende zu bringen, voll¬
zogen. Was sonst noch darüber gesagt, vermutet und erfunden wurde, entbehrt
der Grundlage. Die im Namen des Bundesrath abgegebne Erklärung läßt ferner
niemand im ungewissen darüber, daß die Reichsregierung ihren Entschluß als das
kleinere Übel ansieht gegenüber der Unsicherheit, die in bezug ans eine künftige,
veränderte Zusammensetzung des Reichstags besteht. Sie gibt sich also nicht den
Illusionen hin, die aus gewissen Kreisen über Auflösung und Wahlresultat ge¬
meldet werden. Sie will der Unsicherheit, die seit Jahren auf den Finanzen und
den Gewerben beruht, ein Ende machen, nicht durch einen Aufschub in die Zukunft,
sondern durch eine Tat der Gegenwart.

Die wiederholt betonte korporative Einmütigkeit des Bundesrath lenkt die
Aufmerksamkeit auf den Umstand, daß bei unsern parlamentarischen Parteien das
Gefühl dafür wenig entwickelt ist, daß auch der Reichstag in seiner Gesamtheit,
als Korporation, vor dem deutschen Volke doch eine gewisse Reputation zu wahren
hat. Es heißt doch immer, der "Reichstag" hat dies oder jenes getan oder nicht
getan; daß in allen Fällen eine meist starke Opposition dagegen war, kommt dabei
nicht in Betracht, der Gesamteindruck bleibt in gutem oder bösem Sinne auf dem
Reichstag haften, und die ungünstigen Eindrücke pflegen von längerer Dauer zu
sein. Der verhängnisvolle Beschluß vom Jahre 1895, dem Fürsten Bismarck zum
achtzigsten Geburtstage eine Ehrung zu verweigern, hat dem Ansehen des Reichs¬
tags den bedenklichsten Abbruch getan, und die Nachwirkung davon ließ sich noch
bei den Wahlen von 1907 nachweisen. Auch die unbestreitbare Tatsache, daß sich
nach jeder Auflösung das deutsche Volk jedesmal für die Reichsregierung und gegen
den Reichstag -- wenn auch eigentlich gegen die bisherige Mehrheit -- entschieden
hat, ist nicht geeignet, das Ansehen des Reichstags als Gesamtinstitution, als Kor¬
poration, zu erhöhen. Das Gefühl des Volkes, daß es neben den regelmäßigen
Wahlen noch außerdem zu gelegentlicher Aufbesserung berufen werden muß. ist der
Steigerung der Achtung nicht förderlich. Der Ausdruck des Staatssekretärs, daß
eine "Tat der Gegenwart" vorliegt, wird in weiten Kreisen, auch wenn sie gleich
dem Bundesrat nicht alle Einzelheiten anzuerkennen vermögen, als zutreffend an¬
gesehen werden. Es handelt sich um eine Tat, die einem unwürdigen Zustande
im Reiche ein Ende macht, darum werden sich auch die Versuche, sich als Nicht-
"'itwtrkeude an dem nicht vollständig geglückten Werke zu empfehlen, bei den
Wählern, die in der letzten Reichstagswahl die Entscheidung brachten, kaum die
gewünschte Wirkung erreichen, diese dürfte sich wohl auf den engern, ohnehin sichern
Pcirteikcmkus beschränken. Aber zu empfehlen ist, daß die parlamentarischen Parteien
bei ihrer Stellungnahme in jedem Falle auch die Wirkung auf die Gesamtreputation
des Reichstags im Auge behalten. Das deutsche Volk will von seinem Reichstage


Maßgebliches und Unmaßgebliches

das aber ebenso wenig berechtigt war wie heute die Phrase vom Umfallen. In
jedem einer Entscheidung bedürfenden Falle hat der Bundesrat, wie alle ver¬
nünftigen Leute, zum Wohle des Reichs das kleinste Übel zu wählen.

Bundesrat und Reichstag stehn sich als Körperschaften gegenüber oder neben¬
einander, je nachdem man das auslegen will. Der Staatssekretär des Innern hat
das Korporationsgefühl des Bundesrath in seiner Erklärung am Sonnabend ganz
besonders unterstreichen zu müssen für nötig gehalten und betonte ausdrücklich den
einstimmigen Beschluß. Diese Betonung ist nicht üblich und mich nicht vorge¬
schrieben, sie erfolgte aber unstreitig in bestimmter Absicht und erfüllt den Zweck,
keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß sämtliche preußische Vuudesrats-
stimmen — wie sich eigentlich von selbst versteht — dafür abgegeben worden sind.
Damit sind auch allerlei Redereien in den Blättern erledigt, und Fürst Bülow hat
damit den Auftrag des Kaisers, die Finanzreform noch zu Ende zu bringen, voll¬
zogen. Was sonst noch darüber gesagt, vermutet und erfunden wurde, entbehrt
der Grundlage. Die im Namen des Bundesrath abgegebne Erklärung läßt ferner
niemand im ungewissen darüber, daß die Reichsregierung ihren Entschluß als das
kleinere Übel ansieht gegenüber der Unsicherheit, die in bezug ans eine künftige,
veränderte Zusammensetzung des Reichstags besteht. Sie gibt sich also nicht den
Illusionen hin, die aus gewissen Kreisen über Auflösung und Wahlresultat ge¬
meldet werden. Sie will der Unsicherheit, die seit Jahren auf den Finanzen und
den Gewerben beruht, ein Ende machen, nicht durch einen Aufschub in die Zukunft,
sondern durch eine Tat der Gegenwart.

Die wiederholt betonte korporative Einmütigkeit des Bundesrath lenkt die
Aufmerksamkeit auf den Umstand, daß bei unsern parlamentarischen Parteien das
Gefühl dafür wenig entwickelt ist, daß auch der Reichstag in seiner Gesamtheit,
als Korporation, vor dem deutschen Volke doch eine gewisse Reputation zu wahren
hat. Es heißt doch immer, der „Reichstag" hat dies oder jenes getan oder nicht
getan; daß in allen Fällen eine meist starke Opposition dagegen war, kommt dabei
nicht in Betracht, der Gesamteindruck bleibt in gutem oder bösem Sinne auf dem
Reichstag haften, und die ungünstigen Eindrücke pflegen von längerer Dauer zu
sein. Der verhängnisvolle Beschluß vom Jahre 1895, dem Fürsten Bismarck zum
achtzigsten Geburtstage eine Ehrung zu verweigern, hat dem Ansehen des Reichs¬
tags den bedenklichsten Abbruch getan, und die Nachwirkung davon ließ sich noch
bei den Wahlen von 1907 nachweisen. Auch die unbestreitbare Tatsache, daß sich
nach jeder Auflösung das deutsche Volk jedesmal für die Reichsregierung und gegen
den Reichstag — wenn auch eigentlich gegen die bisherige Mehrheit — entschieden
hat, ist nicht geeignet, das Ansehen des Reichstags als Gesamtinstitution, als Kor¬
poration, zu erhöhen. Das Gefühl des Volkes, daß es neben den regelmäßigen
Wahlen noch außerdem zu gelegentlicher Aufbesserung berufen werden muß. ist der
Steigerung der Achtung nicht förderlich. Der Ausdruck des Staatssekretärs, daß
eine „Tat der Gegenwart" vorliegt, wird in weiten Kreisen, auch wenn sie gleich
dem Bundesrat nicht alle Einzelheiten anzuerkennen vermögen, als zutreffend an¬
gesehen werden. Es handelt sich um eine Tat, die einem unwürdigen Zustande
im Reiche ein Ende macht, darum werden sich auch die Versuche, sich als Nicht-
»'itwtrkeude an dem nicht vollständig geglückten Werke zu empfehlen, bei den
Wählern, die in der letzten Reichstagswahl die Entscheidung brachten, kaum die
gewünschte Wirkung erreichen, diese dürfte sich wohl auf den engern, ohnehin sichern
Pcirteikcmkus beschränken. Aber zu empfehlen ist, daß die parlamentarischen Parteien
bei ihrer Stellungnahme in jedem Falle auch die Wirkung auf die Gesamtreputation
des Reichstags im Auge behalten. Das deutsche Volk will von seinem Reichstage


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/153>, abgerufen am 22.12.2024.